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Heute darf auch Ikea neben Rokoko stehen

Stuhlensemble, bunt gemixt: Der Trend geht zum Individualismus

Foto: Getty Images

Wer demnächst mal wieder eine größere Gästeschar zum Essen empfängt, kann sich entspannt zurücklehnen. Zumindest was die Ausstattung mit dem passenden Mobiliar angeht. Es spielt nämlich keine Rolle mehr, ob genügend Stühle der gleichen Sorte bereitstehen. Im Gegenteil.

Wer noch verzweifelt versucht, einen Esstisch mit acht identisch bespannten Sitzgelegenheiten zu umrahmen, befindet sich gedanklich im Gestern. Spätestens seit der Möbelmesse in Köln ist klar: Es regiert der Superindividualismus. Man plant die Innenausstattung nicht mehr, sondern man nimmt, was kommt.

Ganz nach dem Vorbild einer persönlichen Erlebnis-Chronik in einem sozialen Netzwerk kommt irgendwann beispielsweise ein schräger Rokoko-Sessel ins Haus, später eine chinesische Kommode, in die man sich auf dem Antiquitätenmarkt verliebt hat. Schließlich noch eine unbequeme, aber hypermoderne Drahtkonstruktion aus dem Designerladen. Es gilt, die persönliche Möbel-Chronik herauszustellen, nicht zu verstecken.

Egal ob klassizistisch, barock, minimalistisch oder gemixt, ob im Stil Friedrichs II., des Art déco oder nach dem Vorbild von Andrée Putman - wer sein Zuhause einrichtet, soll und muss Authentizität versprühen. Individualismus ist daher auch einer der stärksten Wohntrends.

Für jedes Familienmitglied ein eigener Stil

Das bestätigen sogar diejenigen, die tendenziell eher darunter leiden, wenn die Wohnzimmereinrichtung nicht en gros bestellt wird: "Man sieht das zum Beispiel sehr gut im Ess-Sesselbereich", sagt Ursula Geismann, Trendexpertin des Verbands der Deutschen Möbelindustrie. "Früher hat man für den Esstisch vier Stühle aus einem Wurf gekauft.

Und heute kauft man vier verschiedene, weil man für jedes Familienmitglied, für jeden Gast etwas Besonderes, etwas Individuelles haben will. Da entsteht dann ein schöner, bunter Mix."

Ganz neu ist dieser Trend allerdings nicht. Die Giganten des Designs haben es schon im vergangenen Jahrhundert vorgemacht - und könnten nun erneut Inspiration für die individualisierte Boheme sein. Seiner Zeit voraus war beispielsweise der Hollywood-Designer Tony Duquette, der sein Haus in Beverly Hills 1949 mit Fantasiebildern "voller Leben, Farbe, Charakter und Dramatik" füllte, wie es Dominic Bradbury in seinem Bildband "Interior, Design, Stil. 100 Legendäre Einrichtungen des 20. und 21. Jahrhunderts" beschreibt.

Gesamtkunstwerk des opulenten Maximalismus

Duquette kombinierte unmögliche Gegenstände, Farben und Stilrichtungen miteinander und schuf damit einen einzigartigen edelen Stil. "Duquette konnte zum Beispiel ganz geschickt einen selbst entworfenen Reliefparavent mit Sonnenmotiven aus Radkappen neben ein unbezahlbares altes Stück stellen", so Bradbury über den begnadeten Bühnenbildner und Setdesigner. Das Ergebnis ist ein unnachahmliches Gesamtkunstwerk des opulenten Maximalismus.

Individuell und der Philosophie der Integration folgend ist auch das Jugendstilhaus von Robert Venturi und Denise Scott Brown, wo man von originellen Elementen wie einem großen Willkommensschild von McDonald's empfangen wird. Getreu ihrem Motto "Weniger ist langweilig" haben Venturi und Scott Brown "eine Fülle von architektonischen und kulturellen Einflüssen in ihrem Werk aufgenommen", erklärt Bradbury.

"Lichtreklamen treffen auf Jugendstilmöbel, Kunstwerke von Andy Warhol und Ed Ruscha sind mit modellhaften Las-Vegas-Schildern in Plexiglasboxen kombiniert. Das Haus ist angefüllt mit ganz persönlichen Sammlungen, mit Kuriositäten und Erinnerungsstücken von tausend Reisen." Unter anderem stammen die acht pink Esszimmerstühle aus dem ehemaligen "Traymore Hotel", ebenso wie das im typischen Hoteldesign gestreifte Sofa im Wohnzimmer.

Sammlungen vor weißen Wänden

Wesentlich weniger verspielt, aber keineswegs weniger individuell ist das New Yorker Loftapartment von Vincent Wolf. Die weißen Wände und Böden dienen dabei als Präsentationsfläche für die Möbel-, Fotografie- und Kunstsammlung des Designers. Immer wieder ergänzt er das Gesamtkunstwerk mit Objekten, die er von seinen Reisen mitbringt. Immer wieder stellt er um und rückt andere Stücke in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

"Es gibt immer Dinge, die kommen und gehen", zitiert ihn Dominic Bradbury. "Es gibt immer ein neues Lieblingsstück, in das ich mich verliebe, und bei meiner nächsten Reise ist es dann ein anderes." Auch wenn er immer wieder Epochen, Farben und Formen mischt, das Ergebnis ist ein modernes Ambiente, das einen zeitlosen, globalen Stil repräsentiert.

