Die Metropole kommt in Fahrt
London galt vor ein paar Jahren noch als Horror für Radler. Politiker, Planer und Aktivisten haben das geändert – Fahrradfahren ist heute Trend- und Kultthema
- Dieser Text erschien zuerst im Print-Magazin velobiz.de -
Es ist Dienstag, kurz nach 17 Uhr, und über die eben noch
fast leeren Straßen nahe der Blackfriars Bridge im Herzen Londons bricht die
Rush Hour wie eine Flut herein. Massen von Menschen in Business-Kostümen und -Anzügen
eilen auf die Bürgersteige und hetzen zu Bushaltestellen und der nahe gelegenen
U-Bahn-Station. Auf der Busspur stauen sich die roten Doppeldecker, daneben
stockt der Autoverkehr. Gleich nebenan, in einem mit hohen Bordsteinen
abgetrennten Abschnitt auf dieser Hauptachse, fließt der Radverkehr in beide
Richtungen über den frisch asphaltierten „North South Cycle Superhighway“. Es
ist ein Hingucker: Sportliche Fahrer in Rennradmontur, Männer mit Krawatten auf
Mieträdern, Frauen im schicken Kleid und Fahrradveteranen in Allwetteroutfits
überqueren die Themse in Richtung Pub oder „home sweet home“.
Wer einmal morgens vor neun oder spätnachmittags ab fünf den
Fahrradverkehr in der Finanzmetropole gesehen hat, dürfte keine Zweifel mehr
haben: Das „bicycle“ gehört heute ebenso zum urbanen Lebensstil der britischen
Hauptstadt wie die schwarzen Taxen. Der Trend ist eindeutig: Zwischen 2004 und
2014 wuchs die Zahl der täglichen Radfahrten in der Stadt von 380.000 auf
610.000. Galt London vor ein paar Jahren dem Stern noch als „die schlimmste Fahrradstadt der Welt“, so wandelt
sich das Bild stetig.
"Man sieht eine Veränderung der Fahrertypen"
Simon Munk, London Cycle Campaign
Unweit der Blackfriars Bridge unterbricht Simon Munk den Weg nachhause auf einen Kaffee. Munk, ehemals Journalist, ist heute der einzige hauptberufliche „Fahrrad-Infrastruktur-Campaigner“ Großbritanniens im Dienste der „London Cycle Campaign“, einer lokalen Lobbygruppe mit mächtiger Stimme. „Man sieht eine Veränderung der Fahrertypen“, sagt Munk. Es gebe sie zwar noch, die „Fahrrad-Nerds“ in London, die sich in wasserdichter Neon-Funktionskleidung durch die Straßen schlängeln, immer mit möglichst hohem Tempo und Blicken in alle Richtungen. „Diese Typen wird es auch immer geben. Aber sie werden immer mehr in den Hintergrund rücken“, glaubt Munk.
Denn Fahrradfahren in London, das hört man hier überall, soll von einer hochriskanten Herausforderung zur Normalität werden, über die man nicht weiter nachdenken muss. Es soll keine Frage von Leben und Tod mehr sein, wie dies zwischendurch der Fall war. Im Herbst 2013 waren sechs Fahrradfahrer innerhalb von zwei Wochen bei Unfällen getötet worden. Aus einem politisch gern gesehenen, aber nicht mit Geld unterstützen Thema wurde daraufhin ein Vorzeigeprojekt des damaligen Bürgermeisters Boris Johnson. Fahrradlobbyist Munk sagt: „Es ist tragisch, aber es brauchte diese Serie von Todesfällen, damit endlich ernsthafte Veränderungen geschehen konnten.“
Neben einer in Teilen immer noch grotesk schlechten Fahrrad-Infrastruktur bietet London heute an vielen Stellen Vorzeigeprojekte, die im internationalen Vergleich beachtenswert sind. Um die Maßnahmen zu besichtigen, treffen wir uns mit Lilli Matson, der Chefstrategin der Nahverkehrsbehörde Transport for London (TfL). Matson, selbst überzeugte Radfahrerin, zeigt mit Freude auf den neuen Cycle Superhighway. „Natürlich haben wir nicht die lange Tradition guter Infrastruktur wie Kopenhagen oder Amsterdam. Aber es gibt nur wenige Metropolen, die heute so viel gezielt für den Radverkehr tun wie London“, sagt Matson.
