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Eins zu 20 Millionen. Man muss kein Mathegenie sein, um zu sehen: Diese Wahrscheinlichkeit ist verschwindend gering. Für Helga Granzow-Emden sollte diese Zahl über ihr Leben entscheiden. Die 55-Jährige erkrankte vor drei Jahren an Blutkrebs - als Spätfolge ihrer Brustkrebs-Therapie. Die Chance, weltweit einen Stammzellspender für sie zu finden, der zu 100 Prozent passt, lag bei eins zu 20 Millionen. Trotzdem gab sie nicht auf: „Ich habe einfach gehofft, dass irgendwann mal jemand passt - wenn auch nicht zu 100 Prozent", sagt sie und lächelt.
Blutkrebs ist eine Erkrankung des Knochenmarks und damit des blutbildenden Systems. Die übliche Blutbildung der Betroffenen ist durch die Vermehrung von bösartigen Blutzellen gestört. Aufgrund der Krebszellen kann das Blut seine lebensnotwendigen Aufgaben nicht mehr ausführen - keine Infektionen mehr bekämpfen, Sauerstoff transportieren oder Blutungen stoppen.
Ohne medizinische Behandlung führt Blutkrebs zum Tod. Chemotherapie ist die häufigste Form der Therapie, doch nicht immer kann Leukämie dadurch geheilt werden. Eine Stammzelltransplantation ist für viele Patienten die einzige Chance auf Leben. In ganz Deutschland sind nach Angaben der Deutschen Knochenmarkspende (DKMS) derzeit rund sechs Millionen Menschen als potenzielle Stammzellspender registriert. Zum Ende 2018 gab es in Baden-Württemberg 893 174 registrierte Spender.
Es sind Zahlen, die über das Leben von Menschen entscheiden können. Jährlich erkranken fast 40 000 Menschen in Deutschland an Blutkrebs. Über 3000 Patienten jährlich benötigen eine unverwandte Stammzellspende, neun von zehn suchenden Patienten finden einen Spender.
Lebensretterin kommt aus Polen
Granzow-Emden aus der Nähe von Nürtingen hat ihre Leukämie-Erkrankung besiegt. Sie hat eine Stammzellspenderin gefunden. Ihre Übereinstimmung mit den Gewebemerkmalen von Helga Granzow-Emden lag bei 80 Prozent. Eine Garantie, dass die Spende vom Körper angenommen wird, gibt es erst ab einer Übereinstimmung von 90 Prozent. Die 25-jährige Lebensretterin kommt aus Polen, sie hat in Warschau gespendet. Sie arbeitet als Physiotherapeutin.
Mehr weiß Granzow-Emden nicht über die Frau, der sie womöglich ihr Leben zu verdanken hat. Aus Schutz für Spender und Patient ist ein Treffen nur nach gelungener Transplantation möglich. Selbst dann muss ein Kennenlernen beider Seiten zwei Jahre auf sich warten lassen. Vorher wird Granzow-Emden weder den Namen und die Adresse erfahren, noch darf sie ein Foto der jungen Frau sehen. Sie schreiben sich Briefe auf englisch, „Dear Donor" (deutsch: Lieber Spender) schreibt Granzow-Emden als Anrede in ihren Briefen an die Polin.
Über ein Jahr nach Start der Spender-Suche bekam Granzow-Emden den erlösenden Anruf. Daran erinnert sich die Direktorin einer Grundschule noch genau. Es war Ende Juli, seit April war sie wieder am Arbeiten. „Ich war gerade dabei, die Stundenpläne zu machen", als ihr Tübinger Arzt anrief. „Die Chance kann ich mir nicht entgehen lassen", habe sie gedacht. Mitte September kam sie ins Krankenhaus. Es folgten verschiedene Vorbereitungen auf den großen Tag: Dialyse, Tausch des Blutplasmas, hoch dosierte Chemo-Therapien, Bestrahlung.
Zwei Monate nach dem Anruf, Ende September 2018, bekam Granzow-Emden ihre Stammzellspende. „Es hat nur 20 Minuten gedauert." Die Kontrolle im Anschluss war streng, denn noch war nicht klar, wie ihre Zellen auf die Spende reagieren würden. Das Immunsystem des Patienten wird vor der Transplantation mithilfe einer Chemotherapie heruntergefahren, um die Stammzellen einsetzen zu können.
Danach muss sich das Immunsystem neu bilden. Die Behandlung ist langwierig und mit Risiken behaftet. Drei Wochen nach der Behandlung war es so weit: Granzow-Emdens Immunsystem begann, zu arbeiten - pünktlich zur Geburt ihrer zweiten Enkeltochter. „Das war dann ein Tag mit zwei Geburtstagen", sagt Granzow-Emden.
Bis dahin war es ein langer Weg: Über ein Jahr voller Chemo- und Strahlentherapien, zwei Immuntherapien. Doch keine Besserung in Sicht. „Das war schrecklich für mich", erinnert sich Granzow-Emden. Trotzdem hat sie weiter gehofft, dass ihre nächste Chance die entscheidende sein werde. Die Ärzte entschieden: Es braucht eine Stammzellspende. Die Familienmitglieder passten allerdings nur zu 50 Prozent. Das ist nicht ungewöhnlich. Laut DKMS finden nur ein Drittel der Patienten in der Familie einen Spender. Der Großteil benötigt einen fremden Spender.
Es gibt zwei verschiedene Arten, Stammzellen zu spenden. In 80 Prozent der Fälle werden Stammzellen ambulant und ohne Operation über die „periphere Stammzellspende" der Blutbahn entnommen. Bei rund 20 Prozent der Spender werden die Stammzellen direkt dem Knochenmark entnommen. Bei dieser Methode werden dem Spender fünf Prozent des Knochenmarks entnommen. 10 288 Menschen aus Baden-Württemberg haben bis Ende 2018 Stammzellen gespendet.
Zehn Monate nach der Transplantation geht es Helga Granzow-Emden gut. Sie fährt morgens mit dem E-Bike zur Arbeit, geht regelmäßig schwimmen. „Ich fühle mich viel besser, als bevor die Leukämie bei mir diagnostiziert wurde", sagt Granzow-Emden. Heute trägt sie die Haare kurz, ein wenig vermisst sie ihre langen Haare, die ihr vor der Chemo-Therapie bis über die Schulter gingen. Sie fielen langsam aus, Granzow-Emden trug deshalb oft eine Perücke.
Mittlerweile wachsen die Haare wieder. Seit Kurzem muss sie nur alle drei Monate zur Kontrolle ins Klinikum. Die Medikamentendosis nimmt ab, früher war ihre Pillendose randvoll, heute braucht sie noch drei Tabletten am Tag. Sie weiß, dass ihr Zustand nicht so gut bleiben muss, wie er derzeit ist, „aber jetzt gerade bin ich gesund." Und ergänzt: „Das Gefühl, das Leben neu geschenkt bekommen zu haben, ist ein schönes Gefühl."
Für September 2020 steht für Granzow-Emden ein Termin schon fest im Kalender. Am Jahrestag ihrer Transplantation bekommt sie die Adresse ihrer Spenderin. Dann will sie zu ihr nach Polen reisen - ihrer Lebensretterin persönlich danken.