Tina Hoffmann

Freie Texterin und Journalistin, Berlin

1 Abo und 0 Abonnenten
Artikel

Berliner Mauertour: Ein Gastbeitrag von Tina Hoffmann

Kurz vor 10 Uhr finde ich mich in der Kulturbrauerei bei Berlin on Bike ein. Obwohl es schon November ist, herrscht hier unerwartet großer Trubel. Etliche Fahrrad-Führungen scheinen gleich zu starten. Guide Martin sammelt sein Trüppchen aus 10 Personen etwas abseits und wir starten unsere Berliner Mauertour mit einer kleinen Vorstellungsrunde. Außer mir sind alle aus Süddeutschland angereist, wo gerade noch Herbstferien sind.

Leben im Prenzlauer Berg

Wir verlassen die Kulturbrauerei Richtung Zionskirche und passieren noble Straßen, zwischen deren stuckverzierten Häusern bunte Wimpelketten gespannt sind. Angekommen an dem Gotteshaus bietet sich ein anderes Bild. Die hier um 1900 entstandenen Mietskasernen waren schlicht, mit mehreren Hinterhöfen und bestenfalls einer Gemeinschaftstoilette. Zu DDR-Zeiten hausten hier Outlaws, Rebellen, Punks und Systemgegner. Viele von ihnen hatten sich am 17. Oktober 1987 zu einem Konzert der Rockband „Element of Crime" in der Zionskirche eingefunden. Dabei kam es zu einem gewaltsamen Überfall durch Skinheads - die Polizei allerdings griff nicht ein, sperrte die Straßen und statuierte an ihren unliebsamen Mitbürgern aus dem Prenzlberg ein Exempel.

Mit dem damaligen Milieu hat die Gegend heute nur noch wenig gemeinsam. Stichwort Schwabylon, Spätzle-Attentat oder Bionade-Biedermeier. Martin, einer der wenigen in Berlin geborenen Bewohner, erzählt, dass sie kurz vor Weihnachten den Abreisenden immer eine gute Fahrt nach Böblingen wünschen. Echt jetzt? Warum denn ausgerechnet Böblingen? Er schaut mich an: „Wo kommst du eigentlich her?" Verdammt, aber was soll's: „Aus dem Kreis Böblingen". Für ein Schwaben-Outing mitten im Prenzlauer Berg war das tatsächlich mal lustig.

Weiter zur Gedenkstätte Berliner Mauer

Unser erster Mauer-Stopp führt uns in die Strelitzer Straße 55, wo eine Gedenktafel an einen hier endenden Tunnel erinnert. Durch diesen gelang im Oktober 1964 57 Kindern, Frauen und Männern die Flucht in den Westen. Der dabei getötete Grenzsoldat wurde vom Regime als Held gefeiert. Tatsächlich starb Egon Schultz aber durch Friendly Fire, eine der Führungsriege bekannte Tatsache, die unter den Teppich gekehrt wurde.

Auf unserer Zeitreise zeigt Martin uns noch das vielleicht berühmteste Foto zum Thema Flucht - der „Sprung in die Freiheit" von Conrad Schumann ging 1961 um die Welt. Das Bild von dem Grenzsoldaten, der über den Stacheldraht springt, stand für mich bisher immer auch tatsächlich genau dafür: Freiheit und Hoffnung. Zum ersten Mal hörte ich nun, dass Schumann den Rest seines Lebens unter der Angst vor Verfolgung und Inhaftierung zu leiden hatte und 1998 schließlich Suizid beging.

Der Preis für den Wunsch nach Freiheit, er war leider nicht selten hoch. Daran erinnert auch unser nächster Halt: die Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße. Auf dem riesigen Areal wird in einer Open-Air-Ausstellung auch den Mauertoten gedacht. Hier könnte man locker einen halben Tag verbringen, denn der Gedenkort für die Teilung Deutschlands erstreckt sich über 1,4 Kilometer entlang des ehemaligen Grenzstreifens. Wir sammeln Vorschläge, wie wir die Flucht versucht hätten. Ob im Koffer, im Auto, durch die Spree oder mit dem Heißluftballon - alle Ideen hatte bereits vor uns jemand. Viele dieser spektakulären Fluchten sind heute im Museum Haus am Checkpoint Charlie zu bestaunen.

