Valerie von Kittlitz

Freie Journalistin und Dokumentarfilmerin, Berlin

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Weeds are flowers, too...: Unkraut als Spiegel unserer Toleranz

Es ist ein Montagmorgen, kurz nach sieben Uhr früh. Die Julisonne ist gerade über den Baumwipfeln des Gartens einer Rentnerin erschienen. Erstmal den Wochenbeginn mit einer tatkräftigen Säuberungsaktion begrüßen, denkt die sich. Dem Unkraut soll es an den Kragen gehen; kurz entschlossen wird der Gasbrenner gezückt. Und dann geschieht es: die Flammen wollen sich nicht recht entzünden, statt dem unerwünschten Grünzeug geradewegs den Garaus zu machen, züngeln sie am Flaschenhals hoch. Der textile Mantel des Schlauchs fängt Feuer, die Frau wirft den Behälter panisch zu Boden. Die Flammen breiten sich aus. Sie greift nach einem Haufen Mähgras; hofft, das Malheur damit zu ersticken. Es hilft nix: am Ende muss die Feuerwehr ran.

Solche kuriosen Fälle machen nicht nur lokale Schlagzeilen im Sommerloch 2018. Es hat sie immer wieder gegeben, auch 2017, auch im letzten Jahrzehnt, im letzten Jahrhundert. Denn die Jätkultur ist so alt, wie es unser Kontrollbedürfnis ist. Die meisten stört Unkraut dabei ästhetisch: das Bild des angelegten Gartens soll keine Pflanze brechen, die nicht bewusst eingeplant wurde. Un-kraut, es gilt als nutzlos und vor allem hässlich. Es steht für ein Unterteilungsprinzip, für eine Art von Wahrnehmung, die binäre Grenzen zieht. Are you in or out?

Urbaner Begleitwuchs, still und omnipräsent

Wer nach einer wissenschaftlichen Definition von Unkraut sucht, wird nicht fündig werden. Das macht schonmal stutzig: eigentlich gibt es Unkraut also gar nicht. Im botanischen Verständnis hat jede Pflanze ihr Wirkungsgefüge: sie bietet Lebensraum und Nahrung für Insekten, Vögel und Bodenorganismen. Botaniker sprechen daher von „Beikraut", „Begleitwuchs" oder "Wildkraut".

Der Durchschnittskenner hinterfragt nicht unbedingt, sondern folgt der sprachlich hergebrachten Wahrnehmung. Krut, woher sich Kraut ableitet, kommt vom Althochdeutschen und heißt „nutzbares Gewächs". „Unkraut", steht enstprechend im Duden, ist die „Gesamtheit von Pflanzen, die zwischen angebauten Pflanzen wild wachsen [und deren Entwicklung behindern]". In eckigen Klammern versteckt sich, worum es vor allem geht: Unkraut wird als Störfaktor in einem System von Wertzuordnungen eingestuft, dessen Urheber der technokratische Mensch ist.

Profitbringend, ertragreich, kultiviert. Das gewinnt gegen das, was vom Winde getragen und frei verwurzelt ist. In der industriellen Landwirtschaft findet diese Unterscheidung ihre Extreme. Hier stellt Wildwuchs im Streit um Nährstoffe, um Licht und um Wasser, eine Konkurrenz zu dem dar, was wir als Nutzpflanzen ziehen. Der Lösungsansatz im Agrarbau zeigt sich entsprechend radikal. Fast 40% der deutschen Ackerflächen werden mit „Roundup" bespritzt, dem glyphosathaltigen Breitbandherbizid, das Monsanto in den 1970er Jahren auf den Markt gebracht hatte. Nicht nur der Verdacht, krebserregend zu sein, macht es zum Gegenstand politischer Debatten. Auch der Umstand, dass es alles pflanzliche Leben vernichtet, das nicht gentechnisch mit Resistenzen ausgestattet ist, wird diskutiert. Die ewigweiten Flächen steriler Monokultur, die hieraus resultieren, bergen ein eigenes Risiko - einmal doch von einem Schädling befallen, ist ihr gesamter Ernteertrag futsch.

Mit der großflächigen Vernichtung von Wildkraut wird aber vor allem zerstört, was bei der Gestaltung der zeitgenössischen Agrarwirtschaft maßgeblich ins Gewicht fallen sollte: ein ökologisches Gefüge, das Lebensraum bietet. Denn im Ackerstreifen, am Wegrand und zwischen Steinplatten, finden sich Pollen, Schatten, Feuchtigkeit und Unterschlupf, vor allem für Insekten. Deren Schwund ist spürbar: man erinnere sich an Sommerfahrten auf der nächtlichen Autobahn, nach denen die Windschutzscheiben flügel- und sekretverkrustet waren. Was damals als irgendwie eklig erschien, gruselt uns heute als Verlustphänomen. Der Krefelder Entomologische Verein hat die wissenschaftlichen Ergebnisse dazu publiziert, im Herbst vergangenen Jahres wurden sie in einer breiten Öffentlichkeit heftig diskutiert. Und noch im Juli rief der Landesbund für Vogelschutz die Deutschen zur zweiten Aktionswoche einer landesweiten Insektenzählung in diesem Jahr auf. Man ist besorgt.

