Christian Kelter schaut zufrieden auf den markanten Turm der katholischen Kirche Heilig Geist in Hünenberg. Das ist seine Pfarrei. Seit fünf Jahren ist der Rheinländer hier Gemeindeleiter und Diakon. Er fühlt sich wohl im 9.000-Seelen-Dorf, das in der voralpinen Landschaft eingebettet ist, zwischen Zugersee und Reuss. Der 42-Jährige lebt hier mit seiner Frau und den beiden Kindern. Es ist nicht nur die ländliche Idylle, an der er sich erfreut. Er ist froh, dass er das Amt hier überhaupt ausüben darf - in Deutschland steht das nur den Priestern zu.
Bislang stand vornehmlich die Flut deutscher Ärzte, Ingenieure oder Journalisten im Fokus der Medien, weniger aber jene der Männer und Frauen auf evangelischen und katholischen Kanzeln. Dabei gingen ohne die Diakone, Pastoralassistenten und Priester aus dem großen Kanton in der Schweizer Kirche längst die Lichter aus. Viele Menschen, die sich auf offene Pfarrstellen in der Schweiz bewerben, stammen aus Deutschland. Und der Zustrom deutscher Theologen hat die Schweizer Kirchenlandschaft schon heute nachhaltig verändert.
Kelter ist unterwegs zum Bahnhof. Oft schon musste er dort am Kiosk unschöne Schlagzeilen gegen Deutsche lesen: Jobklau, Teutonenschwemme, rollende Walze aus dem Norden. In den elf Jahren, in denen der Rheinländer in der Schweiz lebt, hat er persönlich jedoch nie antideutsche Ressentiments gespürt. "Ich habe viel Glück gehabt mit meinen Pfarreien. Die Leute haben mich stets offen empfangen." Doch Kelter weiß auch, welche Auswirkungen die Personenfreizügigkeit, die "neue deutsche Welle", auf die Schweiz hat: "Von den Theologen, die vor zehn Jahren mit mir im Bistum Basel das Nachdiplom-Studium absolvierten, war die Hälfte deutsch. Das löste selbst in mir Unbehagen aus."
Wer nicht zum Priester aufsteigt, bleibt das fünfte Rad am WagenSein Weg vom Rheinland nach Hünenberg war windungsreich: Kelter wuchs im Bistum Trier in Bad Neuenahr-Ahrweiler in einer katholischen Familie auf. Vom Theologiestudium riet man ihm ab. "Mein Pfarrer sagte zu mir: Wenn du nicht Priester wirst, bist du ewig das fünfte Rad in der deutschen katholischen Kirche." Kelter studierte dennoch Theologie, wusste aber, dass ein steiniger Weg vor ihm liegen würde. In seinem Bistum gab es auf 30 Bewerber nur fünf finanzierte Stellen. Anderswo sah es nicht besser aus. Bewerbungsverfahren laufen in Deutschland über das Bistum, nicht wie in der Schweiz über die Pfarrei. Kelter kritisiert dieses System: "In Deutschland verteilt man die Bewerber auf irgendwelche Stellen, ohne dass sie darauf persönlich Einfluss nehmen können." Viele arbeiteten zudem nicht in der Pfarrei, sondern für die Verwaltung eines Dekanats. "Die Seelsorge vor Ort will man wohl lieber den Priestern überlassen."
1998 schloss der Rheinländer sein Theologiestudium ab. Er arbeitete in Schwerin bei der Caritas, dann in Berlin in einem Verband für Familienpolitik. Kelter drängte es jedoch als Seelsorger in eine Pfarrei. Als er sich in den Bistümern Köln, Trier und Berlin als Pastoralassistent bewarb, folgte die Desillusionierung: Entweder verwies man ihn auf einen Praktikumsplatz, oder es fehlte das Geld für eine Stelle. "Ich spürte: Die nehmen uns als Laien-Theologen nicht ernst. Das Kapitel deutsche Kirche war für mich damit abgeschlossen."
Dann kam ihm die zündende Idee: eine Bewerbung in der Schweiz. Seine Kollegen warnten Kelter davor, ins Alpenland zu ziehen: "Damals hieß es: Wer einmal dort ist, erhält in Deutschland nie wieder eine Stelle als Theologe." Die Schweizer Kirche galt unter vielen konservativen deutschen Katholiken als nicht katholisch genug. Der Zwist um den damaligen Churer Bischof Wolfgang Haas sowie der bittere Abgang des Basler Bischofs Hansjörg Vogel wegen Vaterschaft Mitte der neunziger Jahre habe unter deutschen Theologen das Bild einer aufmüpfigen Kirchenbasis geschaffen, so Kelter. Doch unter den fortschrittlichen Laien gilt die Schweiz als interessantes Experimentierfeld, als Traumland, in dem noch vieles möglich ist.
2000 bewarb er sich schließlich in den Bistümern Fribourg und Basel. Schon nach einer Woche erhielt er ein Stellenangebot aus St. Martin im freiburgischen Tafers. Kelter sagte sofort zu und wechselte von der Millionenstadt Berlin in das beschauliche Dorf in der Westschweiz. Ein Kulturschock. Doch als er seine Arbeit aufnahm, staunte er: "Ich machte eine völlig neue Erfahrung, nämlich die, willkommen zu sein." Und da die Finanzen hier nicht von der Diözese verwaltet werden, sondern von der jeweiligen Pfarrei, hatte er nun endlich die Möglichkeiten, etwas zu bewegen. Neu war für ihn etwa, dass er Religionslehrer selbst einstellen und somit auch die Unterrichtsinhalte mitprägen konnte; in der Pfarrei in Hünenberg ist Kelter nun für zehn Religionslehrer verantwortlich.