In Raderberg sind ein Kindergarten und ein Seniorenheim Nachbarn. Freitags musiziert der 96-jährige Heinz Herkrath mit 30 Pänz - Pfleger Kosta, 21 Jahre alt, übt nebenan mit den Alten im Morgenkreis fangen und rechnen.
Von Uli Kreikebaum (Text) und Michael Bause (Bilder)
Auf einem Sofa lehnen Teddybären; ein rosa Heft mit Kinderliedern liegt auf dem Tisch. Heinz Herkrath (96) sitzt in Hemd und Weste am Klavier. Leise spielt er seine Lieder. Im Morgenkreis steht Bälle fangen auf dem Programm. Der Frühsport heißt im Senioren- und Pflegezentrum am Vorgebirgspark Sturzprophylaxe.
Pflegeassistent Kosta ist 21. Er trägt T-Shirt und Turnschuhe. Am Wochenende geht er gern auf die Kölner Ringe. Wenn er davon erzählt, wundern die alten Menschen sich. Kosta sagt: „Die kennen das nicht, dass junge Leute jedes Wochenende feiern." Die Alten erzählen ihm vom Krieg. Dass sie ein einziges Hemd und eine Hose jahrelang getragen haben. Dass sie fringsen gegangen sind: Kohlen klauen. „Das war eine andere Welt", sagt Kosta.
Freitag, 10.30 Uhr. Lachend steht der junge Mann im Kreis und wirft den Alten einen Schaumstoffwürfel zu. Die Senioren fangen, dann werfen sie den Würfel auf den Boden und addieren die Zahlen. Kosta lobt, wenn sie richtig gerechnet haben. Als eine Frau aufsteht, um mit Tippelschritten Richtung Toilette zu wandern, nimmt der Junge sie an den Händen. Die Frau lächelt. „Ich liebe meine Arbeit, weil die Menschen sich so freuen. Sie brauchen Hilfe und ich kann helfen", sagt Kosta.
Während Kosta noch mit den Senioren spielt, fährt Heinz Herkrath mit seinem Rollstuhl zum Kindergarten nebenan. Begleitet wird er von Marlies Kreuzer (60), die seit vier Jahren ehrenamtlich mit Kindern singt. In der Marktstraße musiziert sie seit zwei Jahren jeden Freitag. Bis zum Frühjahr mit Otti, einer über 80-jährigen Musikpädagogin. Als Otti starb, übernahm Herkrath den Part.
Im Turnraum sitzen quiekende Pänz. Zur Begrüßung fassen sich Junge und Alte an den Händen. Der 96-jährige Herkrath sitzt neben dem dreijährigen Ole und zwinkert ihm zu. Ole guckt zu Herkrath auf, als der Nikolauslieder auf einem E-Piano spielt. Am Ende singen sie: „Jetzt nehmen wir wieder Abschied, es war heut' wieder schön."
Ole gibt Herkrath, der zwei Enkel und fünf Urenkel hat, zum Abschied Fünf. Ihre Hände klatschen ineinander. Kosta tätschelt zeitgleich im Seniorenheim die Alten, die einen Ball fangen. Als Heinz Herkrath 21 war, musste er in den Krieg. 1939 war das. „Ich hatte das Glück, als Musiker auf den Bühnen an der Front spielen zu dürfen." Als seine Kumpels an die feindlichen Linien in Frankreich mussten, durfte er in einer Kaserne musizieren. „90 Prozent der Freunde starben."
Kosta hängt sehr am Leben, das er leuchtend vor sich sieht. Er liebt seinen Beruf und seine Freunde und hat viele Pläne. Freundin, irgendwann Familie. Als er vor sechs Jahren im Seniorenheim an der Marktstraße anfing und das erst Mal sah, wie ein Mensch starb, „habe ich so geweint, dass ich nicht wusste, ob ich die Arbeit weitermachen kann". Bis heute nimmt ihn der Tod eines Bewohners stark mit. „Für mich ist das einfach nicht zu begreifen."
Heinz Herkrath hat den Tod akzeptiert. So viele fielen im Krieg. Am Tag, als er 1958 bei einer Supermarkteröffnung spielte, starb sein Vater. Inzwischen sind alle Freunde, seine Frau und auch sein Sohn lange tot. Nur ein Enkelkind kommt ihn besuchen. Herkrath hängt nicht mehr so am Leben. Es gibt für ihn nichts mehr zu erreichen. Er braucht einen Rollator, die Beine schmerzen. Die Welt ist für ihn ein Friedhof: „Sterben ist unser Schicksal. Wenn wir tot sind, ist es vorbei. Aber die Vögel werden weiter singen und die Menschen weiter Musik machen."
Er findet es erleichternd, dass „die Zeit uns alle gleich hobelt". Kosta schaut freudig nach vorn. Herkrath schaut gern auf sein Leben als Musiker zurück. Er sagt: „Der Ruhm, nach dem man als junger Mensch strebt, ist Schall und Rauch." Der alte Mann, der in Zollstock aufgewachsen ist und den Vorgebirgspark aus der Zeit kennt, als hier noch Kleingärten angesiedelt waren, hängt nur noch an der Musik. „Wenn ich spiele, träume ich. Ich lasse mich treiben, drifte in die Jugend, und komme erst zurück, wenn ich Lust habe." Selbstvergessen, wie ein Kind.
Als Herkrath und Kreuzer den Kindergarten verlassen, parkt vor dem Altenheim der Rettungsdienst. Eine Sanitäterin mit Wiederbelebungsmaschine geht rein. Heinz Herkrath sagt: „Egal ob Königin, wir Alten oder Kinder: irgendwann sind wir alle weg." Er findet das beruhigend. Kosta nicht.