Heinz Buschkowsky hat schon lange die Nase gestrichen voll. Deswegen liefert der mittlerweile prominente Bezirksbürgermeister des Berliner Problembeziks Neukölln gerne steile Thesen und politisch unkorrekte Antworten, wenn es um sein Lieblingsthema, die (misslungene) Integration in seiner "Neuköllner Welt", geht.
"Schulterzuckende Gleichgültigkeit"Der gern geladene TV-Gast hat nun alle seine Besorgnisse und Eindrücke der letzten elf Jahre, in denen er als Bürgermeister waltete, in ein Buch verpackt; 400 Seiten stark, ohne ein Blatt vor dem Mund - so wie man ihn eben schon seit Jahren von seinen öffentlichen Auftritten kennt. "Der Islam nimmt bei der Integration keine fördernde Rolle ein. Er stärkt eher das Verharren in tradierten Verhaltensmustern", erklärt er an einer Stelle. "Zugegeben, die vorstehenden Zeilen sind arg zugespitzt, und zwar deshalb, weil ich als Verantwortlicher, jahrelang "schulterzuckende Gleichgültigkeit erleben musste", schreibt er an einer anderen. Buschkowskys Buch "Neukölln ist überall" ist vor allem eine Ansage gegen die bisher erlebte Tatenlosigkeit.
Heinz Buschkowsky bei Anne Will
IntegrationsdebatteWas aber der, laut Buchdeckel, "bekannteste Bürgermeister Deutschlands", beklagt, ist auf den ersten Blick für die Integrationsdebatte nicht neu: "Familien, die seit Generationen von Hartz IV leben, Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern, Jugendliche ohne Zukunftsperspektive, Parallelgesellschaften, Gewalt und Kriminalität."
Wahrheit tut wehWas wirklich neu ist, ist der besonders praxisnahe Zugang: Es sind die Erfahrungen, die er als Bürgermeister im Schmelztiegel der Kulturen im letzten Jahrzehnt gemacht hat. Dabei fokussiert er sich vor allem auf die unschönen und negativen Beispiele, die "andere Seite der Medaille", wenngleich ihm klar sei, dass es "unzählige, gelungene Integrationen" gibt, wie er oft genug betont.
Und trotzdem: "Die Wahrheit tut weh, und jeder möchte Schmerzen vermeiden. (...) Die Politik bevorzugt eine schläfrige und eher träge Betrachtungsweise von Themen." Dieser Leitgedanke zieht sich durch das gesamte Buch hindurch; mal nachdenklich und kühl analysiert, mal hart und bissig. Hart etwa dann, wenn es um manche türkischstämmige Migranten in Neukölln geht, die, seiner Ansicht nach, den Integrationsgedanken negieren.
Keine Annäherung an deutsche WerteDenn neben den zahlreichen anpassungsfähigen Zuwanderern würden auch Integrationsverweigerer von Anatolien aus nach Deutschland kommen, ohne ein bisschen Respekt für ihren neuen Lebensmittelpunkt zu entwickeln; sie würden ihre eigene Welt aufbauen und kaum Kontakte zu Deutschen pflegen. Vor allem aber würden deutsche Sozialleistungen verhindern, dass sozialer Aufstieg zum Leitgedanken wird, fügt Buschkowsky hinzu.
Hierzu liefert der gebürtige Neuköllner Zahlen: Seine Stadt hat 315.600 Einwohner, davon 128.300 mit Migrationshintergrund; diese stammen aus 150 Herkunftsländern. Insgesamt 92.000 aller Menschen beziehen in Neukölln "Transferleistungen", wie Arbeitslosengeld, Krankengeld oder Kindergeld.
"Ebenfalls unbestritten ist, dass es auch Menschen gibt, die unser System ausnutzen wollen. (...) Solche Versuche gehören bestraft", schreibt Buschkowsky weiter. Im Buch geht es ihm oftmals um Regeln, Zugeständnisse und Verpflichtungen gegenüber der deutschen Gesellschaft, vermutlich auch deshalb, weil er, als einfaches Neuköllner Arbeiterkind, im Leben nichts geschenkt bekommen hat, sich aber stets an die Regeln hielt, wie er ausführlich beschreibt. Der Autor plädiert für Hilfestellungen für den sozialen Aufstieg, "dort wo sie nötig sind", unter Umständen "aber auch mit Druck."
