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Viele Architekten haben von Kitas keine Ahnung

Im grünen Bereich: Für die MAN-Betriebskita in München-Karlsfeld entwarfen die Architekten die Möbel gleich mit - Foto: Arthur Wolfrum / Girnghuber Wolfrum

Foto: Arthur Wolfrum / Girnghuber Wolfrum

Es ist kurz nach 9 Uhr. Die 17 Kinder der Ein­­stein-Gruppe ver­sam­meln sich mit ihren Er­zie­he­rin­nen auf dem blauen Teppich zum Mor­gen­kreis. Nach der Begrüßung zählt die Gruppe auf Englisch durch, ob alle da sind, und bespricht den Ta­ges­ab­lauf. In der bi­lin­gua­len Kita "Be Smart Academy" in Ber­­lin-Mitte gehört das zum Mor­gen­ri­tual. Heute steht der For­scher­gar­ten auf dem Programm - Thema: Schne­cken. Neben Studien am lebenden Objekt haben sie im Kunst­be­reich der Kita die Tiere auch gemalt.

Moderne Kin­der­gar­ten­päd­ago­gik ist mehr als nur Be­schäf­ti­gungs­the­ra­pie, das wird hier klar. Denn Kin­der­gär­ten - ob städtisch oder privat, kon­ven­tio­nell oder re­formpäd­ago­gisch - sind heute keine Be­treu­ungs­ein­rich­tun­gen mehr. Vielmehr sind sie Teil des Bil­dungs­sys­tems und stellen andere Ansprüche an Erzieher, Konzepte und Räume als das frühere kurz­wei­lige Bespaßen. Ins­be­son­de­re, wenn man den Raum in der früh­kind­li­chen Bildung neben Erziehern und Kindern als dritten Be­stand­teil begreift.

Es reicht nicht, das Konzept zu ändern. Vielmehr bedarf es auch einer räum­li­chen Ver­än­de­rung. Wobei in Häusern für Kinder weder Design als äs­the­ti­sches Phänomen benötigt wird noch Styling à la "Schöner wohnen". Gefragt sind in­spi­rie­rende Lern­land­schaf­ten, die sen­so­ri­sche und soziale Er­fah­run­gen er­mög­li­chen. Kinder sollen hier Lust am Handeln, Gestalten und Aus­pro­bie­ren bekommen, ohne in ihrer Fantasie und Per­sön­lich­keit eingeengt zu werden.

Platz für wettergeschütztes Spielen

Klingt aka­de­misch, hat aber Hand und Fuß, wie die Praxis zeigt. So bietet etwa in Landsberg am Lech eine denk­mal­ge­schützte Reithalle von 1913 den Rahmen für einen Kin­der­gar­ten­neu­bau im Inneren. Hier wurde ein Haus im Haus wie ein Mö­bel­stück in die Halle gestellt, es bietet in drei Grup­pen­räu­men Platz für 75 Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren.

Um viel Ta­ges­licht ins Innere zu lassen, wurden die Fenster der Halle bis auf So­ckel­höhe her­un­ter­ge­zo­gen und entlang des Hal­len­firsts eine groß­zü­gige Ver­gla­sung ein­ge­baut.

Da der ei­gent­li­che Kin­der­gar­ten­bau als zwei­stö­ckige blaue Holzbox mit Terrasse auf die nördliche Hal­len­flä­che be­schränkt ist, bietet der Rest viel Platz für wet­ter­ge­schütz­tes Spielen unter der his­to­ri­schen Dach­kon­struk­tion, inklusive einer Klet­ter­wand mit Bo­den­mat­ten und reichlich Aus­stel­lungs­flä­che an den Wänden für die Kunst­werke der Kinder. Ein Garten mit Spiel­platz, Ba­lan­cier­par­cours und zahl­rei­chen Kirsch- und Ap­fel­bäu­men, der durch einen ver­glas­ten Zugang auf der Südseite der Halle zu erreichen ist, rundet das Ensemble ab.