Genau diese globale Mischung mit einem Hauch Romantik ist laut Ursula Geismann ein aktueller Megatrend im Wohndesign. Als Kontrast zur kühlen Arbeitswelt und der Virtualität des Internets wünsche man sich für sein Zuhause "Gemütlichkeit, harmonische Formen und Farben und wohnliche Accessoires", wobei Gegenstände bewusst ausgewählt und "authentisch inszeniert" werden. Im Global-Mix entstehen dann neue urbane Wohnwelten, in denen Einrichtungsideen und Möbel aus allen Kulturen kombiniert werden, ohne klare Rückschlüsse auf Zeit und Ort zuzulassen. Erlaubt ist, was gefällt.

Gemälde unter der Zimmerdecke

Die US-amerikanische Künstlerin und Designerin Ray Eames hätte an dieser Idee ihre Freude gehabt. Liebte sie es doch, handgeschnitzte Dschungelwesen neben Kachina-Puppen der Hopi-Indianer und traditionellen Spielzeugkreisel zu platzieren. Sie scheute sich auch nicht, ein Zimmer wie einen japanischen Meditationsraum mit Reismatten und Kissen auf dem Fußboden einzurichten oder Gemälde unter die Zimmerdecke zu hängen.

Das Eames House war geprägt von einem lebendigen, individuellen, globalen Mix mit hohem Wohnkomfort, in dem die Enkelkinder im Wohnzimmer schaukeln durften. Gemeinsam mit ihrem Mann hatte sie ab 1941 von Kalifornien aus den Stil und die Funktionalität von Architektur, Möbeln, Filmen, Fotografie, Spielzeug, Textilien und Kunst umgekrempelt und neu definiert. Sie setzten neue Materialien, Formen und Techniken ein und machten sich vor allem mit innovativen Entwürfen in der Architektur und im Möbeldesign einen Namen.

Zu Ehren ihres 100. Geburtstags widmet das California Museum in Sacramento noch bis zum 23. Februar Ray Eames eine umfassende Ausstellung mit 100 wenig bekannten Stücken aus ihrer frühen Schaffensperiode, also bevor sie Charles kennenlernte.

Ein Mondrian mit Blick ins Grüne

Eine Chance, die 1912 in Sacramento geborene Künstlerin und Designerin neu zu entdecken und anzuknüpfen an die ersten Schritte des Individualismus im Möbeldesign. Darunter moderne Klassiker wie der Esszimmerstuhl DCM, die Plastic Chairs und vor allem der Eames Lounge Chair, der auch im Eames House im kalifornischen Pacific Palisades steht.

Das Haus, das die Eames gemeinsam entwarfen und ab Weihnachten 1949 bewohnten, ist eine schlichte Glas-Stahl-Konstruktion mit Wohnbereich und Atelier. Hohe Decken und großzügige Fensterfronten lassen es leicht und elegant aussehen. Ein bisschen wirkt es aufgrund seiner farbigen Paneele wie ein Mondrian-Gemälde mit Blick ins Grüne.

Wobei die Natur ein Stoßdämpfer für die Arbeit war, wie Charles es ausdrückte. Aber es ist mehr als ein Architektenhaus. Bis heute gilt das Eames House als Inkubator für den Indoor-Outdoor-Lebensstil, der typisch ist für Los Angeles und der nach und nach um die Welt schwappte. Filmemacher Daniel Ostroff nennt es ungeniert die wichtigste Innovation seit dem Tipi.

Keine Spur von Minimalismus

Im Inneren dominiert ein Mix aus Prototypen der berühmten Eames-Möbel, bunten Teppichen und Decken, Kunstwerken und Dingen, die die beiden von ihren vielen Reisen mitgebracht haben. In den meterhohen Bücherregalen im Wohnzimmer findet man unzählige kleine Spielzeuge und Artefakte aus aller Welt.

Von Minimalismus keine Spur. Vielmehr zeigt sich hier Ray und Charles Eames' Verständnis für das menschliche Bedürfnis, Dinge zu sammeln und zu horten. Ein lebendiger, leichter Stil, der 1949 genauso modern war wie heute.

Wie weit man auch in die Vergangenheit zurücklangen darf, zeigt Barbara Stoeltie in ihrem bei DVA erschienen Band "Die Kunst der Inneneinrichtung - Legendäre Interieurs aus vier Jahrhunderten". Darin wird das Haus des Amerikaners Dennis Severs vorgestellt. Er kam 1967 nach London und drehte hier die Zeit ins 18. Jahrhundert zurück, komplett mit zeitgenössischen Bettlaken im Kerzenschein. Angesichts des oft gleichlautenden Innovationsfiebers in der Nachbarschaft lässt sich festhalten: Individueller geht es kaum.

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