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Wann bin ich zu perfekt?

Durchschnitt will heute gerade in der jungen Generation keiner mehr sein

Exzellente Arbeit abliefern und sich ständig selbst optimieren: Gerade junge Menschen streben nach Perfektion. Bis sie von ihren eigenen Ansprüchen gelähmt sind oder sogar krank werden. Experten erklären, wie man in diese Negativspirale gerät – und ihr wieder entkommen kann. 


„Hätte ich es besser machen können?“ Dieser Gedanke hält Anne L. oft stundenlang wach. Als selbstständige Texterin und Content-Managerin schreibt sie Newsletter, Blogartikel und Beiträge für die Social-Media-Kanäle von Unternehmen. Bevor sie etwas abschickt, überprüft sie jeden Satz, jedes Wort mehrfach, verwendet dafür drei verschiedene Tools, und doch quält sie immer die Angst: „Hoffentlich habe ich keinen Fehler gemacht.“

Die 38-jährige Diplom-Kommunikationswirtin aus Bayern will alles bestmöglich abliefern, perfekt eben, das setzt sie unter Druck. Jeden Morgen schreibt sie sich eine To-do-Liste und ist erst zufrieden, wenn jeder Punkt abgehakt ist. Oft sitzt sie bis spätabends am Laptop und feilt an ihren Texten, ohne dass es sich auszahlen würde. Während Schule und Ausbildung habe sie sich noch nicht so stark mit anderen verglichen, erzählt Anne L. am Telefon, richtig schlimm sei es erst geworden mit dem Einstieg ins Berufsleben, als sie zunächst bei einer Firma anfing: „Immer will ich tausend Prozent geben und besser sein als alle anderen.“ 

Anne L., die ihren ganzen Namen nicht in den Medien lesen möchte, nimmt alles stets mehr als nur genau. Sie leidet unter „dysfunktionalem Perfektionismus“, wie es im Fachjargon heißt, und sie ist damit nicht allein: Betroffene sorgen sich ständig um ihre Leistung und verurteilen sich hart, wenn sie den eigenen sehr hohen Ansprüchen nicht genügen. Ihr Selbstwertgefühl ist eng daran geknüpft. Forscher gehen davon aus, dass künftig mehr Menschen dazu neigen werden. Das Phänomen betrifft Frauen wie Männer gleichermaßen, es lässt sich in allen Lebensbereichen beobachten, besonders oft in körperlich-athletischen wie Ballett oder Spitzensport. Vor allem die jüngeren Generationen treiben es auf die Spitze: Keiner will mehr Durchschnitt sein. Und das macht auf Dauer krank. 

Perfektionismus ist heute deutlich stärker ausgeprägt als Ende des 20. Jahrhunderts. Zu diesem Schluss kommen zwei britische Verhaltensforscher in einer Metaanalyse, die sie 2017 im „Psychological Bulletin“ der Amerikanischen Psychologischen Gesellschaft veröffentlichten. Sie analysierten dafür über fast drei Jahrzehnte gesammelte Daten aus den USA, Kanada und Großbritannien. Zwischen 1989 und 2016 hatten insgesamt mehr als 41.000 College-Studenten einen spezifischen Fragebogen zu diesem Thema ausgefüllt, und ihre Antworten ließen sich in drei Kategorien unterteilen. So unterschied sich etwa das selbst auferlegte Streben danach, perfekt zu sein, vom Gefühl, die Erwartungen anderer erfüllen zu müssen; manche verlangten außerdem von ihren Mitmenschen, stets ideal zu handeln. 

Im Verlauf der Jahre zeigte sich, dass Perfektionismus jeglicher Art zunahm,besonders stark wirkte sich aber offenbar der soziale Druck aus, für den die Bewertung anderer ausschlaggebend ist. Daraufhin beschäftigten sich die beiden Autoren Thomas Curran und Andrew Hill mit der Frage nach dem Warum, und 2022 lieferten sie im „Psychological Bulletin“ eine Erklärung. Die Ursachen sehen sie vor allem in der Erziehung. Eltern würden hohe Erwartungen an ihre Kinder stellen, um gesellschaftlichen Veränderungen gerecht zu werden. 


