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Auf dem Tisch in einem Hinterzimmer des Pariser Flughafens liegt ein Koffer. Daneben steht Marco Deutschmann, der mit eben diesem Koffer gerade aus Brasilien kam."Öffnen", sagt der Zollbeamte. Ob Deutschmann in diesem Moment schon ans Auffliegen seines Drogenschmuggels gedacht hat? „Ich habe mir keine Sorgen gemacht“, erinnert sich der heute in Konstanz lebende Deutschmann. Der Zoll, die Polizei, die Richter – alle seien geschmiert worden, versprach ihm sein Auftraggeber. Es könne nichts passieren, denn seit 16 Jahren würde schließlich alles gut laufen. Doch als der Zollbeamte im Koffer sofort an der richtigen Stelle – dem Schuhfach – wühlt, wird auch Deutschmann unruhig. „Mir wurde heiß und kalt gleichzeitig“, sagt der heute 34-Jährige.
Er habe gedacht, er würde träumen und jeden Moment aufwachen. Doch das tat er nicht. Es war das vierte Mal, dass Marco Deutschmann Kokain schmuggelte, als er am 11. Dezember 2006 erwischt wurde. Vorher habe er sich immer von Drogen ferngehalten. Bis ihm bei der Weltmeisterschaft im Sommer 2006 in Stuttgart jemand ein Angebot machte. Für den damaligen Kellner Deutschmann klang es verlockend: Er sollte als Reiseleiter arbeiten und so die Welt sehen. Das habe er immer gewollt, so Deutschmann. Doch eigentlich ging es dabei um ein Drogengeschäft, wie er später erfuhr. Er flog mit einem Koffer ins Ausland und blieb dort für zwei Wochen. Auf dem Rückweg waren dann die Drogen mit dabei.
Weil Deutschmann auf französischem Boden erwischt wurde, lag die Strafe auch in französischen Händen. Ein Gericht verurteilte ihn zu vier Jahren Haft. Damit begann für ihn mit Anfang 20 ein anderes Leben – eins hinter Gittern. Die ersten sechs Monate verbrachte er in Untersuchungshaft in Paris. Er bekam schon früh beruhigende Medikamente verschrieben. „Ich war dann schnell in einer Art Trott“, sagt Deutschmann.
Nach seiner Verurteilung wurde er verlegt. Zu dieser Zeit habe er bereits angefangen, auf die Medikamente zu verzichten und neuen Lebensmut gefasst: „Ich habe für mich beschlossen, Sport zu machen, gut drauf zu sein und mein Leben zu leben“, sagt Marco Deutschmann.
Zu Beginn seiner Haftzeit sprach Deutschmann kein Wort Französisch. Doch um die Zeit bis zu seiner Freilassung zu überstehen, begann er, sich eine Beschäftigung zu suchen. Er lernte Französisch und ging in der Haftanstalt zur Schule. Unter anderem absolvierte er eine Ausbildung zum Buchhalter.
Außerdem suchte er aktiv den Kontakt zu anderen Leuten: „Ich habe mich viel mit Menschen beschäftigt“, sagt Deutschmann. Eine seiner zentralen Beobachtungen: „Jeder kann sich verändern. Wenn du es willst, dann beginn bei dir.“
Was Deutschmann aus seiner Zeit im Gefängnis erzählt, klingt wie aus einem Film.
„Es gibt nur zwei Möglichkeiten: fressen oder gefressen werden“, sagt er. Deswegen
habe er auch andere Gefangene verprügelt, so Deutschmann. Vor allem die
Konfrontation mit den wirklich „bösen Buben“, wie Deutschmann sie nennt, war neu
für ihn. „Da stand dann einer vor mir, von dem ich wusste, dass es ihm egal ist, ob er
nochmal fünf Jahre mehr bekommt“, erzählt er. Doch nicht seine Gewaltbereitschaft,
sondern vor allem seine Fairness soll ihm geholfen haben, so Deutschmann. „Die
wussten dann schnell: Der Deutschmann kann zuschlagen und auch helfen“, sagt er.