Scharfe AnschuldigungenSchuld daran, dass Integration in Berlin falsch gelaufen sei, habe ein "Kartell aus ideologischen Linkspolitikern, Gutmenschen, Allesverstehern, vom Beschützersyndrom Geschädigten und Demokratieerfindern", die jeden kritischen Gedanken blockieren würden, so Buschkowsky. Eine deutliche Ansage an Integrationspolitiker und auch an die eigene Partei, Richtung Berliner Stadtregierung und ihrem SPD-Oberbürgermeister Klaus Wowereit. Dort seien politische Fehlentscheidungen getroffen worden, die er nicht verhindern konnte, die aber dazu führten, dass Wohnviertel - vor allem in Nord-Neukölln - zu geschlossenen Gesellschaften verkämen, in der Kriminalität und Tatenlosigkeit vorherrschen würden. Ganz zu Schweigen von Vandalismus, Beleidigungen und Tätigkeiten an Neuköllner Schulen, wie Buschkowsky im Buch weiters unterstreicht.
Im Norden der Stadt sollen von 7.200 Schülern 6.300 Migrationshintergrund haben; diese Konzentration sei ein Hindernis für den geregelten Unterricht. Dann spitzt er wieder zu: "Die einzigen Repräsentanten der deutschen Gesellschaft sind häufig nur noch die Lehrer." Um Ordnung zu erreichen, hält Buschkowsky Ganztagsschulen, eine Kindergartenpflicht und Sanktionen bereits bei kleineren Verstößen für hilfreich.
Kinder weg vom MillieuDie Neuköllner Schüler nimmt Buschkowsky explizit in Schutz: "Die Kinder hier bei uns werden nicht dümmer geboren, als irgendwo anders in der Stadt, sie müssen aus dem "Millieu geholt werden", empfielt der SPD-Bürgermeister hierzu. Ginge es nach ihm, sollte mehr Geld in Bildung investiert werden - auch für Betreuer und Wachpersonal an den Schulen. Die "verlorene Schicht" dürfe nicht so leichtfertig aufgegeben werden, "größere Anstrengungen" wären von Nöten, um diese Menschen auszubilden, "egal, wie schwierig und teuer das wird", betont Buschkowsky.
Sarrazin gegen BuschkowskyEin ganzes Kapitel widmet er dem ehemaligen Berliner-Finanzsenator und ebenfalls bekannten Buchautor Thilo Sarrazin. Der "Blick zur Differenzierung an vielen Stellen" fehle in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab". Sarrazin hingegen hat sich mittlerweile über Buschkowskys "Neukölln ist überall" anerkennend geäußert und bescheinigt dem Werk, eine "Bereicherung des Buchmarktes und der Debatte" zu sein.
Nicht überall, aber RealitätNeukölln ist wahrlich nicht überall, und von Wien weit entfernt, trotzdem zeigt die Situation in diesem Berliner Bezirk jetzt schon, wo es in anderen Ballungszentren bald Handlungsbedarf geben kann. Zeitweise ist der Autor von Radikalität und Populismus getrieben. Dass er sich auch selbst gerne als der, der unangenehme Wahrheiten ausspricht, medial in Szene setzt, darf ebenfalls nicht unerwähnt bleiben.
Gleichzeitig bietet "Neukölln ist überall" einen ehrlichen Einblick und bringt bestehende Probleme unmissverständlich zur Sprache. Buschkowsky differenziert, ohne dabei in fremdenfeindliche Verallgemeinerungen zu verfallen, wie es einst SPD-Parteikollege Sarrazin tat. Vor diesem Hintergrund ist das Buch eine bereichernde politische Analyse: Es macht zu Recht auf eine andere, abseits der Erfolgsgeschichten womöglich gar wichtigere Schlagseite des heutigen Einwanderungslandes Deutschland aufmerksam. (Toumaj Khakpour, 22.11.2012, daStandard.at)