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Reportage

Warum kann ich dich nicht lieben? Postpartale Depression: Das Tief nach der Geburt

Als ihre Wehen einsetzten, schwankte Tanja zwischen Glück und Angst. Neun Monate lang war die Vorfreude auf ihren Sohn gewachsen und nun nach weiteren unerträglich schmerzhaften 16 Stunden später kam endlich der Moment, nach dem sie sich so gesehnt hatte: Mit ihrem kleinen Sohn Gustav in den Armen machten ihre Gefühle einen Looping aus Erleichterung und Überwältigung. Doch etwas fehlte. Was nun vor ihr lag, war die schwerste Zeit ihres Lebens, obwohl es doch die schönste sein sollte. Das sollte also das angeblich größte Glück sein?

„Bei mir würden die Gefühle schon noch kommen“, redete sich Tanja ein. Doch statt Liebe und Mutterglück fühlte sich die 28-Jährige erschöpft, leer und überfordert. So geht es rund der Hälfte aller Mütter einige Tage nach der Geburt, bedingt durch die hormonelle Umstellung. Diese Zeit wird als Baby-Blues bezeichnet. Hält dieser Zustand länger an, kann es ein Zeichen für die sogenannte postpartale Depression sein. Davon sind zehn bis 15 Prozent aller Mütter betroffen. Typische Symptome sind Unzufriedenheit, anhaltende Versagensgefühle, Unruhe, Traurigkeit und innere Leere. „Die Frauen sagen, dass sie keine Beziehung zu ihrem Kind wahrnehmen. Sie sollen glücklich sein, aber empfinden nichts“, erzählt Sigrid Allisat von der Schwangerschaftsberatung der Diakonie Ansbach.

Selbstvorwürfe und ein dauerhaft schlechtes Gewissen quälten Tanja: „Warum ich, was habe ich getan? Verdammt nochmal, warum kann ich mein Kind nicht lieben?“


„Ich will mein Leben ohne Kind zurück“

Überall werden Familien gezeigt, die mit ihrem Kind zum Glück finden. „Doch wenn das Kind noch klein ist, anfangs nicht reagiert und keinen Blickkontakt hält, ist das eine Durststrecke“, sagt Allisat. „Die Frauen vermuten den Fehler dann bei sich.“ Nach außen hin wahrte auch Tanja ihre Fassung, aber innerlich verzweifelte sie. „Ich wünschte mir so oft mein Leben ohne meinen Sohn zurück“, sagt Tanja. „Er war alles, was ich je wollte. Und jetzt ist er das, was ich nicht mehr möchte.“ 

Vor jedem weiteren Tag hatte sie Angst. Davor, die Kontrolle zu verlieren und der Situation nicht mehr gerecht zu werden. Philipp*, der Vater, war den ganzen Tag arbeiten und sie blieb mit dem Kind allein. Sie weiß, dass sie damals auch schöne Momente mit ihrem Gustav erlebt hat, doch erinnern kann sie sich kaum. Ständig weinte sie, alltägliche Aufgaben erschienen ihr unerträglich anstrengend.

Tanja hasste sich irgendwann selbst, wollte nicht mehr weiterleben. Wirklich offen darüber reden konnte sie mit niemandem, ihre Scham war zu groß. Trotzdem kümmerte sie sich weiterhin so gut es geht um Gustav. Die Betroffenen wollen nicht auffallen und kümmern sich deshalb besonders gut um ihr Kind. Anders als bei der postpartalen Psychose, der schwersten Form der Krankheit: „Da kann es so weit gehen, dass die Betroffenen ihr Kind im Wahn umbringen“, erklärt Allisat.

„Bin ich eine schlechte Mutter?“

Bei der postpartalen Depression sei laut Allisat auch Entlastung entscheidend: „Viele Mütter sind oft sehr erschöpft und müssen schlafen. Da muss man mal das Kind übernehmen oder den Haushalt machen.“ Doch es gibt Versorgungsprobleme: Für viele Krankenkassen ist die postpartale Depression kein ausreichender Grund, um zum Beispiel eine Haushaltshilfe zu engagieren. Gerade für Alleinerziehende wäre das aber eine große Entlastung. Und Kliniken, in denen Frauen zusammen mit ihrem Kind stationär aufgenommen werden können, sind rar und die Wartezeiten entsprechend lang.

Dabei ist die postpartale Depression eine international klassifizierte Krankheit. Treffen kann es jeden, sogar Männer. Da sie keine Schwangerschaft und somit auch keine Hormonumstellung haben, geht man davon aus, dass für die Krankheit vor allem psychosoziale und neurochemische Faktoren verantwortlich sind. Individuelle Diagnostik und Behandlung ist deshalb erforderlich. Tanja streitet oft mit ihrem Freund Philipp, der kein Verständnis für ihre Situation hat.

 „Hauptsache, dem Kind geht’s gut“

Tanja hatte zwar schon von der Krankheit gehört, jedoch nicht damit gerechnet, selbst betroffen zu sein. Aufgeklärt wurde sie nicht, obwohl sie schon vor der Schwangerschaft an Depressionen litt. Wissenschaftlich ist derzeit noch unklar, inwiefern psychische Vorerkrankungen, geringe soziale Unterstützung und Geburtskomplikationen zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen.

Das Thema wird nicht standardmäßig bei Geburtsvorbereitungen und Kontrollen angesprochen. „Oft sind manche Frauen schon in der Schwangerschaft überängstlich, da möchte man sie nicht noch mehr verunsichern“, erklärt Allisat. Sie wünscht sich mehr Aufklärung: „Gerade bei einer schwierigen Geburt ist oft die Hauptsache, dass das Kind gesund ist. Aber dass eine Frau auch darunter leiden kann, dafür fehlt das Verständnis.“

Als ihr Sohn Gustav fast ein Jahr alt war, begann Tanja eine Therapie. Der Rhythmus tat ihr gut, sie fing wieder an zu arbeiten. Und langsam spürte sie so etwas wie Liebe. „Eine postpartale Depression ist gut behandelbar, wenn sie nicht verschleppt oder im Verschwiegenen bleibt“, so Allisat. Wird sie nicht behandelt, kann die Krankheit chronisch verlaufen oder beim Kind können später Bindungs- und Verhaltensstörungen auftreten.

„Traurig und irgendwie auch so erleichtert“

Ein halbes Jahr später verließ Philipp die beiden. Dadurch brach das Kartenhaus, das Tanja so mühevoll aufgebaut hatte, wieder in sich zusammen. Ständig brauchte sie jemanden, der sich mit ihr um Gustav kümmerte, allein schaffte sie nichts mehr. Als einziger Ausweg blieb ihr die stationäre Einweisung. Sie hatte ein schlechtes Gewissen wegen der dreiwöchigen Trennung von ihrem Kind, aber sie war auch sehr erleichtert.

Und es half ihr. Noch zwei Monate lang ging sie regelmäßig in eine Tagesklinik. Heute liebt Tanja ihren Sohn über alles und beschreibt es als eine „wirklich unbeschreiblich starke Verbindung“. Trotz des Risikos einer erneuten postpartalen Depression wünscht sie sich ein weiteres Kind. Und diesmal kann sie sich besser vorbereiten.


*Name geändert




Bildquelle: Unsplash unter CC0-Lizenz