Fritz nimmt ein eingerahmtes Foto von der Fensterbank und lächelt das Bild seines Vaters an. Auch an den Wänden des Flures zeugen Aufnahmen von der Vergangenheit und Gegenwart seines Hofes, der im oberösterreichischen Mühlviertel steht. Porträts von Großeltern, Eltern, Kindern und Enkelkindern hängen dort, auch ein vergilbtes Blatt Papier. ›Über 200 Jahre Familienbesitz‹ steht in Frakturschrift darauf geschrieben.
Die Landwirte Fritz, 65, und Elisabeth, 56, leben mit 13 Rindern, fünf Schafen und einer Schar Hühner auf 16 Hektar. Bis vor einigen Jahren hielten sie auch Schweine und Wildhühner. Zuletzt verkleinerten sie ihre Landwirtschaft. Fritz, sein Bart und seine Haare sind schon weiß, ging aufgrund eines Arbeitsunfalles vor 15 Jahren in Frühpension. Seitdem ist Elisabeth Betriebsführerin. Sie hat kurze schwarze Haare und tippt Fritz immer auf die Schulter, wenn sie etwas hinzuzufügen hat, ihn jedoch nicht unterbrechen will. In fünf Jahren wird auch sie in den Ruhestand gehen. Wie dann die Zukunft des Hofes aussieht, ist unklar.
Fritz und Elisabeth, die eigentlich anders heißen, weil sie nur ihre Geschichte, nicht aber ihre Namen veröffentlichen möchten, lernten sich vor 25 Jahren über eine Kleinanzeige in den Oberösterreichischen Nachrichten kennen. Elisabeth las die Annonce einer Partnervermittlung, rief dort an und erhielt die Daten von Fritz. Als die beiden sich verliebten, waren die Felder von Fritz’ Hof verpachtet. Elisabeth zog ein, noch bevor der Pachtvertrag auslief. Obwohl sie nicht auf einem Hof aufgewachsen war, wollte sie gemeinsam mit Fritz eine biologische Landwirtschaft gründen. Das war 1999, kurz nach dem EU-Beitritt Österreichs. Damals hörte etwa ein Drittel der Landwirte in ihrer Größe auf, weil durch den großen Binnenmarkt der Wachstumsdruck stieg.
Die landwirtschaftliche Struktur in Österreich hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt. Die Anzahl der Betriebe sank laut Statistik Austria stark, von rund 433.000 im Jahr 1951 auf 166.000 im Jahr 2013. Gleichzeitig stieg die durchschnittliche Flächengröße an: 1999 hatte ein landwirtschaftlicher Betrieb im Schnitt 34,6 Hektar Fläche, 2013 sind es 44,2 Hektar. Ein Grund dafür: Sinkt der Milchpreis, wie es in den vergangenen Jahren immer wieder der Fall war, benötigen die Bauern mehr Milchkühe – und somit mehr Landfläche –, um den gleichen Ertrag zu erwirtschaften. Der Zuschuss an öffentlichen Geldern hängt zudem von der Flächengröße ab: je mehr Hektar, desto mehr Förderung. Diese Umstände erschweren es Klein- und Mittelbetrieben, neben großen Landwirtschaften zu bestehen.
Fritz und Elisabeth machten trotzdem weiter. Sie begannen mit der Rinderzucht. Waldviertler Blondvieh heißt die alte Rasse, bekannt für ihre gute Fleischqualität. Der Betrieb läuft ertragreich. Dennoch scheint es nun, als hätten die Bauern die Schließung ihres seit Generationen bestehenden Hofes nur um eine verzögert: Es gibt keine Erben. Ihre drei Töchter haben sich gegen die Landwirtschaft entschieden. Vor diesem Problem stehen in Österreich viele Landwirte. Laut einer Studie der Bundesanstalt für Agrarwissenschaft ist bei etwa drei Viertel aller landwirtschaftlichen Betriebe ungeklärt, wer die Nachfolge antreten wird. Die Bauern haben weniger Kinder als früher. Und immer mehr Junge entscheiden sich gegen den Familienbetrieb, weil sie andere berufliche Vorstellungen haben. Derzeit werden laut Landwirtschaftsministerium im Schnitt jährlich zirka 3.400 landwirtschaftliche Betriebe aufgelassen, der Großteil davon eben Klein- und Mittelbetriebe.
