In etwa 40 Minuten sollte alles fertig sein. Das perfekte Make-up für den mittelgroßen Auftritt muss sitzen. Ein Blick in die Visagistenschule von Beni Durrer, wo Make-up-Artists lernen, zu jedem Anlass ein Highlight zu kreieren.
Sechs angehende Make-up-Artists scharen sich um mich. Sehen mir ins Gesicht, in dem großen Spiegel vor mir. Und auch ich schaue fasziniert hin, wie ich mich in den vergangenen 60 Minuten verwandelt habe. Von der von Tag und Beruf leicht abgehetzten 50-Jährigen in eine glamouröse Schönheit. Präziser gesagt: Ich wurde verwandelt. Von Lena Braun, die mich als Model im Rahmen ihrer Ausbildung zur Make-up-Artistin in der Visagistenschule von Beni Durrer unter Pinsel, Bürstchen und Farbe hatte. Nun habe ich die braunrote „Elisabeth" auf den Lippen, „Champagner", „Organza", „Mokka" und „Tiramisu" auf den Lidern. Dazu ein kühl-roséfarbenes „Sexy" auf den Wangen - das Abend-Make-up sitzt.
„Die Farben harmonieren sehr gut mit dem Gesicht und der Brille. Die Lippen haben Sie perfekt hinbekommen", lobt Dozentin Annika Jeck „meine" Visagistin Lena Braun. „Hätte Ihr Model nun ein Shooting, wäre das so richtig gut für den Fotografen." Lippenkonturen sind ein großes Thema. „Einen halben Millimeter Abweichung sieht eine Kundin nicht", sagt die Dozentin. „Aber Sie erleichtern dem Fotografen seine Arbeit, wenn er kein Retouching am Monitor mehr vornehmen muss." Annika Jeck weiß als erfahrene Visagistin, die häufig im Profi-Bereich für Schauen und Shootings schminkt, um die Tücken und Kniffe.
Reinigung, Grundierung, Rouge, Augen, Mund. So ist die Abfolge. Die angehenden Visagisten müssen aus 164 Farben in pudrig oder cremig, aus mehr als 50 Nuancen von Foundations, Concealern und Pudern wählen. 45 Minuten haben sie Zeit. Lena Braun hat auf ihrem Smartphone-Display das Bild eines Models, an dem sie sich orientieren will. Die Überraschung liegt auf beiden Seiten: Sie weiß nicht, wen sie während dieser dreieinhalb Stundenauf dem Stuhl hat; wir Laien-Models wissen nicht, welche Looks an uns ausprobiert werden.
Erst kommt Reinigungsmilch, dann ein Hydrofluid auf die Haut. Ich fühle mich wie eine frisch vorbereitete Leinwand. „Wenn jemand raue Lippen hat, dann geben Sie bitte eine ordentliche Portion ‚Knutsch' darauf!", ruft Annika Jeck in die Runde. Großes Lachen - die Pflege für schmeichelweiche Lippen trägt einen dieser sprechenden Namen, die sich Visagist und Schulgründer Beni Durrer vor 15 Jahren als Charakteristikum seiner Produkte ausgedacht hat. Die Foundation mit HDTV-Make-up ist rasch aufgetragen. Lena Braun blendet mit Concealer die Schatten unter meinen Augen aus. „Sie können ruhig Gelb und Rosé mischen", merkt Annika Jeck an. Ein Hauch vom kühl-roséfarbenen „Sexy" hebt meine Wangen hervor.
Annika Jeck geht von Platz zu Platz, gibt Tipps, korrigiert. Sie ist auch die Herrin des Smartphone-Weckers, der den Make-up-Artists vom ersten Tag ihrer Ausbildung an ein realistisches Zeitgefühl vermittelt. In 40 Minuten muss bei der Prüfung solch ein Make-up für den mittelgroßen dramatischen Auftritt sitzen. Schließlich sollen die Kundinnen später nicht bereits ermattet zum Abendtermin, zum Auftritt auf dem roten Teppich oder zur eigenen Hochzeit kommen.
