Wie Kosmetik dabei helfen kann, sich trotz Krankheit stark zu fühlen.
Manchmal kann ein winziges Knötchen das ganze Leben verändern. Katharina Meier zieht an einem Tag im Februar ihren Pulli aus, streicht dabei zufällig über ihre Brust. Und fühlt noch einmal genauer über eine kleine Stelle an der rechten Seite. Da ist etwas, das da nicht hingehört, denkt die 25-Jährige. Ein Knubbel, etwa zwei Zentimeter groß. "Oh Gott, Brustkrebs", habe sie im ersten Moment gedacht. Und sich dann beruhigt: "Das ist bestimmt etwas Gutartiges." Zwei Wochen später hat sie Gewissheit. Es ist ein Tumor. Katharina hat Brustkrebs.
Bei den weiteren Untersuchungen wird klar, dass die Erkrankung erblich bedingt ist, Schuld ist eine Genmutation. Es fällt Katharina nicht leicht, sich damit abzufinden. Sie muss ihr Referendariat abbrechen, das sie erst vor einer Woche angefangen hat. Sie war extra deswegen nach Potsdam gezogen. Katharina hat Lehramt studiert, sie will Grundschullehrerin werden. Seit sie weiß, dass sie Krebs hat, fährt sie regelmäßig zur Behandlung nach Lüneburg, dort wohnt ihre Familie.
Ein Nachmittag Anfang Mai im Klinikum Lüneburg: Im Seminarraum 105 der Entbindungsstation treffen sich zehn krebskranke Frauen zu einem Kosmetikseminar. Die Tische sind u-förmig aufgereiht, zehn Stühle stehen dort, an jedem Platz liegen Schminkspiegel, Wattepads, Kosmetiktücher und Q-Tips. An der Wand hängen Fotos von Neugeborenen, gedruckt auf Leinwände. "Wonneproppen" steht auf einem Bild. Auf dieser Station wird fast täglich mindestens ein neues Leben gefeiert. Die zehn Frauen, die heute für das Seminar hergekommen sind, kämpfen, damit der Krebs sie nicht umbringt.
Katharina wählt einen Fensterplatz, dreht ihren Rücken zur Sonne. Sie trägt ein orangefarbenes Tuch um den Kopf und einen orangefarbenen Pulli. Sie bekommt seit Anfang März Chemotherapie, die Haare sind ihr komplett ausgefallen. Ihre Augenbrauen sind noch da, die hat sie satt nachgemalt, die Wimpern sind schwarz getuscht. Eine Brille mit handtellergroßen Gläsern dominiert Katharinas Gesicht. Ihr Äußeres sei auch eine Kampfansage, sagt sie: "Der Krebs kann mich mal." Ein Seminar, in dem ihr gezeigt wird, wie sie sich richtig zurecht macht, braucht Katharina eigentlich nicht. Doch sie ist neugierig auf den Kurs, von dem sie während ihrer Chemotherapie gehört hat. Sie mag die Idee, dass Kosmetika ihr und den anderen Frauen dabei helfen sollen, sich trotz ihrer Krankheit stark zu fühlen.
Katharina wird sich nach ihrer letzten Chemotherapie-Behandlung im August beide Brüste abnehmen und Implantate einsetzen lassen. Würde sie das nicht tun, wäre das Risiko groß, dass der Krebs erneut ausbricht. "Mit 25 musste ich entscheiden, dass ich nie ein Kind stillen werde. Das sind Themen, über die man in meinem Alter eigentlich nicht nachdenken will", sagt sie.
Die Genmutation betrifft auch die Eierstöcke. Damit das Risiko wirklich minimiert wäre, müsste Katharina auch die entfernen lassen. Katharina und ihr Partner möchten aber Kinder. "Sobald die Familienplanung abgeschlossen ist, werde ich auch die Eierstöcke entfernen lassen", sagt sie. Sie legt ihre Hände flach auf die Oberschenkel und zieht die Schultern nach hinten, sie sitzt jetzt aufrechter. "Ich möchte eben nicht mein Leben lang Angst haben, dass der Krebs wiederkommt."
Mit 25 musste ich entscheiden, dass ich nie ein Kind stillen werde.