Der Superhighway, vor dem wir stehen, ist eine kilometerlange Schneise, in der Radfahrer abgeschirmt vom Motorverkehr vorankommen. Die Strecke ist modern, makellos und gut beschildert. Innerhalb von nur zweieinhalb Jahren wurde das Projekt von der Planung über die Beteiligung bis zur Fertigstellung gebracht. Gleichzeitig hat TfL weitere Superhighways vorangetrieben, teilweise schon gebaut und bestehende Strecken so verbessert, dass etwa mehr abgetrennte Spuren zur Verfügung stehen und die Kreuzungen für Fahrradfahrer sicherer ausfallen.
"[...] es gibt nur wenige Metropolen, die heute so viel gezielt für den Radverkehr tun wie London"
Lilli Matson, Transport for London
Boris Johnson war es, der als Bürgermeister 2013 eine „Vision“ für den Fahrradverkehr in der Stadt veröffentlichte. Heute, sagt Verkehrsplanerin Matson, gehört das Vélo in jede strategische Betrachtung: „London wächst immer weiter. Damit der Verkehr nachhaltig organisiert werden kann, sehen wir das Fahrrad als integralen Bestandteil des Transportsystems.“ Denn – wie etwa die Stadtplaner und urbanen Designer aus Kopenhagen und Amsterdam seit vielen Jahren predigen – Radfahren bietet die Chance, den immer knapper werdenden öffentlichen Raum in Großstädten effizient zu nutzen, möglichst viele Menschen auf umweltfreundliche und finanzierbare Weise zu bewegen. „Wir können die Qualität des Radverkehrs in London verbessern, und wir merken bereits, dass die Menschen das annehmen.“
Radlobbyist Simon Munk bestätigt das: Man sehe jetzt auch Menschen mit Kindersitzen, Anhängern – oder gar „Casual Cyclists“, also Leute, die einfach nur mit dem Rad durch die Gegend fahren. Vor ein paar Jahren habe es das kaum gegeben. Doch sieht er neben den Vorzeigeprojekten noch viel Handlungsbedarf. So ist es ein erklärtes Ziel der TfL, ein Netzwerk von fahrradfreundlichen Nebenstraßen zu schaffen – an manchen Stellen gehen die Strecken schon baulich auf die Bedürfnisse von Radlern ein. An anderen Stellen jedoch, sagt Munk, blockierten die örtlichen Räte das Vorankommen neuer Infrastrukturprojekte. Doch die Zustimmung des jeweiligen „Borough“, also der kommunalen Verwaltungseinheit, ist nötig, um in diesen Straßen Fortschritte zu erzielen. Derzeit gibt es auch drei so genannte „Mini-Hollands“ in äußeren Bezirken, wo ganze Stadtviertel sich in Fahrradparadiese verwandeln sollen. „Bislang ist nur eines dieser Projekte erfolgreich. Hier müsste es viel härtere Qualitätskontrollen und insgesamt mehr solcher Planungen geben“, sagt Munk.
Zweifellos erfolgreich und für die Akzeptanz des Radverkehrs in London von enormer Bedeutung sind die „Boris Bikes“, Leihfahrräder, die unter Johnsons Ägide in der Stadt eingeführt wurden. Für nur zwei Pfund pro Tag kann man sich an bald 1.000 Stationen Fahrräder ausleihen. Die Räder sind robust und stabil. Die Leihe funktioniert ohne aufwändige Registrierprozesse. Das macht die Räder für Einheimische ebenso praktisch wie für Touristen. Glaubt man den Experten, dann kam mit den Leihrädern auch ein verstärkter Respekt für Fahrradfahrer in der Stadt. Zudem bewertet die London Cycling Campaign die Sicherheitsstatistik des Verleihsystems als „exzellent“.
