Den Beruf aufgeben, um die Eltern zu pflegen? Für Gesundheitsminister Jens Spahn käme das nicht in Frage. Das sagte er am Mittwochabend in der Talkrunde von Sandra Maischberger zum Thema: "Die große Überforderung - wie lösen wir den Pflegenotstand?" Seine Eltern, erzählte Spahn dort, würden das nicht von ihm erwarten. Er würde aber versuchen, so oft wie möglich nach Hause zu fahren, um zu helfen. In einer früheren Ausgabe von "hart aber fair" sagte Spahn bereits, er könne sich nicht vorstellen, seinen Beruf aufzugeben, um seine Eltern zu pflegen.
Was der Gesundheitsminister sich nicht vorstellen kann, leisten 4,7 Millionen Menschen in Deutschland Tag für Tag. Zwei Drittel der knapp drei Millionen Pflegebedürftigen werden nicht in Heimen, sondern zu Hause versorgt.
"Deutschlands größer Pflegedienst" werden diese Angehörigen deshalb auch genannt. Ohne sie wäre eine Versorgung von Pflegebedürftigen in Deutschland nicht möglich, wenn jemand aus der eigenen Familie plötzlich aus dem Alltagsleben gerissen wird und nicht mehr allein klarkommt, stellen sie ihr Leben um. Wir haben mit drei Menschen gesprochen, die es anders machen als Spahn - und einen Angehörigen pflegen. Hier erzählen sie, wie es ihnen damit geht.
Ich bin mit 20 zu Hause ausgezogen und mit 28 wieder eingezogen. Mein Papa hatte eine Gehirnblutung und lag danach Koma. Als er wieder aufwachte, hatte er sich verändert. Er war halbseitig gelähmt, hatte ein eingeschränktes Sichtfeld, zeigte kaum noch Emotionen. Seitdem ist er bei allem, was er macht, auf Hilfe angewiesen.
Meine Eltern sind geschieden, meine beiden Brüder haben sofort gesagt: Wir können die Pflege nicht übernehmen. Sie fühlten sich nicht in der Lage. Ich war immer ein Papakind, für mich war klar, dass ich das mache. Ich konnte nicht mit dem Gedanken leben, dass er in einem Heim vor sich hinvegetiert. Und so entschied ich mich, nach Hause zurückzukehren, um ihn zu pflegen.
Zu dem Zeitpunkt war ich fast fertig mit meinem Studium, Geschichte und Philosophie. Ein halbes Jahr lang habe ich noch probiert, zu studieren. Aber das ging nicht, mein Vater brauchte mich. Auch meinen Nebenjob im Einzelhandel gab ich auf. Also kam das, was kommen musste: Hartz IV. Das fühlte sich an wie ein Schuss vor den Bug. Papa bekam zwar Pflegegeld, aber das reichte nicht für uns beide. Ich habe mich im Arbeitsamt so blöd gefühlt: Ich habe Abitur, studiert, immer nebenher gearbeitet. Die beim Amt haben mir das Gefühl gegeben, dass es falsch war, mich für die Pflege meines Vaters zu entscheiden. In der Berufsberatung meinte man zu mir, ich solle ihn ins Altenheim geben, damit ich arbeiten kann. Ich dachte: Das kann doch nicht sein, dass es mir negativ ausgelegt wird, dass meine Familie an erster Stelle steht.
Bei meinem Papa muss ich die Körperhygiene komplett übernehmen, ich gehe mit ihm aufs Klo, wechsel den Katheterbeutel und die Inkontinenzvorlage. Gerade die Intimpflege und die Toilettengänge waren uns beiden am Anfang so unangenehm, dass wir gar nicht darüber sprachen. Mir war speiübel, jedes Mal. Der Ekel, den man eben vor Exkrementen von anderen hat.
Irgendwann habe ich dann einfach mal gesagt: "Papa, ich glaube, das ist für dich genauso unangenehm wie für mich" - und seitdem ist auch alles in Ordnung. Natürlich ist es scheiße, wenn man dem Vater den Hintern abwischen muss. In die Situation sollte kein Kind kommen. Aber es ist halt so.
Es ist scheiße, wenn man dem Vater den Hintern abwischen muss. In die Situation sollte kein Kind kommen.
Nachts passiert es manchmal, dass sein Bein krampft, dann lagere ich ihn um. Er hat ein Seniorenhandy am Bett, damit ruft er mich an und ich komme runter. In manchen Nächten passiert gar nichts, in anderen ruft er fünf- oder sechsmal an. Entsprechend geht es mir dann am nächsten Tag. Manchmal bin ich einfach fertig. Klar könnte ich mich dann hinsetzen und heulen. Oder ich stehe eben auf und mache weiter und schaue, dass ich mich nicht selbst vergesse. Jetzt gerade ist Papa zum Beispiel in Kurzzeitpflege und mein Freund und ich sind am Wochenende mal für einen Tag an die Ostsee gefahren.
Ich habe Angst vor dem Tag, wenn Papa nicht mehr da ist. Weil er mir fehlen wird. Um mich selbst habe ich keine Angst, ich weiß, dass ich mich verkaufen kann, ich komme beruflich schon irgendwie unter. Ich würde gern mein Studium beenden, oder noch mal etwas ganz anderes machen - Soziale Arbeit studieren oder eine Ausbildung im Eventmanagement machen.