"Das Haus passt zum Konzept des Kin­der­gar­tens mit al­ters­ho­mo­ge­nen Gruppen und wö­chent­li­chem Turn- und Be­we­gungs­tag", sagt Bettina Rühm, Autorin des Buchs "Kin­der­gär­ten, Krippen, Horte - Neue Ar­chi­tek­tur, aktuelle Kon­zep­te". Überhaupt sei es ent­schei­dend, dass sich die Ar­chi­tek­tur am Konzept einer Kin­der­ta­ges­stätte ori­en­tie­re.

Variable Funktionalität der Räume

"An­de­rer­seits ist auch Fle­xi­bi­li­tät gefragt", sagt sie. "Wenn eine Ein­rich­tung nicht grund­sätz­lich nach einem be­stimm­ten Konzept - ge­schlos­sene oder offene Grup­pen­ar­beit, al­ters­ho­mo­gene oder gemischte Gruppen und so weiter - arbeitet, muss die Ar­chi­tek­tur flexibel gestaltet sein und Ver­än­de­run­gen zu­las­sen." Die Funk­tio­na­li­tät der Räume muss variabel bleiben. Wobei der Grundriss immer klar struk­tu­riert und über­sicht­lich gestaltet sein sollte.

Ein schönes Beispiel dafür ist das evan­ge­li­sche Kin­der­haus "Arche Noah" im schwä­bi­schen Deizisau. Der als Ellipse geplante Baukörper aus Holz bietet reichlich Platz und eine klare Glie­de­rung. Das ist auch nötig, denn das Konzept des Kin­der­gar­tens beruht auf hoher Selbst­stän­dig­keit der 84 Kinder, die sich ihre Ak­ti­vi­tä­ten selbst aus­su­chen. Dafür bewegen sie sich frei im Haus und pendeln zwischen den Räumen. Viel Ta­ges­licht und reichlich Be­we­gungs­flä­che bilden hier den Rahmen. "Durch die Be­schrän­kung auf wenige Ma­te­ria­lien und ruhige Farben sowie durch die ge­run­de­ten Wände finden die Kinder hier eine Oase der Ge­bor­gen­heit", so Rühm.

Ähnlich ist das auch im städ­ti­schen Kin­der­gar­ten in der Fürs­ten­ber­ger Straße im Berliner Stadtteil Prenz­lauer Berg, das ebenfalls nach dem offenen Konzept arbeitet. "Das Besondere ist der große gefasste Au­ßen­be­reich, unter dem sich die Geo­ther­mie­an­lage für das Haus ver­birg­t", erklärt Architekt Wolfgang Schöning, der mit seinem Team den Kin­der­gar­ten 2011 umgebaut und mit einem Neubau erweitert hat. Jetzt haben hier 180 Kinder im Alter von zwei Monaten bis sechs Jahren Platz zum Ent­de­cken, Toben, Ver­ste­cken, Essen und Schlafen.

"Durch die Augen der Kinder"

Als Vater hat Schöning selbst Erfahrung mit zu dunklen Sa­ni­tär­be­rei­chen, zu kleinen Gar­de­ro­ben und fehlenden Ab­stell­mög­lich­kei­ten für Kin­der­wa­gen und Fahrräder ge­sam­melt, bevor er die Planung für diesen Umbau über­nom­men hat. "Für uns war wichtig, die Dinge nicht nur aus der Per­spek­tive der Eltern und Erzieher zu sehen, sondern auch durch die Augen der Kinder", sagt er.

Spannend sei zu be­ob­ach­ten, wie sie die Räume im neuen Haus für sich erobern und ge­stal­ten, wie sie die Flächen vor den rah­men­lo­sen Fens­ter­fron­ten zu Ku­sche­le­cken machen oder die drei Spiel­ter­ras­sen nutzen. Besonders beliebt sei das Kin­der­re­stau­rant, das bei Bedarf mit einer großen Schie­be­tür ab­ge­trennt werden kann. Außerhalb der Es­sens­zei­ten wird es von den älteren Kindern gern als Rück­zugs­ort zum Malen und Basteln genutzt. "Unter den Bullau­gen­fens­tern ist es einfach ge­müt­lich", so Schöning.