Nach etwas über einem Jahr erreichte Deutschmann ein europäischer Haftbefehl. Es folgten eine Auslieferung und eine zweite Verurteilung bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart. Der Grund: Im französischen Urteil war nur von einer Tat die Rede. Ein Fehler, so Deutschmann, die französische Justiz hätte von allen Taten gewusst. Doch abgesehen vom Urteil waren keine Dokumente mehr zu finden, so der aus Stuttgart stammende Deutschmann.
Mit einer Klage vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte scheiterte er. Der Staatsanwalt forderte eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren. Weil ihm die zwei Jahre und vier Monate Haftzeit aus Frankreich angerechnet wurden, hatte Deutschmann nach der Verurteilung noch mehr als vier Jahre vor sich. „Zurück in der Zelle bin ich zusammengebrochen“, erinnert sich Deutschmann an den Moment nach seiner zweiten Verurteilung. „Da wollte ich mir aktiv das Leben nehmen.“ Denn zu diesem Zeitpunkt stand ihm noch eine längere Haftzeit bevor, als er bereits abgesessen hatte.
Doch nach dem Zusammenbruch fand er seine Motivation wieder. Er kam von der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim nach Freiburg und holte dort sein Abitur nach. Eine Entscheidung, die ihm dann auch ein Studium ermöglichte: Die letzten neun Monate seiner Gefangenschaft lebte er im Freigängerhaus. Tagsüber ging er zur Universität wie die anderen Informatik-Studenten und abends kam er wieder zurück. „Ich habe mich oft gefragt, ob mein Gegenüber weiß, dass ich im Gefängnis saß“, sagt Deutschmann.
Sein Studium führte er zunächst auch nach seiner Entlassung noch fort, dann entschied er sich, es vorzeitig zu beenden. „Meine Leidenschaft sind Menschen, da hilft es mir nicht weiter“, erklärt Deutschmann. „Ich will keine Programme schreiben oder IT-Netze aufbauen.“ 2013 hatte Deutschmann dann seine Strafe abgesessen. Nach sieben Jahren in Haft war er damit ein freier Mann. „Im Gefängnis sagt jeder, man soll seinen Aufenthalt dort danach lieber verschweigen“, sagt Deutschmann. Doch das wollte er nicht: „Ich habe Scheiße gebaut und ich will dazu stehen.“
Doch wie ist es, plötzlich wieder ein Leben außerhalb der Gefängnismauern zu führen? Zu Beginn kamen auf ihn viele neue Herausforderungen zu: „Ich wusste nicht mal, wie ich eine Busfahrkarte löse“, sagt Deutschmann. Größtenteils war er dabei auf sich gestellt, denn seine Freunde verlor er während seiner Zeit in Haft nach und nach. Zu seiner Familie brach er zwischenzeitlich selbst den Kontakt ab. Mittlerweile sei die Beziehung aber wieder gut.
Zwei Jahre nach seiner Entlassung kam er für einen Job im Vertrieb nach Konstanz. Vor wenigen Monaten gab er diesen dann auf, um Motivationstrainer und Coach zu werden. „Es war eine bewusste Entscheidung, nicht einfach damit abzuschließen, sondern anderen mit meiner Geschichte zu helfen“, sagt Deutschmann. Vor seiner Zeit im Gefängnis hatte er nur einen Hauptschulabschluss und hielt sich mit Jobs in der Gastronomie über Wasser. Heute gibt er unter anderem in den Bereichen Konfliktlösung und Motivation Seminare.
Zum Ende des Jahres will er sogar ein
eigenes Buch veröffentlichen – über die Geschichte, die ihn verändert hat. „Für mich
und mein Leben war es sinnvoll“, sagt Deutschmann heute über seine Erfahrung: „Die
Klatsche des Lebens hat mich aufgeweckt.“