Dass man selbst die Initiative ergreifen kann, wenn der Nachwuchs einen im Stich lässt, das sahen Fritz und Elisabeth am Hof eines Freundes: Dort lebt seit einigen Jahren ein junges Paar, zwei ehemalige Theologiestudenten, die ihm bei der Bewirtschaftung helfen. Die beiden haben den Hof des Landwirts, den kein Verwandter beerben wollte, vor dessen Pension übernommen. Sie zahlen keine Pacht. Als Fritz und Elisabeth von dieser außerfamiliären Hofübergabe hörten, waren sie angetan. Und begannen wieder Kleinanzeigen zu studieren, diesmal gemeinsam.
Im vergangenen Sommer, an einem Augustnachmittag, las Elisabeth in der Branchenzeitschrift Bio Austria: ›Wir, Stephanie (34, abgeschl. landw. Studium) und Andreas (31, Softwareentwickler), sind ein Ehepaar mit landwirtschaftlicher Praxis auf der Suche nach einem Biobetrieb in Österreich (Pacht/Leibrente). Es ist unser Herzenswunsch, einen Bauernhof im Vollerwerb zu bewirtschaften, um hochwertige Lebensmittel, v.a. Fleisch (Schafe, Ziegen, Geflügel), Gemüse, Obst und Honig, zu erzeugen.‹
Andreas und Stephanie, die eigentlich anders heißen, lebten die vergangenen Jahre in einer kleinen Altbauwohnung in Wien. Beide waren nicht auf einem Bauernhof aufgewachsen. Andreas, großgewachsen, dunkles Haar und Brille, ist Softwareentwickler. Stephanie, die ihr Haar zu einem Zopf trägt und immer zu lächeln scheint, träumte schon als Kind davon, mit Tieren und Pflanzen zu arbeiten. Sie studierte Landwirtschaft an der Universität für Bodenkultur in Wien. Während ihres Studiums erkannte sie nach und nach, wie schwierig es sein würde, ihren Traum zu verwirklichen. Wie sollte sie zu einem Hof kommen? Erben würde sie keinen. Sie entschied sich für die Wissenschaft und begann neben dem Studium an einem Forschungsinstitut zu arbeiten.
Auf einer Gemüsetagung wurde ihr bewusst, dass sie den falschen Beruf gewählt hatte. Dort kommen Wissenschaftler und Landwirte zusammen, um sich über die Innovationen der Lebensmittelproduktion auszutauschen. Stephanie wollte nicht diejenige sein, die mit ihrem Klemmbrett neben dem Acker steht und die Form der Gemüsesorten bewertet. Sie wollte selbst ernten, Schafe scheren. Und mit dem Traktor das Feld pflügen. Sie wollte Bäuerin sein. An jenem Abend, an dem sie von der Tagung nach Hause kam, eröffnete sie Andreas ihren Plan. Der war sofort dabei.
Die Bauern hatten Bedenken, dass die Neuen romantische Vorstellungen vom Leben als Landwirte mitbringen würden.
Ein Jahr lang schalteten Andreas und Stephanie Annoncen in Fachzeitschriften und telefonierten mit Bauern, die eventuell ihren Hof abgeben wollten. Die beiden besitzen kein Auto, statteten dennoch jedem Hof, der es in die engere Auswahl geschafft hatte, einen Besuch ab. Oft fuhren sie stundenlang in Zügen und Bussen. In einigen Fällen war schon nach der Begrüßung klar, dass die Chemie nicht stimmte. Einmal erklärte ihnen ein Hofbesitzer, wie die Arbeitsteilung am Hof auszusehen hatte: Der Mann im Stall, die Frau am Herd. Wenn sie in den Stall gehe, dann höchstens, um den Kälbern frisches Heu zu geben. Als Stephanie begann, den Stall auszumisten, und Andreas die Kälber fütterte, wurde das Paar vom Hofbesitzer ermahnt: ›So geht des ned!‹ In dem abgelegenen Dorf kam der Bus nur zwei Mal pro Tag. Die Zeit bis zur Abfahrt verbrachten sie schweigend. Nach diesem Vorfall beschlossen sie, für den nächsten Hofbesuch ein Auto zu mieten, damit sie jederzeit die Heimfahrt antreten konnten. So taten sie es auch vor ihrem ersten Besuch im Mühlviertel, bei Fritz und Elisabeth.
Die Bauern hatten unterdessen Bedenken, dass die Neuen romantische Vorstellungen vom Leben als Landwirte mitbringen würden. Denn auch bei Minusgraden muss der Stall ausgemistet werden. Und meist duftet es dabei nicht nach Heu. In den vergangenen Jahren haben sich die Bedingungen für Bauern weiter verschlechtert. Die Lebensmittelpreise sind instabil, Förderungen werden gekürzt, extreme Wetterphänomene wie Dürre oder Überschwemmungen erschweren die Produktion. Wer von der Landwirtschaft leben will, braucht nicht nur Leidenschaft, sondern auch Durchhaltevermögen. Das waren die Gedanken, die Fritz und Elisabeth durch den Kopf gingen, als sie vor einem Jahr auf Stephanie und Andreas warteten.
