Erstens: Zeit spielt in Victoria die Hauptrolle. Der Film, der nach eigenen Angaben komplett auf Schnitte verzichtet, präsentiert sich uns als eine Zeit-Einheit: Erzählzeit = erzählte Zeit. Das Ergebnis ist das Erlebnis: Alles, was die Neuberliner Spanierin Victoria auf ihrem Party-Morgen mit dem Kiez-Kollegen Sonne und seiner Jungs-Clique erlebt - das Labern, den Bullshit, am Ende das Verbrechen -, erleben auch wir.
Verliebt in Berlin - die Berlinwerdung.
Das ist zunächst zauberhaft, denn in dem Erlebnis dieses frühen Morgens geht es um das Sich-Verlieben: den ersten, scheinbar banalen Blick, die feixenden ersten Sätze, die erste Umarmung. Wir, Zuschauerinnen und Zeugen, dürfen die existenzielle Erkenntnis der Liebe miterleben: Wie sehr beginnt mit der Begegnung fremder Menschen auch ein neues Leben! - Authentizität bekommt diese illusionäre Ansicht durch den Vertrag zwischen Zeuginnen (= Zuschauer) und Film: Dass davor, also vor der Begegnung, vor dem Film also, tatsächlich nichts gewesen ist. Nichts Lebensveränderndes.
Dieses Prinzip Leben in seiner Raum-Zeit-Einheit potenziert sich mit dem Prinzip Berlin, diesem Berührungspunkt der europäischen Talente, Schönheiten, (Start-Up-)Unternehmer - alles hochinteressante, charakterstarke und fantastisch ausbeutbare Potenziale, die immer schon hier schlummerten, die in den vergangenen 30 Jahren Stadtgeschichte nur lernen mussten, diese babylonischen Sprachmauern zu überwinden, einander hörbar zu machen, begreifbar, greifbar zu machen - einander zu finden, zu verbinden, (zu vernetzen). Berlin hat sich von einem Sehnsuchts-Ort, (also einem Ort, an dem die Sehnsucht am liebsten wohnte) zu einer Stadt des Werdens gewandelt, der Selbst-Werdung, oder besser: Berlin-Werdung. So der hegelianisch kokettierende Stadtmarketing-Slogan: Be Berlin!
Wie viel bleibt von einem Rausch-Morgen?
Auch wenn der Film dieses Prinzip des Neustarts durch dessen permanente Wiederholung geradezu karikiert - zumal jede Handlungswendung im Prinzip eine neue Version vom Leben entwirft, und vollzieht. Selbst die - Achtung Spoiler! - um ihre angeschossene Liebe ihres Lebens trauernde Victoria fasst sich am Schluss ja dann doch noch ein Herz und verlässt den sterbenden Gefährten mit der Beute, entschwindet ebenso schnell, wie sie sich da - sehr aktiv - in den Strudel an Gefühlen und traumatischen Ereignissen hineinmanövriert hat. Sie wankt - etwas verkatert - von dieser hoch-explosiven After Hour nach Hause, so als habe sie ein etwas aus dem Ruder gelaufenes Drogenexperiment überstanden. Wie sehr die 2 Stunden 20 ihr restliches Leben tatsächlich bestimmen werden, bleibt offen.
Dennoch bleibt die postpubertäre Wahrheit: 2 Stunden 20 sind ein kleines Leben - und seine Darstellerinnen sorgen in der improvisierten Garnitur aus den Nichtigkeiten ihres Partytaumels für ihre eigene Authentizität: So ein Gruppen-Dasein im Suff hat seine Redundanzen, seine Nichtigkeitsschleifen, seine blanke Banalität, die uns alle interessanterweise miteinander vertraut macht, als verbänden uns Jahre. So geht Leben.
Der Schleier der Angst.