Nun gibt es einen neuen Bürgermeister, Sadiq Khan, und auch er hat bereits mehr Investitionen in den Radverkehr angekündigt: Die Fahrradinfrastruktur wolle er in seiner Amtszeit verdreifachen, kündigte Khan im Wahlkampf an. Viel Arbeit käme dann auf TfL-Strategin Matson zu. Aber sie dürfte sich darüber freuen. Denn sie weiß: „Die Menschen reagieren auf Infrastruktur. Je besser sie ist, desto mehr Menschen nutzen sie und behandeln sie auch mit Respekt.“
Mehr Infrastruktur soll also mehr Bedarf schaffen – für die Fahrradbranche in London wäre das sicher eine gute Nachricht. Wobei man ergänzen sollte: Seit einigen Jahren ist das Rad, sind Radkultur und Fahrradfahren fester Bestandteil des angesagten urbanen Lebens. „Es ist überall zu spüren, dass Fahrradfahren gesellschaftlich immer stärkere Akzeptanz erfährt. Es ist nicht nur praktisch, es ist auch komfortabel“, sagt Andreas Kambanis, mit London Cyclist einer der meistbeachteten Blogger zum Fahrradthema in der Stadt. Seit acht Jahren berichtet Kambanis über empfehlenswerte Produkte, Radläden und Strecken. „Überall entstehen neue Fahrradgeschäfte und Werkstätten. Man muss nirgendwo weiter als eine Meile fahren, um ein gutes Geschäft zu finden.“
Obwohl es natürlich auch in England mächtige Internethändler gibt, haben die neuen Betriebe in der Großstadt Erfolg. Kambanis weiß: „Oft sind das Geschäfte für Menschen, die vom klassischen Radhandel abgeschreckt würden.“ Hier erfahren sie persönlichen Service, individuelle Beratung und eher schmale, aber dafür maßgeschneiderte Angebote.
Ein kleiner Laden mitten im Ausgehviertel Soho ist seit seiner Gründung vor zwei Jahren sogar zu internationalem Renommee gelangt. In einem engen Schlauch in direkter Nachbarschaft zu Modeläden, Burgerbratern, Health Cafés und Pubs bietet „Soho Bikes“ seit Juni 2014 ein kleines Sortiment edler Fahrräder, dazu ein Café und eine Werkstatt. „80 Prozent der Cafékunden haben mit Fahrrädern nichts am Hut“, sagt Matty Trinquart, der Manager des Kulttreffs, der von Mountainbike-Kommentatorenlegende Rob Warner mitgegründet wurde. Sein Geschäftspartner Nick Hawker steht heute am Montageständer und wartet die Schaltungen von Londoner Pendlern. „Früher habe ich bei KPMG gearbeitet. Ich wollte etwas ganz anderes machen, was mir gefällt.“ „Soho Bikes“ hat nur wenig Ladenfläche im Erdgeschoss und einen Keller mit ein paar weiteren Rädern im Angebot. Gezeigt wird Hochpreisiges: Die Mountainbikes von Santa Cruz oder Orange laufen ebenso wenig unter Discount wie ein Titan-Gravelbike von Genesis. „Es gibt hier ein sehr attraktives Publikum, aber dem müssen wir auch ein herausragendes Angebot bereitstellen“, sagt Manager Trinquart. Bei Soho Bikes kauft man kein Mountainbike von der Stange. Immer wieder begleitet das Team die Käufer sogar am Wochenende ins Gelände außerhalb der Stadt, um verschiedene Modelle vor dem Kauf zu vergleichen. „Der Schlüssel ist der sehr individuelle Service“, sagt Trinquart.
Radläden wie Soho Bikes sind schick, haben Stil. Das passt zu London. Überhaupt hat man das Gefühl, dass Radsportkultur und -mode seit einigen Jahren stark von der britischen Metropole aus belebt werden. Hier gibt es mit „Look mum no hands“ (velobiz berichtete) ein Ladenkonzept, das die Grenzen zwischen Werkstatt und Gastronomie aufhob und auch erfolgreich Public Viewings von Radrennen einführte. Viele Nachahmer gibt es nicht nur im Königreich, sondern international. Wenn es um Fashion geht, kommt nicht nur die Radmode des Designstars Paul Smith von hier, sondern auch das wohl aktuell einflussreichste Label in der Radsportbekleidung: Rapha.