Es ist 15 Uhr, die Kosmetikerin Sybille Kollmeier legt los. Sie bittet Katharina und die anderen neun Teilnehmerinnen, die graue "Wundertüte" auszupacken, die an jedem Platz steht. Darin: Shampoo, Gesichtswasser, Thermalspray, Puder, Lidschatten, Rouge, Augenbrauenstift, Wimperntusche und Make-up im Wert von etwa 140 Euro. Kosmetikunternehmen haben die Produkte an die Deutsche Knochenmarkspenderdatei Life (kurz DKMS life) gespendet. Die Organisation stellt dann für jede Teilnehmerin ein Paket zusammen.
Kollmeier erklärt den Frauen, dass "winzige aufgemalte Pünktchen" ausgefallene Wimpern ersetzen können, Rouge "einen Hungerhaken" aus ihnen mache, wenn es an der falschen Stelle aufgetragen werde, und Augenbrauen "Schwestern und keine Zwillinge" seien. Katharina hört aufmerksam zu, obwohl ihre Augenbrauen keine Nachhilfe benötigen. Aus dem Augenwinkel beobachtet sie ihre Sitznachbarin, die versucht, die kleine Schrift auf dem Augenbrauenstift zu entziffern.
Kollmeiers Stimme ist weich und dunkel, ihre Art hat etwas Mütterliches. Sie benutzt nie die Worte Chemotherapie, Tumor oder Krebs. Sie spricht stattdessen davon, dass es "in dieser Zeit" vorkommen könne, dass einem die Wimpern ausfallen. Oder dass "in diesem Zusammenhang" manche Frauen Probleme mit den Fingernägeln haben. Dass "jetzt" der Hautton zwar blass sei, "bis Weihnachten" alles aber schon wieder ganz anders aussehen könne. Unausgesprochen schwebt zwischen all diesen Sätzen: Es geht weiter. Der Krebs ist nicht das Ende - sondern nur ein Streckenabschnitt. Und wer die "Wundertüte" benutzt, für den wird "diese Zeit" vielleicht etwas leichter - und normaler.
Als nächstes sind die Augenbrauen dran. Neben Katharina sitzt Sabine, Mitte 50, rosafarbener Pullover. Ihre weißen Haare sind wenige Zentimeter lang, die Wimpern kaum vorhanden. Sie nimmt etwas unsicher den Augenbrauenstift in die Hand. Die Seminarleiterin zeigt der Gruppe, wie man Brauen aufmalt, wenn keine mehr da sind. Oder wie man das, was noch da ist, auffüllen kann. Sabine weiß nicht, welche Seite sie zuerst benutzen muss, den Stift oder die Bürste. Sie wendet ihn hin und her. Die Kosmetikerin tippt auf die Stiftseite. Dann zeichnet Sabine vor ihrem Schminkspiegel auf der fast haarlosen Stirn Augenbrauen auf.
Sie betrachtet das Ergebnis im Spiegel. "Ich komme mir vor wie beim Kinderschminken", sagt sie. Katharina sieht sie an. "Ach was, das sieht total gut aus", ermuntert sie ihre Sitznachbarin. "Ja, wahrscheinlich hast du recht. Ich muss es einfach machen", sagt Sabine. Sie inspiziert sich noch einige Augenblicke und der skeptische Blick verschwindet aus ihrem Gesicht.
Nach zwei Stunden ist das Seminar vorbei. Katharina verlässt als letzte den Raum. In ihrer grauen Tasche war ein fliederfarbener Lippenstift, den sie während des Seminars großzügig aufgetragen hat. Es ist ihr wichtig, sich nicht zu verkriechen. Sie möchte der Welt zeigen: "Ich bin weiterhin schön und stark, auch wenn mir die Haare ausfallen". Spätestens seit dem Seminar heute weiß sie, dass sie genau so weitermachen wird. "Die Ärzte können sich um das Medizinische kümmern. Was ich beitragen kann, ist, dass ich mich wohl fühle und schön finde", sagt sie.
Im September wird Katharina 26 Jahre alt. "Bis dahin habe ich das Kapitel dann hoffentlich abgehakt", sagt sie. Die ersten Chemo-Durchgänge habe sie gut überstanden, die Ärzte sind zuversichtlich. Solange sie in Behandlung ist, will sie sich weiterhin das "komplette Programm in ihr Gesicht zaubern". Als Kampfansage. Und weil ein auffälliges Make-up zu Katharina gehört. Vor dem Krebs, währenddessen, und auch danach.