Und so glaubhaft erscheint es uns: Milieu, Farbe, Tempo - alles stimmt hier auf eine sehr organische Weise. Die Marathon-Kamerafahrt sorgt für eine krasse Nähe, die uns weniger zu Zuschauerinnen als vielmehr zu Komplizen des Geschehens macht, - ein Trick, der wiederum die wenigen Ungereimtheiten der Erzählung kaschiert, - etwa die Taxi-Driver-Sehnsucht des Regisseurs in der Tiefgaragen-Szene, in der die jungen ihre Gangstertaufe erleben. Denn auch wenn das Gewehr im Arm des Leibwächters seltsam nach GTA 5 in Berlin-Mitte riecht - wir nehmen es alles hinter einem Schleier wahr, dem Schleier der Windschutzscheibe, hinter dem man zusammen mit den jungen Helden wartet, den Schleier der Gemeinschaft von Freundinnen, die sich danach - jawohl - als Kollektiv immer stärker in die Fatalität des Schicksals hineinverstrickt; nicht zuletzt hinter dem Schleier der Angst.
Ähnlich wie ein Teil der Gruppe sind wir so nah am Erleben, an unserem Erleben, an uns selbst in unserem schwitzenden Mitfiebern, - und damit so fern von all dem, was irgendwie hinter all dem da draußen, jenseits des Schleiers stecken könnte. Die Amnesie der unmittelbaren Gegenwart wirkt auch in uns - und verhindert das Trauma. Der Film zelebriert die Vergänglichkeit, und setzt uns selbst in all ihrer Verheißung, Enttäuschung - und am Ende ihrer Banalität aus. Kein Film hat je so ehrlich die Metropole Berlin und seinen eigenen Authentizitäts-Pathos in Szene gesetzt: Be Berlin. Sei Sonne, sei Victoria - bis zum Morgengrauen.
Victoria überrascht als deutscher Film, da er dadurch eine im deutschen Kino extrem rare Größe erreicht: Größe durch Radikalität. Dass er in einem Take gedreht wurde, mag wie eine filmerische Mutprobe erscheinen - und wird zurecht als eine solche verkauft und gepriesen (auf der Berlinale gab es den Preis für die beste Kamera). Doch mehr als ein technisches Gadget erfasst die über zweistündige Kamerafahrt das, was manche Zeitgeist nennen: Der Film beschreibt die Vergänglichkeit der Subjektivität. Werden und Vergehen. Nichts an uns ist für die Ewigkeit.
Volksfilm Victoria.
Was einen Film, zweitens, ebenfalls groß macht, ist seine soziale Resonanzkraft. Die besitzen zumeist nur noch französische Gesellschaftskomödien, die es seit den Asterix-Filmen auf clevere - Ziemlich beste Freunde - oder ziemlich bescheuerte Weise - Monsieur Claude und seine Töchter - immer wieder schaffen, alle ins Kino zu bekommen. Allein die Zusammensetzung des Publikums bei der Vorführung von Victoria in der Münchner Innenstadt wiederspiegelt die Milieus, die dort auf der Leinwand zusammenprallen: Etwas prollige, aber eigentlich vernünftige Kiez-Jugendliche treffen auf Bürgerstochter aus dem Süden: Studentinnen treffen auf Skater-Kids. Und es wäre nicht so, dass der Film diesen Spalt ignorieren würde, er schafft nur ein Szenario der außeralltäglichen Wirklichkeit: eine Rauschnacht, eine einsame Fremde, natürlich auch ein bisschen Gangster-Pathos - da geht so etwas, da werden soziale Distanzen überbrückbar. Nicht zuletzt geben sich schließlich alle dem Gefühl hin, diesem Geist der Nacht, jede steuert hier das Geschehen, das vom Bullshit in die Todesfalle führt - auch die Piano-Studentin Victoria macht da mit, nicht nur die Vollidioten aus dem Kiez.
Damit erschafft der Film nicht nur eine paradiesische Illusion des Vorsozialen, sondern auch eine milieu-übergreifende Identifikations-Kraft. Allein quantitativ wird sich diese Größe messen lassen.
Drittens: höchstwahrscheinlich auch international. Berlin ist Europa.
Tobi Krone, 17. Juni 2015