Den ganzen Nachmittag saßen sie gemeinsam auf der Terrasse, aßen Rinderbraten vom selbstgeschlagenen Vieh und redeten über die Zukunft. Diesmal stimmte die Chemie: Im Februar 2017 zogen die Jungbauern am Hof ein, in die zweite Wohnung, in der früher Fritz’ Eltern gelebt hatten. Ein Jahr, so die Idee, bleiben sie auf Probe.
Ein paar Monate sind nun vergangen. Die Wohnungen sind durch einen Innenhof voneinander getrennt, doch sitzen die Paare oft zusammen und reden. Seit ihrem Einzug bauen Stephanie und Andreas Gemüse auf einem kleinen Acker an. Bei Fragen helfen Fritz und Elisabeth, die Verantwortung liegt jedoch bei den Jungbauern. Die Paare brechen mit einer Tradition: Sie führen einen Familienbetrieb und sind gar nicht miteinander verwandt.
Noch ist hierzulande ein Großteil der landwirtschaftlichen Betriebe über mehrere Generationen hinweg im Besitz derselben Familie. Die Familienmitglieder wissen, welches Brett am Heuboden morsch ist und wo sich die Katze versteckt, um ihre Jungen zu werfen. Dieses Wissen wird von Generation zu Generation weitergegeben, auch Grundstück, Haus und Vieh. Bis Ende des 19. Jahrhunderts war es aber durchaus auch üblich, Höfe innerhalb der Dorfgemeinschaft zu verkaufen, zu verpachten oder gar zu verschenken. ›Erst in der Zwischenkriegszeit, 1929, führt der Bauernbund das goldene Ehrenbuch der Bauernschaft Niederösterreich ein‹, erklärt Ernst Langthaler, Professor für Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte an der Johannes-Kepler-Universität. Es war die konservativ-politische Antwort auf den Wandel einer Agrar- hin zu einer Industriegesellschaft. In Oberösterreich werden sogenannte Erbhöfe sogar ausgezeichnet. Die Urkunde hängt bei Fritz und Elisabeth an der Wand. Sollte der Hof allerdings außerfamiliär weitergegeben werden, wird der Titel aberkannt.
Eine außerfamiliäre Übergabe kann auf verschiedene Arten geregelt werden. Eine Möglichkeit ist der Verkauf. Ein Hof im Mühlviertel wie der von Fritz und Elisabeth würde zwischen 500.000 und einer Million Euro kosten, schätzen Immobilienkenner. Abhängig von Kriterien wie Standort, Bodenbeschaffenheit und Sanierungsbedarf kann der Preis stark variieren. Für Quereinsteiger wie Stephanie und Andreas ist der Preis nur eine der Hürden. Der Ankauf landwirtschaftlicher Nutzflächen muss zudem in den meisten Bundesländern entsprechend dem Grundverkehrsgesetz genehmigt werden. Dabei können ortsansässige Landwirte gegen den Verkauf Einspruch erheben, womit sich gerade Nicht-Bauern immer wieder konfrontiert sehen. Ein gängigeres Modell ist daher die Leib- oder Zeitrente. Alt- und Jungbauern vereinbaren vor der Übergabe eine Summe, die nicht dem tatsächlichen Wert des Hofes entspricht. Jedoch wird vertraglich festgehalten, dass der Käufer bis zum Tode des Verkäufers – oder einem anderen Zeitpunkt – eine monatliche Summe überweisen muss. Seltener wird der Hof auch ohne kapitale Vergütung übergeben, also verschenkt.
Ob Fritz und Elisabeth ihren Hof an das Jungbauernpaar auf Leibrente übergeben oder verschenken werden, wissen sie noch nicht. ›Was, wenn sie euch rausschmeißen und alles verkaufen?‹ oder ›Was vererbt ihr euren Kindern?‹ sind die Fragen, die ihnen gestellt werden, wenn sie Freunden von ihrer Idee erzählen. ›Ja, es ist ein Risiko, aber wir werden es eingehen‹, antworten Fritz und Elisabeth dann. Sie suchen jemanden, mit dem sie ihr Leben und die Arbeit am Hof teilen können.