Auf Dauer kann Perfektionismus der Gesundheit schaden

Zugleich üben sie harsche Kritik; der Nachwuchs wiederum wolle sie nicht enttäuschen. Mitverantwortlich seien auch die sozialen Medien: Sich laufend mit anderen in einer ähnlichen Lebenssituation zu vergleichen befeuere den Perfektionismus. Ob unrealistische Schönheitsideale oder Karrieresprünge – sie stellen sich einem globalen Wettbewerb, und das rund um die Uhr.

Perfektionismus sehe man niemandem an, das sei eine innere Einstellung oder ein Persönlichkeitszug, sagt der Berliner Psychotherapeut Nils Spitzer. „Diese Menschen beißen sich stärker rein als andere, investieren meist mehr Zeit. Stets wollen sie optimale Ergebnisse erzielen und Fehler unbedingt vermeiden.“ Per se sei es weder schlecht noch ungesund, perfektionistisch veranlagt zu sein, zwar strenge es an, die meisten kämen dennoch gut damit zurecht. Übersteige die Angst zu versagen jedoch die Freude an einer Sache, schade das den Betroffenen. Im Rahmen einer Verhaltenstherapie versucht Spitzer dann, solchen Patienten aus ihrer „Negativspirale“ zu helfen. 

Wie Menschen in diesen Strudel geraten können, beschreibt er so: Perfektionisten jagen hohen Zielen hinterher, und wenn sie die erreichen, setzen sie sich noch höhere. Bis die selbstbestimmten Meilensteine unerreichbar werden und sie daran scheitern. Dafür werten sie sich selbst ab und werfen sich vor, sich nicht genug angestrengt zu haben. Fühlen sich wie Versager. Trotzdem machen sie immer weiter, bis sie unter der Last zusammenbrechen. Diese Gefahr sah Anne L. irgendwann auf sich zukommen. Sie wollte weniger Stress und wieder ruhig schlafen, unter anderem deshalb entschied sie sich im Oktober 2020 für eine Therapie. 

Auf Dauer kann Perfektionismus dem körperlichen Wohlbefinden und der Gesundheit schaden. Menschen, die dazu neigen, sind eher gefährdet als andere, eine psychische Erkrankung zu entwickeln, das legen inzwischen mehrere Studien nahe. Zum Beispiel treten bei ihnen öfter Depressionen und soziale Ängste in Erscheinung, auch kann ein Burn-out drohen. Als typisch gelten auch Essstörungenwie Magersucht oder eine sogenannte Orthorexie, bei der Erkrankte sich ausgesprochen gesund ernähren, etwa ausschließlich Rohkost essen.

Dysfunktionaler Perfektionismus kann zu einer so großen Verunsicherung führen, dass die Betroffenen irgendwann gar nichts mehr machen. „Sie prokrastinieren dann einfach“, sagt Christine Altstötter-Gleich, die an der Universität Koblenz-Landau das Phänomen erforscht. In zwei Bereichen falle ihr dieses Meidungsverhalten häufig auf: Sport und Studium. „Einige Profis hadern vor dem Wettkampf mit sich und wollen plötzlich nicht mehr antreten. Weil sie befürchten, andere könnten sie für unsportlich halten oder ablehnen, wenn sie schlecht abschneiden“, sagt Altstötter-Gleich. Oder ehrgeizige Studenten, die sich zur Prüfung anmelden und im letzten Moment ein Attest vorzeigen. „Vermeiden wirkt belohnend, da nach der Krankschreibung erst mal Erleichterung eintritt“, erklärt Altstötter-Gleich. Aber das Problem verschlimmere sich, die Angst vor dem Scheitern werde immer größer.

Warum manche perfektionistischer sind als andere, ist nicht allein durch die Erziehung zu erklären. Gene scheinen einen gewissen, wenn auch moderaten Anteil zu haben, was zum Beispiel eine spanische Studie aus dem Jahr 2015 andeutet. Für diese wurden mehr als 250 Zwillingspaare im jugendlichen Alter zu perfektionistischen Verhaltensmustern befragt: Statistisch fiel eine genetische Korrelation auf, die sich aber noch nicht genauer zuordnen ließ. Entscheidend ist jedoch das Umfeld: „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft: Von klein auf machen Kinder die Erfahrung, wie wichtig es ist, gut zu sein, und wie viel Aufmerksamkeit und Anerkennung sie dadurch bekommen“, erklärt Altstötter-Gleich. Eltern, Schule und Freundeskreis haben großen Einfluss. 