Gift, Gas, Gruseleffekt. Nicht nur großindustrielle Agrarflächen unterstehen dem Anspruch der Effizienz. Glyphosat wird auch im städtischen Raum eingesetzt. Die Unkrautvernichtung, sie fungiert global, bis in den Kleingarten hinein. Der ästhetische Anspruch sorgsamer Gartenpflege ist nicht nur Fürsorge, sondern auch Herrschaft. „Wer die Ordnung liebt, kann sie herstellen", formuliert es die Wissenschaftlerin für Freiraumpolitik, Dr. Bettina Oppermann, in ihrem Essay 'Gärtnern: kontrollierte Leidenschaft und leidenschaftliche Kontrolle'.

Solch einem Kontrollbedürfnis unterstehen nun nicht nur Pflanzen, die nutzlos erscheinen mögen; es betrifft auch unser Miteinander. Mit dieser Tatsache spielt die aktuelle Manifesta in Palermo, deren Titel „A Planetary Garden: Cultivating Coexistance" eine Referenz an den Philosophen Gilles Clements ist. In seinem Buch „Le Jardin Planetaire" verweist er auf den Ursprung des Wortes Garten als geschlossenem Raum. "In einem Garten gibt es nichts Fremdes", schreibt er sinngemäß. Die gesamte Manifesta befasst sich mit Unkraut als Metapher, als Sinnbild für die Koexistenz von Fremdem - und Fremden. Palermo, ihr Veranstaltungsort, ist eine Stadt, deren Geschichte von Jahrtausenden der Migration geprägt ist. Just zu Beginn der Ausstellung Anfang Juni sperrte Italiens Innenminister Matteo Salvini die Landeshäfen für Boote, die Migranten transportieren. Die Diciotti - von allen Orten durfte sie prompt in Sizilien anlaufen - bleibt eine Außnahme. "Unkraut" steht im Kontext der Manifesta für alle, die vom Winde verweht erscheinen mögen, weil sie weite Strecken der Anreise hinter sich gebracht haben. Die Wurzeln schlagen möchten. Die - eingewandert oder nicht - vielleicht nicht uneingeschränkt, oder unverzüglich, zum Ideal von wirtschaftlichem Wachstum beitragen.

Wenn man die Ontologie des Unkrauts zurückverfolgt, dreht sich das belastete Bild auf wunderbare Weise um. Ob nützlich oder nicht, ist nämlich tatsächlich eine relative, ja willkürliche Entscheidung. Das zeigt sich am Beispiel von Roggen, Hafer, Linsen, Erbsen, Amarant, oder Buchweizen. Alle diese Pflanzen galten erstaunlicherweise einst als Unkräuter - und wurden irgendwann zu beliebten Lebensmitteln. Sie zählen zu den Archäo- oder Neophyten, jenen Pflanzen, die nicht ursprünglich in Mitteleuropa heimisch waren, sondern als Wanderbegleiter des Ackerbaus, oder im Schiffsbauch von Entdeckern wie Columbus, hierher fanden.

Strahlend präsentieren sich diese Wildkräuter den Fotografen Dorothea Tuch und Jürgen Fehrmann, die sie 2016 für das HAU in Berlin porträtieren durften

"Un-kräuter" sind also nicht anders, sie sind eines: nämlich Teil einer Pflanzenwelt, der es an Vielfalt nicht mangelt. Unsere Wahrnehmung bestimmt ihr Dasein. A.A. Milne sagte es so: Weeds are flowers, too - once you get to know them. Begleitwuchs zeigt uns vor allem, in welchem Verhältnis wir zu unserer Umwelt stehen. Nimmt man den städtischen Raum, so ist sein Wert nicht zu unterschätzen: er reguliert den Luft- und Wasserhaushalt des meist großflächig betonierten Bodens, weil Fugenvegetation das tiefe Versickern von Niederschlag in den Pflasterritzen ermöglicht. Er gilt aber als ästhetischer Störfaktor, weil sein Anblick uns daran erinnert, dass der kostenintensive Erhalt unserer zeitgenössischen, praktischen Lebensräume, der Rückeroberung durch die Natur ständig ausgeliefert ist. Die Angst vor dem Unbekannten wird genährt von dem alten Albtraum, überwuchert zu werden und zu ersticken. Unser Freiheitsraum scheint bedroht. Und dieser Angst entspringt oben beschriebenes Struktur-, ja, Kontrollbedürfnis.

Dabei ist das teils tief in uns verankert, und insofern zu verstehen. Jeder Kultur liegt ein Strukturierungsbedürfnis zugrunde. „Landschaft," schreibt der britische Sozialanthropologe Tim Ingold sinngemäß, „ist nicht ‚Natur', noch ist sie 'Land', noch 'Raum'. Sie ist vielmehr ein Verzeichnis - und Zeugnis - des Lebens und Werkens der Generationen derer, die sie bewohnt haben." Geben und Nehmen, Zähmen und gezähmt werden, bestimmt die Ökologie seit Jahrtausenden. Im Sinne des Konzepts der Manifesta steht jedoch die Frage im Raum, wie wir die Balance zwischen diesen Gegensätzen halten. Angst ist Teil des Seins. Das aggressive Prinzip gehört zum Leben dazu, in der Pflanzenwelt wie unter Menschen. Wir aber haben die Fähigkeit, es zu erkennen. Und Landschaft als das zu interpretieren, was sie ist: als den Ausdruck unseres Inneren, den wir also als Lesart nutzen können, um unsere Einstellungen zu hinterfragen. Wir können uns frei für Toleranz, vor allem für Offenheit und Vielfalt entscheiden. Denn Vielfalt ist schön.

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