Beim Augen-Make-up wählt Lena Braun für mich die „Banane": „Das kaschiert hängende Lider besser." Die Realität wird schonungslos benannt, um sogleich aufhellend weggezaubert zu werden. Sie zieht einen dunkleren Halbkreis am knöchernen Bogen am Oberlid. Es wird „gepattert", klopfend aufgetupft, und schattiert. In drei Farben aufgehellt und abgedunkelt. Sekt, Kaffee und Dessert verrichten in Farbenform ihr verschönerndes Werk. Das Kreisen, Streichen und Linien-Ziehen fühlt sich sanft und energisch zugleich an. Ich lerne: Glänzende Farben tun meinen Augen gut, öffnen sie optisch und verhindern, dass die Kurzsichtigen-Brille zu viel Farbe schluckt. Die Brauen werden nur oben nachgezogen. Sie sollen natürlich wirken und für den glamourösen Hallo-Wach-Look am Abend nicht aufs Gesicht drücken.
Der Nachmittag ist unerwarteterweise sehr entspannend - ich darf abschalten und mich einfach hübsch machen lassen. Lena Braun hat es mit mir besonders anspruchsvoll getroffen. Ich will alles wissen und notieren und sie muss, schon in der ersten Woche ihrer Ausbildung, bei voller Konzentration aufs Make-up ständig parallel mit mir sprechen. „Ich schminke jetzt das erste Mal andere Menschen", sagt die 23-Jährige, die wegen der siebenwöchigen Vollzeit-Ausbildung bei Beni Durrer ein Urlaubssemester in ihrem Studium eingelegt hat. Sie will die bislang nur privat ausgelebte Leidenschaft für Make-up nun mit fundiertem Wissen, Üben, Üben, Üben und Prüfungen auf eine professionelle Basis stellen. Die private Ausbildung zum Make-up-Artist kostet in der Visagistenschule knapp 8.600 Euro. Aber auch ich kann als Laie unter professioneller Anleitung lernen - 90 Minuten Einzelberatung und Selbermachen kosten 120 Euro. Lena Brauns Freude daran, mich schöner aussehen zu lassen, mir eine Begegnung mit einem anderen Look und einem „anderen Ich" zu ermöglichen, ist deutlich spürbar. Ich soll keine Kopie der Online-Vorlage werden, sondern meinem Typ entsprechend schöner in den Abend gehen - mit frischerem Teint, wacheren Augen, vollen Lippen und ordentlichem Glam-Faktor.
Der Smartphone-Wecker schrillt. Aber der Mund ist noch ungeschminkt. Wie bei beinah allen Models. Dozentin Annika Jeck hat das einkalkuliert und gibt eine Viertelstunde zu. Lena Braun zieht die Konturen in dunklem Rot nach und trägt mit einem Lippenpinsel Strich für Strich „Elisabeth" in Braunrot auf. Jetzt passt auch die Zeit; beim zweiten Signal sind wir fertig. Der kleine Auswertungsrundgang zeigt: Die Interpretationsmöglichkeiten des Themas sind unendlich. Es gibt schwarze Smokey Eyes beim Herrenmodel, Schneewittchen-Look bei meiner brünetten Nachbarin und ein warmtoniges, golden-braunes Make-up bei mir.
„Kommen Sie für ein Foto mit vor die graue Wand?", fragt Lena Braun. „Bitte die Augen schließen", lautet die ungewohnte Anweisung für die Dokumentation auf dem Smartphone. Ich öffne die Augen wieder, werfe einen letzten Blick in den Spiegel und verabschiede mich beglückt und beschwingt von Lena Braun. Und beschließe wiederzukommen und mich erneut im Zufallsmodus verwandeln zu lassen. Aber jetzt heißt es erst einmal: Hallo roter Teppich, hallo Barhocker, wo seid ihr? Der Abend kann kommen und meine für so viel neue Schönheit eigens getroffene Verabredung auch.