Invalidenfriedhof und Grenzwachturm

Auf dem Invalidenfriedhof am Spandauer Schifffahrtskanal wurden beim Ausbau des Grenzstreifen Gräber umgebettet. Hier wird unter anderen dem ersten Mauertoten durch Schüsse gedacht: Günter Litfin wurde am 24. August 1961 beim Versuch in den Westen zu schwimmen getötet. Nur wenige Meter weiter erreichen wir die ihm gewidmete Gedenkstätte. Der ehemalige Wachturm am Kieler Eck wurde vom Bruder des Opfers vor dem Abriss bewahrt, indem er einen Obdachlosen zum Einzug animierte, einen Briefkasten anbrachte und so eine bewohnte Immobilie daraus machte. Nun steht er als Mahnmal inmitten von Neubauten.

Auf dem Weg zum Platz des 9. November 1989

Auf dem Weg Richtung Bernauer Straße, Mauerpark und Platz des 9. November 1989 passieren wir den naturbelassenen Park am Nordbahnhof. Hier setzen wir uns eine Weile hin. Martin lässt uns an seinen Kindheitserinnerungen an West-Schokolade und Gummibärchen teilhaben, erzählt Anekdoten aus seiner Familie und gibt noch eine kleine DDR-Vokabelstunde. Was waren Bückware oder Datsche und wie nannte man eigentlich einen Engel? Eine willkommene Auflockerung, bevor wir das Ende der Mauer erleben ...

Wir erreichen die Bornholmer Brücke, die tatsächlich gar nicht so heißt, und damit den besagten, mir bis dahin völlig unbekannten Platz. Hier dreht sich alles um die Ereignisse, die letztendlich die Öffnung der Mauer zur Folge hatten. In den mit Herbstlaub bedeckten Boden wurden versehen mit Uhrzeit berühmte Zitate eingelassen. Angefangen um 18:53 Uhr als Günter Schabowski sein berühmtes „ab sofort, unverzüglich" stammelte bis hin zu 23:30 Uhr als mit „Wir fluten jetzt!" der Grenzübergang geöffnet wurde.

Dann zeigen überdimensionale Fotos glückliche Menschen auf ihrem Weg in den Westen. Und als hätte Martin es so für uns bestellt, lichten sich in dem Moment am Himmel die Wolken. Wir stellen uns in die wärmenden Sonnenstrahlen und wir Älteren erzählen von unseren Erinnerungen an den Tag. Martin hat das Jahrhundertereignis tatsächlich einfach verschlafen.

Das vereinigte Deutschland

Die persönlichen Erfahrungen waren insgesamt sehr unterschiedlich, auch die damit verbundenen Gefühle. Aber wir sind uns alle einig, dass zwischen Ost und West heute keine größeren Unterschiede mehr bestehen, wie diese auch regional beispielsweise zwischen Nord und Süd vorhanden sind. Im Hinblick auf Lohngefälle etc. ist das vielleicht nicht ganz richtig, aber zumindest im Herzen. Mit Blick auf den Fernsehturm am Horizont bergab radelnd nähern wir uns dem Ende der Tour. Kurz bevor wir wieder unseren Ausgangspunkt erreichen, sehen wir vom Grenzstreifen im Mauerpark noch die Flutlichtmasten des Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportparks. Hier bestritt die DDR 1990 ihr letztes Fußball-Länderspiel. Viel wichtiger aber: im gleichen Jahr gewann die Nationalmannschaft des wiedervereinigten Deutschlands die Fußball-WM - für unseren Guide das wahre Sommermärchen. Recht hat er!

Die Berliner Mauertour - Fazit

Zurück in der Kulturbrauerei geben wir unsere Leihräder zurück und treffen uns kurz noch für eine Verabschiedung. Allen Teilnehmenden hat das Sightseeing der etwas anderen Art super gefallen. Und auch ich hab nach 22 Jahren in der Hauptstadt viel Neues entdeckt und gelernt. Dass Martin so viel aus eigener Erfahrung erzählt hat, war für mich das Besondere der Führung. Und ganz nebenbei ist er auch noch ein begnadeter Walter-Ulbricht-Imitator 🙂

Über mich (Tina Hoffmann): Ich kam 1999 mit FreundInnen aus Kairo nach Berlin und studierte an der FU Geschichte und Islamwissenschaft. Nach Jahren im Lektorat wollte ich 2020 endlich selbst schreiben. Auf staycation.berlin blogge ich seither über Hauptstadt-Themen, die mir am Herzen liegen - unbekannte Orte, berühmte Frauen, Unternehmungen mit Kindern, nachhaltiges Leben und vieles mehr.

Zum Original