Das Unternehmen entstand 2004. Heute hat es seinen Sitz in einer umgebauten zweigeschossigen alten Lagerhalle in einem Hinterhof in der Nähe des Bahnhofs King’s Cross. Der Gründer, Simon Mottram, wollte den Radsport mit ästhetischer Mode beleben und hatte von Beginn an ein luxusorientiertes Publikum im Sinn. Es war eine gute Entscheidung, denn mit dem Aufschwung des britischen Bahn- und Straßenradsports kam auch eine allgemeine Begeisterung in der Bevölkerung, die Rapha viele konsumorientierte Kunden lieferte. Heute arbeiten 120 Mitarbeiter für das Label, das in den vergangenen drei Jahren sogar offizieller Rennbekleidungspartner des Profiteams Sky gewesen ist.
Rapha sendet seine Kleidung heute in alle Welt. Mehr noch als ein Textilspezialist ist das Unternehmen ein Marketing- und Stilspektakel. Auf der Website – wichtigster Absatzkanal der Firma – ging es schon immer um möglichst ästhetische Inszenierung, um Emotionen und begeisternde Fotografie. Es verwundert nicht, dass diese prägende Marke in London entstanden ist, wo das Fahrrad in den vergangenen Jahren bei einem Teil der Bevölkerung Kultcharakter ergattert hat, wo viele Menschen für den Konsum und den Luxus leben und wo der Radsport seit Jahren einen enormen Boom erlebt.
Die Firmenzentrale von Rapha erinnert an Start-ups in San Francisco oder Berlin. Arbeit ist Lifestyle. Radfahren ist Stil. Man sitzt in einem riesigen Großraumbüro zwischen allerlei Radsportdevotionalien, überall stehen Monitore, überall ist Social Media, sind urbaner Zeitgeist und Fahrradkultur im Blick. Die Mitarbeiter dürfen mittwochs erst um 13 Uhr im Büro eintreffen, sofern sie morgens Rennrad fahren. Für jeden Mitarbeiter gibt es einen Fahrradparkplatz im Erdgeschoss, ein Mechaniker kümmert sich dort um Wartung. Rapha hat die Welt der Fahrradmode von hier aus geprägt. Um international an der Spitze zu bleiben, wird man aber hart kämpfen müssen, sagt Unternehmenssprecherin Kati Jagger, „man muss aufpassen, dass man modisch nicht zu sehr abhebt. Aber der Trick ist, den anderen Leuten voraus zu sein.“
Ob Handel, ob Infrastruktur, ob Mode – ein Thema bewegt alle Gesprächspartner in London: der Brexit. Niemand hier ist begeistert von der Idee komplizierterer Beziehungen zu Europa. Bei Rapha fürchtet die Finanzabteilung die Unwägbarkeiten für das unternehmerische Handeln. „Immerhin haben wir ein diversifiziertes globales Geschäft, verkaufen Produkte und Dienstleistungen sowohl online und offline, und die Ausgaben sowie die Erträge sind über verschiedene Währungen verteilt“, erklärt das zuständige Team in einem Statement. Während man sich auf diese Weise auf Währungsrisiken vorbereiten kann, bleibt ein anderes Problem: Wenn etwa Rennradfahren teurer wird, weil die Einfuhr von Rädern oder Komponenten durch das schwächelnde Pfund verteuert wird, dann könnte das nicht nur die Absatzchancen für Händler schwächen. Auch eine Firma wie Rapha, die unmittelbar mit diesem Markt verbunden ist, könnte darunter leiden.
Auf der anderen Seite weiß man zumindest im ältesten Radladen der Welt, Pearson in Südlondon: Bei jeder Rezession steigt der Absatz von Fahrrädern, weil die Leute weniger Auto fahren. Für Lilli Matson, die Chefstrategin der TfL, wäre das per se keine schlechte Nachricht. Sie glaubt derweil, dass eine gute Fahrrad-Infrastruktur im Zeichen des Brexit umso wichtiger wird. Denn wenn London weiterhin eine international angesehene Stadt bleiben will, wenn sie nicht finanzstarke Einwohner verlieren und im globalen Wettbewerb ihre Attraktivität steigern will, dann muss die Stadt etwas dafür tun. Aus ihrer Sicht ist es eine klare Sache, dass bessere Radwege die Metropole London attraktiver und nachhaltiger dastehen lassen.