Neben ge­stal­te­ri­schen Elementen wie Holz­po­des­ten als erhöhte Spie­le­be­nen oder grünen und weißen Türen, um die Kin­­der- und Er­wach­se­nen­be­rei­che zu kenn­zeich­nen, seien bauliche Maßnahmen wie Akus­tik­de­cken zur Lärm­min­de­rung und Zwi­schen­tü­ren zum Zu­sam­men­schal­ten von Räumen ent­schei­dend. "Wichtig ist auch der außen liegende Son­nen­schutz, damit die Räume nicht zu warm werden, sowie die über­dachte Au­ßen­spiel­flä­che für ver­reg­nete und sehr heiße Tage", erklärt Schöning, der bei der Planung darauf geachtet hat, dass viel Ta­ges­licht ins Haus fällt, aber auch dunklere Bereiche bleiben, wo sich die Kinder zu­rück­zie­hen können.

Foto: Arthur Wolfrum / Girnghuber Wolfrum

Unbehandeltes Holz ist wunderbar

Gerade die Wahl der Ma­te­ria­lien sei neben einem klaren, flexiblen Grundriss ent­schei­dend, erläutert Bettina Rühm. "Un­be­han­del­tes Holz ist wun­der­bar, aber auch Beton hat seinen Reiz, ins­be­son­dere im Kontrast zu Holz. Es fühlt sich anders und in­ter­essant an, hat andere Ei­gen­schaf­ten und riecht anders. Glaswände dagegen geben wenig Ge­bor­gen­heit."

Manchmal sei Glas aber auch sinnvoll, etwa neben oder in Türen, damit man sehen kann, ob jemand hinter der Tür steht, bevor man sie öffnet, oder um Ta­ges­licht in bestimmte In­nen­be­rei­che zu lenken. Und farblich gesehen seien neutrale Räume und Flächen besser als ein kun­ter­bun­tes, wildes Durch­ein­an­der, das den Kindern wenig Platz für die eigene Vor­stel­lungs­kraft und Krea­ti­vi­tät lässt. "Kinder brauchen auch keine Per­fek­tion", meint Rühm. "Oft sind es gerade un­kon­ven­tio­nelle oder un­per­fekte Lösungen, die gut sind."

Gerade sinnvolle Über­gän­ge, vor allem zwischen In­­­nen- und Au­ßen­be­reich, sind aber für die Be­wäl­ti­gung des Kita-All­­tags ent­schei­dend, wie jeder weiß, der schon mal durch einen ver­matsch­ten Eingang ge­trip­pelt ist. Insofern sind Matsch­schleu­sen für schmut­zige Gum­mis­tie­fel oder eine Stie­fel­du­sche am Gar­ten­ein­gang, wie im Kin­der­gar­ten in der Fürs­ten­ber­ger Straße, wichtiger als ein großes Foyer. Wobei es auch sehr kreative Varianten gibt, die viel­leicht weniger prak­tisch, aber dafür eine Be­rei­che­rung für die kind­li­chen Sinne sind.

Beispiele für Inspiration

"Nicht selten sind gerade in der Kin­der­gar­ten­ar­chi­tek­tur kreative Lösungen er­for­der­lich", so Rühm, die sich weit über 30 Kin­der­häu­ser im deutsch­spra­chi­gen Raum angesehen hat, um gute Beispiele zu finden, die als In­spi­ra­tion dienen können. "Geld ist leider ent­schei­den­d", resümiert sie. "Ist genug da, wird auch ent­spre­chend in Kin­der­gär­ten in­ves­tiert, so wie in den neuen Bun­des­län­dern. Während anderswo, wo das Geld knapp ist, häufig auf Mi­ni­mal­lö­sun­gen gesetzt wird."

In diesem Kontext ist das Thema Kin­der­gar­ten­ar­chi­tek­tur ein brisantes Feld. Zumal in Deutsch­land immer noch über 130.000 Kin­­der­­gar­ten- und Krip­pen­plätze fehlen.

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