Andreas hilft bei kleinen Reparaturen im Haus; dafür hat Elisabeth angekündigt, dass sie auf die Kinder des Jungbauernpaares aufpassen will, wenn es so weit ist. Nur Wotan ist für Stephanie noch ein Hindernis: Steht der Stier mit den massiven Hörnern nahe am Gatter, traut sie sich nicht auf die Weide. An die großen Tiere müsse sie sich erst gewöhnen, sagt sie. Kurz nach dem Einzug von Andreas und Stephanie mussten Fritz und Elisabeth für ein paar Tage wegfahren. Sie überließen den Jungbauern die Verantwortung für den Hof – obwohl die Geburt eines Kalbs bevorstand. Als die beiden in den Stall kamen, um nach der trächtigen Kuh zu sehen, lag das Neugeborene schon daneben.
Elisabeth und Fritz berichten befreundeten Bauern von den Vorzügen ihres neuen Arrangements, wie ihnen einst der Landwirt von seiner WG-Landwirtschaft mit den Theologiestudenten erzählte. Vor allem jene, deren Hofnachfolge ungeklärt ist, hören genau zu.
›Die meisten Landwirte machen sich viel zu spät Gedanken darüber, was nach ihrem Pensionsantritt mit dem Hof passieren soll‹, sagt David Jelinek von Via Campesina Austria, der österreichischen Vereinigung für die Klein- und Bergbauern. Er ist ebenfalls Quereinsteiger; auf der Online-Kleinanzeigenplattform willhaben.at kaufte er vor vier Jahren eine alte Mühle mit ein paar Hektar Land im Burgenland. Für ihn war damals klar, wenn er in die Branche einsteigt, dann würde er sich auch politisch für kleinbäuerliche Landwirtschaft engagieren.
Seitdem ist er bei Via Campesina aktiv und arbeitet gemeinsam mit Isabella Lang vom Verein Netzwerk Existenzgründung Landwirtschaft am Aufbau einer Hofbörse, die Suchende und Bietende miteinander vernetzen soll – vergleichbar einer Partnerbörse, die Inserate wie das von Andreas und Stephanie für Interessierte beider Seiten sammelt. Sie wollen die Idee der außerfamiliären Hofübergabe unter den österreichischen Landwirten verbreiten, erzählen die Initiatoren. Viele Landwirte seien sich dieser Möglichkeit nicht bewusst. ›In Frankreich wird den Landwirten zum fünfzigsten Geburtstag ein Brief vom Ministerium geschickt‹, sagt Jelinek. ›Darin werden sie höflich darauf hingewiesen, sich über die Nachfolge Gedanken zu machen.‹ In Österreich wird erst dann Unterstützung angeboten, wenn die Nachfolge bereits geklärt ist.
Eine dieser Unterstützungen ist ein Kurs für Hofübergabe, den das ländliche Fortbildungsinstitut der Landwirtschaftskammer organisiert. Er dauert für Alt- und Jungbauern je drei Tage und soll rechtliche, finanzielle und vor allem soziale Fragen behandeln. Die beiden Ehepaare besuchten ihn im Frühjahr. Sie waren die einzigen dort, denen eine außerfamiliäre Übergabe bevorstand – und merkten, dass sie einen Vorsprung hatten: Die Frage, die unter den anderen Teilnehmern am häufigsten auftauchte, war, wie man die Eltern am besten davon überzeugt, den Hof zu übergeben.
Viele klagten über Familienstreitigkeiten, die sachliche Gespräche schwierig machten, und unterschiedliche Vorstellungen, wie der Betrieb weitergeführt werden soll. Am Hof im Mühlviertel ist vieles schon geregelt: Noch sind Fritz und Elisabeth für die Bewirtschaftung des Hofes verantwortlich, Stephanie und Andreas suchen Teilzeit-Jobs außerhalb der Landwirtschaft. Nach dem Probejahr, so der Plan, sollen die Jungbauern Schritt für Schritt ihre Stunden am externen Arbeitsplatz wieder reduzieren, um schließlich Vollzeit am Hof zu arbeiten.
Fritz stellt das Foto seines Vaters auf die Fensterbank. ›Das letzte Hemd hat keine Taschen‹, sagt er. Vor seinem Tod will er deshalb dafür sorgen, dass seine Landwirtschaft bestehen bleibt. Den eigenen Kindern hat er das Erbe bereits ausbezahlt. Während er davon erzählt, schaut er aus dem Fenster. Auf der Wiese, die die Wohnung der Jung- von der der Altbauern trennt, spielen Fritz’ Enkelkinder. Vorhin haben sie sich hinter dem Scheunentor verschanzt und es immer wieder auf- und zugemacht; nun schließt es nicht richtig. Das kommt öfter vor. Mit einem Handgriff ist der Schaden normalerweise behoben; wie das geht, weiß eigentlich nur Fritz. ›Ich mach das schon‹, sagt Andreas und legt seine Hand auf Fritz’ Schulter. Mittlerweile kennt Andreas den Trick auch.