Verena Carl

Journalistin und Autorin, Hamburg

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Überraschendes Wiedersehen

Transidentität Überraschendes Wiedersehen

Dies ist die Geschichte eines Jungen, geboren in einer Kleinstadt in Norddeutschland. Mit sieben spielt er Fußball, klettert, schnitzt und lässt sich die Haare zum Mecki scheren. Mit zwölf seift er sich das Kinn mit Rasierschaum ein, schabt mit der Klinge nach: Vielleicht regt das den Bartwuchs an! Ein paar Jahre später die erste Freundin, der erste Job. Immer ist er der Letzte, der mitbekommt, wenn eine Kollegin schwanger wird oder heiratet. Frauengespräche? Nicht sein Ding.

Ganz "normal"?

Ein ganz gewöhnliches Männerleben. Eben nicht. Sein Körper ist der einer Frau. Er trägt einen weiblichen Vornamen, andere sagen "sie", wenn sie von ihm sprechen. Und er lässt sie. Erst nach seinem 50. Geburtstag ändert sich etwas.

Aber von vorn. Um die Jahrtausendwende waren wir Kolleginnen in einer Hamburger Redaktion. Was ich sah: eine sportliche, nicht unweibliche Mittdreißigerin, blonde Locken, Lipgloss, mit der ich über Musik und Fitness plauderte. Dass sie Frauen liebt, war nicht unser Thema. Das soll jede, soll jeder bitte so halten, wie's gefällt - war damals zumindest in meinem Umfeld der Tenor. Den Begriff "Transgender" hatte ich allerdings noch nicht im Repertoire. Kein Trans-Model lief über den Catwalk, auch im Sport, in Politik und Wirtschaft waren Transmenschen so gut wie unsichtbar.

Das ist heute anders. Und meine Kollegin heißt jetzt Thies. Als ich vor einiger Zeit seine Freundschaftsanfrage bei Facebook bekam, hätte ich sie fast gelöscht. Weil ich dachte: Kenn ich nicht, was will der Typ? Dann las ich den Nachnamen, sah das Profilbild genauer an: die Gesichtszüge, einerseits vertraut, andererseits markanter - auf eine Weise, die nicht nur von den zusätzlichen Jahren kommen konnte. Der Hut, das Herrenhemd. War das die mutige Korrektur eines Missverständ­nisses oder eine späte Lebenskrise?

Mein Hirn versucht, das Bild auf meiner Netzhaut mit den alten Bildern abzugleichen.

Monate später sitzen wir uns in seiner Wohnküche gegenüber. Seine Stimme, schon früher tief und voll, ist noch mal einen Halbton nach unten gerutscht. Mein Hirn versucht, das Bild auf meiner Netzhaut mit den alten Bildern im Kopf abzugleichen. Die wachen blauen Augen, der zum Lächeln bereite Mund sind dieselben wie früher. Doch die Schultern an diesem neuen Körper sind breiter, alle Konturen kantiger, den Füßen passen Sneaker in Herrengröße - Folgen des Testosteron- Gels, mit dem Thies sich täglich eincremt und das den Hormon-Mix in seinem Organismus auf männlich eicht. Die weibliche Brust wird von einem Binder unterm Hemd zurückgehalten. Würde mir Thies als Fremder gegenüberstehen, wie würde ich ihn einordnen: M, F, D?

"Ich habe mein ganzes Leben lang gewusst, dass ich keine Frau bin. Aber ich hatte lang keine Worte dafür", erzählt er. In den ersten Jahren war das noch kein Problem: "Ich war wild, burschikos, wurde oft für einen Jungen gehalten, aber von allen akzeptiert - ich war einfach ich." Es waren die frühen Siebziger, als es weder gegendertes Spielzeug gab noch pinkfarbene Bling-Bling- Klamotten für Mädchen, sondern alle Kindergartenkinder die gleichen rostroten Nickis und Prinz- Eisenherz-Schnitte trugen. Doch das geschlechtsneutrale Paradies war nicht für immer. Mit zehn vertraute er seinem Tagebuch an: "Ich bin ein Junge, ob man das wohl operieren kann?" Mit Beginn der Pubertät wurde es komplizierter: "Auf einmal hatte ich Brüste und war damit als weiblich definiert." Daran änderten auch weite Norwegerpullis nichts.

Zu sich stehen? Gar nicht so einfach

Doch die Sehnsucht, er selbst zu sein, fliegt unter dem Radar, den Schmerz macht er mit sich selbst aus. Er verliebt sich in Frauen, findet mit 18 Gleichgesinnte in einer schwul-lesbischen Gesprächsgruppe, darunter auch Transmenschen, deren Vorbild ihn fasziniert und abschreckt zugleich: "Ich dachte: Dann muss ich den ganzen Weg gehen, bis zur Operation der Geschlechtsteile. Mit allen rechtlichen und medizinischen Hürden." Zwar war der Leidensdruck hoch, doch die Hindernisse waren noch höher.