Manchmal frage ich mich, wie es gewesen wäre, wenn ich mich anders entschieden und meinen Papa nicht gepflegt hätte. Aber ich komme immer wieder zum gleichen Ergebnis: Ich würde es wieder tun.
Markus, 35 - pflegt seinen Vater
Ich war 18, als ich anfing, meinen Vater zu pflegen. Heute ist er 62. Ein Zeckenbiss wurde ihm zum Verhängnis, er hatte eine Neuro-Borreliose. Das bedeutet: Zwei- bis dreimal die Woche hat er starke Schwindelanfälle, die sechs bis acht Stunden andauern. In diesen Stunden braucht er viel Hilfe. Er hat Durchfall, kommt nicht allein aus dem Bett, ich muss mit ihm zur Toilette, das Bett neu beziehen.
Wir wohnen im selben Haus und haben ihm eine Klingelanlage installiert. Wenn er denkt, ein Anfall könnte gleich losgehen, klingelt er. Dann bekomme ich über eine App die Meldung auf mein Handy und weiß Bescheid.
Ich habe selbst eine Ausbildung zum Krankenpfleger gemacht und viele Jahre in dem Beruf gearbeitet. Nach telefonischer Rücksprache mit den Ärzten lege ich meinem Vater deshalb selbst die Infusion, wenn er einen Anfall hat. So müssen wir beim Arzt nicht warten und vermeiden die Einweisung in ein Krankenhaus.
Dadurch, dass ich meinen Vater pflege, schütze ich den Rest der Familie. Denn irgendwer muss es ja machen. Fürs Heim wäre er zu fit. Und: Wer garantiert, dass dort eine Eins-zu-Eins-Betreuung stattfindet? Die bräuchte er, gerade, wenn er einen Anfall hat. Da ich den Alltag und die Besetzung in stationären Pflegeeinrichtungen kenne, weiß ich, dass eine angemessene Versorgung im Notfall nur schwer möglich wäre.
Meine Mutter kann meinen Vater nicht pflegen. Sie kann keine anderen Leute waschen oder mit Ausscheidungen umgehen. Mich macht es stärker, anderen zu helfen. Trotzdem hat die Doppelbelastung aus Job und Pflege dazu geführt, dass ich zwischendurch zwei Jahre berufsunfähig war.
Ich habe viele Beziehungen an der Pflege zu Grunde gehen sehen. Bei mir und meiner Ehefrau ist das anders: Sie ist Krankenschwester und versteht alles. Sie springt auch ein, wenn ich mal etwas mit unseren Kindern unternehmen will. Klar, ich werde dann entlastet, und meine Frau belastet. Aber für uns ist das okay so. Wir können uns blind aufeinander verlassen.
Ich bin seit vier Jahren mit meinem Mann verheiratet, genauso lange pflege ich ihn. Er ist querschnittsgelähmt. Das war er schon, als ich ihn kennenlernte: Ich arbeitete damals als Krankenschwester auf einer Station für Querschnittsgelähmte, er war mein Patient. Mein Motto war bis dahin immer: Ich kann mir alles vorstellen, nur keinen Rollstuhlfahrer bei mir zu Haus. Dann kam die Liebe dazwischen.
Bevor wir zusammenzogen, kam morgens und abends immer ein ambulanter Pflegedienst. Anfangs dachten wir, dass der weiterhin kommen soll. Doch wenn ich Spätdienst im Krankenhaus hatte, wollte ich am nächsten Morgen nicht vom Pflegedienst geweckt werden. Außerdem empfand ich ihn immer häufiger als Eingriff in die Privatsphäre: Der Pflegedienst hat ja meistens einen Schlüssel. Und dann stand die Pflegerin plötzlich in der Wohnung - und erwischte uns beim Sex. Nicht nur einmal.
Also bestellten wir den Pflegedienst ab und ich übernahm. Mein Mann arbeitet als technischer Zeichner, ihn zu pflegen bedeutet: anziehen, Toilettengänge, ausziehen, duschen. Außerdem spielt er Rollstuhl-Rugby, auch da braucht er meine Hilfe - er kommt nicht alleine in den Rollstuhl oder wieder raus.
Als ich seine Pflege übernahm, wusste ich, was auf mich zukommt. Trotzdem war das hart. Ich arbeitete damals Vollzeit als Krankenschwester. Wenn ich um halb sechs morgens im Krankenhaus sein musste, stand ich um vier Uhr auf und machte meinen Mann fertig, damit ich selbst pünktlich bei der Arbeit sein konnte. Und wenn ich am Ende meines Arbeitstages auf der Station dann alle Patienten versorgt hatte, saß ja immer noch einer bei mir zu Haus. Dazu noch der Haushalt.
Für meinen Mann ist es manchmal komisch, dass ich ihn pflege. Für mich nicht. Ich schalte dann einfach von Ehefrau auf Krankenschwester. Wenn ich zum Beispiel mit ihm auf die Toilette gehe, sprechen wir nicht über den nächsten Urlaub, oder was wir am Wochenende machen. Sowieso sprechen wir dann ganz wenig. Die Pflege steht in diesen Augenblicken im Vordergrund, eben wie, als wenn ich gerade im Krankenhaus meinen Job machen würde. Wenn alles erledigt ist, schalte ich um und bin wieder die Ehefrau.
Ich bereue es keine Sekunde, diesen Weg gegangen zu sein. Denn wenn man liebt, sind alle Anstrengungen egal. Wir haben Freiheiten. Und jetzt gerade bin ich in Elternzeit - wir haben ein Baby bekommen.