„Bei mir würden die Gefühle schon noch kommen“, redete sich Tanja
ein. Doch statt Liebe und Mutterglück fühlte sich die 28-Jährige erschöpft,
leer und überfordert. So geht es rund der Hälfte aller Mütter einige Tage nach
der Geburt, bedingt durch die hormonelle Umstellung. Diese Zeit wird als
Baby-Blues bezeichnet. Hält dieser Zustand länger an, kann es ein Zeichen für
die sogenannte postpartale Depression sein. Davon sind zehn bis 15 Prozent
aller Mütter betroffen. Typische Symptome sind Unzufriedenheit, anhaltende
Versagensgefühle, Unruhe, Traurigkeit und innere Leere. „Die Frauen sagen, dass
sie keine Beziehung zu ihrem Kind wahrnehmen. Sie sollen glücklich sein, aber
empfinden nichts“, erzählt Sigrid Allisat von der Schwangerschaftsberatung der
Diakonie Ansbach.
Selbstvorwürfe und ein dauerhaft schlechtes Gewissen quälten Tanja:
„Warum ich, was habe ich getan? Verdammt nochmal, warum kann ich mein Kind nicht
lieben?“
„Ich will mein Leben ohne Kind zurück“
Überall werden Familien gezeigt, die mit ihrem Kind zum Glück
finden. „Doch wenn das Kind noch klein ist, anfangs nicht reagiert und keinen
Blickkontakt hält, ist das eine Durststrecke“, sagt Allisat. „Die Frauen
vermuten den Fehler dann bei sich.“ Nach außen hin wahrte auch Tanja ihre
Fassung, aber innerlich verzweifelte sie. „Ich wünschte mir so oft mein Leben
ohne meinen Sohn zurück“, sagt Tanja. „Er war alles, was ich je wollte. Und
jetzt ist er das, was ich nicht mehr möchte.“
Vor jedem weiteren Tag hatte sie Angst. Davor, die Kontrolle zu
verlieren und der Situation nicht mehr gerecht zu werden. Philipp*, der Vater,
war den ganzen Tag arbeiten und sie blieb mit dem Kind allein. Sie weiß, dass
sie damals auch schöne Momente mit ihrem Gustav erlebt hat, doch erinnern kann sie
sich kaum. Ständig weinte sie, alltägliche Aufgaben erschienen ihr unerträglich
anstrengend.
Tanja hasste sich irgendwann selbst, wollte nicht mehr weiterleben.
Wirklich offen darüber reden konnte sie mit niemandem, ihre Scham war zu groß.
Trotzdem kümmerte sie sich weiterhin so gut es geht um Gustav. Die Betroffenen
wollen nicht auffallen und kümmern sich deshalb besonders gut um ihr Kind.
Anders als bei der postpartalen Psychose, der schwersten Form der Krankheit:
„Da kann es so weit gehen, dass die Betroffenen ihr Kind im Wahn umbringen“, erklärt
Allisat.
„Bin ich eine schlechte Mutter?“
Bei der postpartalen Depression sei laut Allisat auch Entlastung
entscheidend: „Viele Mütter sind oft sehr erschöpft und müssen schlafen. Da
muss man mal das Kind übernehmen oder den Haushalt machen.“ Doch es gibt
Versorgungsprobleme: Für viele Krankenkassen ist die postpartale Depression
kein ausreichender Grund, um zum Beispiel eine Haushaltshilfe zu engagieren. Gerade
für Alleinerziehende wäre das aber eine große Entlastung. Und Kliniken, in
denen Frauen zusammen mit ihrem Kind stationär aufgenommen werden können, sind rar
und die Wartezeiten entsprechend lang.
Dabei ist die postpartale Depression eine international
klassifizierte Krankheit. Treffen kann es jeden, sogar Männer. Da sie keine Schwangerschaft
und somit auch keine Hormonumstellung haben, geht man davon aus, dass für die
Krankheit vor allem psychosoziale und neurochemische Faktoren verantwortlich
sind. Individuelle Diagnostik und Behandlung ist deshalb erforderlich. Tanja streitet
oft mit ihrem Freund Philipp, der kein Verständnis für ihre Situation hat.
„Hauptsache, dem Kind geht’s gut“
Tanja hatte zwar schon von der Krankheit gehört, jedoch nicht
damit gerechnet, selbst betroffen zu sein. Aufgeklärt wurde sie nicht, obwohl
sie schon vor der Schwangerschaft an Depressionen litt. Wissenschaftlich ist
derzeit noch unklar, inwiefern psychische Vorerkrankungen, geringe soziale
Unterstützung und Geburtskomplikationen zusammenhängen und sich gegenseitig
beeinflussen.
Das Thema wird nicht standardmäßig bei Geburtsvorbereitungen und Kontrollen angesprochen. „Oft sind manche Frauen schon in der Schwangerschaft überängstlich, da möchte man sie nicht noch mehr verunsichern“, erklärt Allisat. Sie wünscht sich mehr Aufklärung: „Gerade bei einer schwierigen Geburt ist oft die Hauptsache, dass das Kind gesund ist. Aber dass eine Frau auch darunter leiden kann, dafür fehlt das Verständnis.“
Als ihr Sohn Gustav fast ein Jahr alt war, begann Tanja eine
Therapie. Der Rhythmus tat ihr gut, sie fing wieder an zu arbeiten. Und langsam
spürte sie so etwas wie Liebe. „Eine postpartale Depression ist gut
behandelbar, wenn sie nicht verschleppt oder im Verschwiegenen bleibt“, so
Allisat. Wird sie nicht behandelt, kann die Krankheit chronisch verlaufen oder beim
Kind können später Bindungs- und Verhaltensstörungen auftreten.
„Traurig und irgendwie auch so erleichtert“
Ein halbes Jahr später verließ Philipp die beiden. Dadurch brach
das Kartenhaus, das Tanja so mühevoll aufgebaut hatte, wieder in sich zusammen.
Ständig brauchte sie jemanden, der sich mit ihr um Gustav kümmerte, allein schaffte
sie nichts mehr. Als einziger Ausweg blieb ihr die stationäre Einweisung. Sie
hatte ein schlechtes Gewissen wegen der dreiwöchigen Trennung von ihrem Kind, aber
sie war auch sehr erleichtert.
Und es half ihr. Noch zwei Monate lang ging sie regelmäßig in eine
Tagesklinik. Heute liebt Tanja ihren Sohn über alles und beschreibt es als eine
„wirklich unbeschreiblich starke Verbindung“. Trotz des Risikos einer erneuten
postpartalen Depression wünscht sie sich ein weiteres Kind. Und diesmal kann
sie sich besser vorbereiten.
*Name geändert
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