Dazu muss man wissen: Nicht nur der Zeitgeist hat sich seither gedreht, auch die Rechtslage. Lange enthielten sowohl das Transsexuellengesetz als auch die Vorschriften der Krankenkassen Bestimmungen, die nicht nur von den Betroffenen als quälend empfunden wurden. So mussten Verheiratete sich bis 2009 scheiden lassen, ehe sie ihren Eintrag beim Standesamt offiziell ändern lassen konnten, bis 2011 war auch eine Sterilisation Voraussetzung dafür. Krankenkassen verlangten entwürdigende Alltagstests. 1999, zu der Zeit, als ich noch nichts von den inneren Kämpfen meiner damaligen Kollegin ahnte, nahmen all das deutschlandweit nur 265 Menschen auf sich. Heute, nach mehreren Gesetzesreformen, sind es pro Jahr etwa zehnmal so viele.

Thies hadert Jahrzehnte mit seiner Identität, mal weniger, mal mehr: "Ein Korken, den man unter Wasser drückt, kommt immer wieder hoch." Eine TV-Doku löst 2017 endlich den Knoten. "Es ging um Transmänner, die unterschiedliche Wege gegangen waren. Während einer nichts an seinen weiblichen Geschlechtsmerkmalen geändert hatte, hatte der zweite nur die Hormonbehandlung gewählt, der dritte war komplett operiert, einschließlich künstlichem Penis. Das war wie eine Offenbarung für mich: Es gibt nicht nur schwarz-weiß, nicht nur Tun oder Lassen." Noch am gleichen Tag klebt er sich künstliche Barthaare ans Kinn und freut sich wie ein Kind, wenn er in seiner Wohnung an einem Spiegel vorbeikommt: Geil, das bin ja ich! Kurz darauf geht er mit Bart auf ein Konzert, bekommt begeisterte Rückmeldungen von Freunden. Ein Gefühl wie neuge­boren. Er trifft seine Entscheidung. Erst für einen neuen Namen - kantig, männlich, nordisch -, dann für einen neuen Körper. "Hormone und Brust-OP ja, aber mein Unterleib ist tabu." Thies zieht sein Ding durch, will sich nicht anpassen. Weder der Mehrheit noch der eigenen Com­munity. "Auch in der Szene, gerade unter jüngeren Transmännern, herrscht Wettbewerb: Bei wem sprießt der Kinnflaum am schnellsten, wer sieht nackt am männlichsten aus? Das mache ich nicht mit."

Der Weg ist noch lang

Noch ist er nicht am Ziel. Eine offizielle Personenstandsänderung ist teuer, für Gutachten können leicht 1500, 2000 Euro fällig werden, die medizinischen Maßnahmen haben ihre Risiken und Nebenwirkungen. Da hilft es, wenn das Umfeld einen auffängt: "Meine Freunde, meine Mitbewohnerin - fast alle feiern meine Transition. Letztes Jahr habe ich einen neuen Job begonnen, dort werde ich total akzeptiert."

Nicht selbstverständlich: Die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität gibt die Arbeitslosenquote unter erwachsenen transgeschlechtlichen Menschen mit 21 Prozent an, drei bis vier Mal so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Und die Familie? "Meine Mutter spricht mich noch mit meinem früheren Vornamen an, das kann ich ihr nicht ausreden. Aber geliebt fühle ich mich trotzdem."

Er sagt, er sei in den letzten Jahren gelassener geworden, zugleich streitbarer, weniger harmoniesüchtig. Eine Folge des Testosterons, das als Aggressions-Hormon gilt? Schon, aber nicht nur. Es ist auch das Älterwerden selbst. Und die Erfahrung, endlich bei sich anzukommen. Zwar wird er manchmal wehmütig, wenn er überlegt, wie viel Lebenszeit ihn seine Entscheidung gekostet hat. Aber zu bereuen gibt es nichts, und die Frau, die er auf alten Fotos sieht, ist nicht der Feind, keine Fremde. "Sie ist ein Teil von mir. Auch in ihrer Gestalt habe ich gefeiert, gearbeitet, geliebt." Ach ja, die Liebe. Die letzte ist sechs Jahre her. Fehlt nicht ein Stück zum Glück, für einen Mann, der auf Frauen steht? Wichtiger ist etwas anderes. "Weißt du," sagt Thies, "Ich habe immer nach jemandem gesucht, der mich ganz macht. Deshalb konnte ich auch nicht gut allein sein." Und jetzt? "Ich habe ja alles in mir. Kann mich selbst lieben. Manch- mal bin ich richtig vernarrt in mein eigenes Spiegelbild." Was er darin sieht? Einen Menschen, ebenso vertraut wie neu. Und manchmal einen kleinen Jungen, der gern schnitzt, auf Bäume klettert und ruft: "Mann, Alter - wo warst du so lange?"

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