„Wächst ein Kind in einer Umgebung auf, in der es Fehler machen darf und dabei unterstützt wird, sich zu verbessern oder auch mal hinzuschmeißen, stärkt das den Selbstwert.“ Schimpfen oder bestrafen die Eltern sie hingegen, spüren sie deren Enttäuschung und lernen: Geliebt werden sie vor allem dann, wenn sie gute Leistung erbringen. Außerdem stellt die Psychologin fest, dass Selbstoptimierung heute eine große Rolle spiele. In Ratgebern, Podcasts und Online-Seminaren wird dazu aufgerufen, sich stets irgendwo zu verbessern. Die zwei Kilo weniger oder die Beförderung werden dann auf Social-Media-Plattformen als Erfolg geteilt. Das führt dazu, dass Menschen sich andauernd mit anderen messen – und immer noch mehr geben wollen. 

Mit Krisen kommen Perfektionisten nur schwer zurecht. Italienische Forscherinnenbeobachteten zum Beispiel, dass gerade die Selbstoptimierer während der Corona-Pandemie Essstörungen entwickelten, der Stress führte zu unkontrollierten Fressattacken, restriktivem sowie emotionalem Essen. Die psychische Belastbarkeit war im Vergleich mit anderen geringer, stellte etwa eine portugiesische Forschungsgruppe nach Befragung von mehr als 400 Erwachsenen fest. Unsichere Zeiten fordern Perfektionisten besonders heraus: „Weil sie sich nicht darauf einstellen können, so etwas lässt sich schlecht planen“, sagt der Berliner Therapeut Spitzer. Deshalb könnten sie sich nicht ideal verhalten, was sie aber anstreben würden. 

Und er bezeichnet sie als „kontextblind“: Unter allen Umständen wollen sie perfekt sein oder etwas fehlerfrei machen, obwohl sie vielleicht unter Zeitdruck stehen, sich krank fühlen oder familiäre Probleme sie belasten. Stattdessen sollten sie eher versuchen, unter den gegebenen Voraussetzungen das Optimale herauszuholen. Akzeptieren, dass es gut genug ist. 

Die Therapie hat Anne L. mittlerweile abgeschlossen, sie ist auf einem guten Weg. Dabei hat sie gelernt, gnädiger mit sich zu sein. Das heißt, dass sie mehr Selbstmitgefühl aufbringt, sich also bewusst macht, wie hart und ungerecht sie sich gegenüber oft ist. Statt sich selbst übel zu beschimpfen, wie früher, stelle sie sich jetzt stattdessen vor, mit einer Freundin zu sprechen. An den allermeisten Tagen klappt es schon ganz gut. 


Übungen für mehr Gelassenheit

Wer sich vom Perfektionismus befreien will, sollte sich die eigenen starren, hohen Ansprüche bewusst machen, diese dann kritisch hinterfragen und flexibler gestalten. Der Psychotherapeut und Buchautor Nils Spitzer empfiehlt dafür Übungen, die Nachteile dieser Denkweise aufzeigen und zur Veränderung anregen. In seinem Ratgeber „Perfektionismus überwinden“ (Springer Berlin, 27,99 €) gibt er Tipps:

  • Übertreiben: Einen Tag lang versuchen, wirklich alles perfekt zu machen; selbst die noch so kleinste Aufgabe. Dabei spüre man, wie anstrengend und zugleich zeitraubend dieses Verhalten sei. 
  • Perspektive wechseln: Sich in einen geliebten Menschen hineinversetzen und überlegen, ob man ihm wünschen würde, das Leben mit demselben Perfektionismus zu bestreiten. Dadurch werde einem die Belastung eher bewusst. 
  • Mittelgut sein: Nicht so wichtige Aufgaben, wie etwa Mails schreiben, nur mittelmäßig erledigen. Danach auswerten: Ging das schneller? War es weniger anstrengend? Und das Ergebnis ähnlich? 
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