Till Meyer

Cluster IKT, Medien und Kreativwirtschaft Berlin-Brandenburg, Potsdam

1 Abo und 0 Abonnenten
Artikel

Machen, was sie wollen

Ein Nachdenken über Raumpioniere und Freiräume in Brandenburg.

Der amerikanische Autor Jonathan Franzen kommt in seinem Buch „Freiheit“ zu dem Schluss, dass zu viele Freiräume zu Depressionen führen. Man verlässt gewohnte Bahnen, macht es sich schwer, indem man viel Arbeit investiert, ohne zu wissen, was dabei herauskommt. Mitlaufen ist einfacher. In seinem Artikel „Ein Labor für Raumpioniere“ (perspektive21 vom Juni 2011) hat der Wissenschaftler Ulf Matthiesen diese Freiräume gefordert, Platz und Aufmerksamkeit für Akteure, „die neuartige Nutzungen, Institutionen und Organisationen für Räume erproben“. Er ist sicher, dass „Raumpioniere“ die entscheidende Anker- und Inkubator-Wirkung in der schrumpfenden Peripherie („Hinterland“) haben, durch „selbst organisierte Mikro-Netze“ neue Entwicklungsimpulse in der Landesentwicklung entstehen. Wie sehen diese aus? Was lässt sich von Pionieren lernen?

Erster Eindruck: Egal, ob ich zu Buddhisten nach Oberhavel oder Künstlern in den Spreewald fuhr, mit den Aus- und Einsteigern im Oderbruch oder einer Schlossherrin in der Prignitz sprach, die negative Wertung des Begriffes „Peripherie“ wurde bestritten oder belächelt. Ganz so, als ob zuvorderst die Einstellung zähle, wurde zwar die Abwanderung der Erwerbsbevölkerung, die Abkopplung von der Innovationsdynamik und Infrastruktur sowie die Abhängigkeit von Entscheidungszentralen erkannt, aber der Stigmatisierung der Fläche durch Zuschreibung negativer Merkmale und Images („Peripherisierung im Kopf“) entschieden widersprochen. Zweiter Eindruck: Mit dem Begriff „Raumpionier“, der mir einmal die Nachfrage bescherte, ob ich Sigmund Jähn meine, konnten die Menschen nichts anfangen. Sie verstehen sich als Macher und Anpacker, die in den Dörfer und Weilern Dinge entdecken und entwerfen, fördern oder produzieren  –  egal ob sie „Eingeborene“ oder „Zugezogene“ sind. 

Regenerierung statt Schrumpfung

„Zukunft wird aus Ideen gemacht“ lautete ein Slogan der Deutschen Telekom. Menschen mit Ideen sind das Salz der Region, das beste Mittel gegen Landflucht und Öde. Ohne bodenständige Lokalakteure und innovative Zuzügler fehlt der Anstoß, ökonomisch und kulturell neue Wege zu gehen – wenn sie denn aufeinander zugehen, statt nebeneinander herzuleben. Im Oderbruch gibt es Ansätze einer neuen Qualität dieser Land-Stadt-Verbindungen. Die Schwarzpappeln und Kopfweiden leuchten meilenweit, es ist Indian Summer im Polderland. Dicht verzweigt hat sich ein Netzwerk von Bauern, Handwerkern und Kleinproduzenten ausgebildet, ziehen Alt- und Neu-Kolonisten an einem Strang, betreiben Landschaftspflege, Wasser- und Regionalwirtschaft. „Das Oderbruch sind alle, die es gestalten“, heißt es auf der Website Oderbruchpavillon.de. In der Veranstaltungsreihe „Randgespräche“ des winzigen Theaters am Rand in Zollbrücke kommen die Enthusiasten der Region zusammen, betreiben „Landschaftskommunikation“, setzen auf den Zusammenhang von Kultur und Regionalentwicklung. Bereits in den 1970er und 80er-Jahren haben sich junge Menschen, häufig Westberliner, im Wendland niedergelassen und dort ein eigenes Milieu gebildet, Dinge ausprobiert, intelligente Dienstleistungen aus der Scheune heraus entwickelt. Mit positiven Auswirkungen, von denen man heute zehrt.

Neue Heimat

Dieses deutsche Insel-Dasein lockt manchen Städter, der sich in den Gassen um Bangkoks Khaosan-Straße fast besser auskennt als zuhause. Wenn die Welt durch die private Globalisierung klein geworden ist, ein Starbucks überall gleich aussieht, man in Strausberg beim Inder sitzt und in Shanghai im Paulanerbräu, gewinnt die nahe Provinz an neuem Wert. Das Gras auf der anderen Seite des Zaunes ist nicht immer grüner. Roddahn in der Prignitz ist so ein Beispiel. Ringsum entvölkern sich die Dörfer, treffen sich die Leute auf facebook-Parties, die mit Plakaten an Bäume beworben werden, weil das Internet so langsam ist, doch in Roddahn ist alles anders. Es liegt an der Nachbarschaftsschule, dass selbst in der Umgebung keine freien Häuser mehr zu haben sind. Inzwischen interessieren sich auch Wissenschaftler für den Landstrich, bei der Initiative „Lebendige Dörfer“ wird das Dorf als Modell angeführt. Auch in Wallmow in der Uckermark bringen Hunderte Neubürger ein Dorf zum Blühen. Der Verein Zuckermark e.V. betriebt eine Kita, eine Dorf- und eine Jugendkunstschule. Immer häufiger zeigt sich: Mit der Schule fängt alles an. Doch braucht es freie Schulen bzw. Eltern aus Berlin, Dresden und Halle, die in die Nähe von Neustadt (Dosse) oder Prenzlau ziehen?

Stolze Landschaften

Nicht unbedingt. Regionale Identitäten entstehen dort, wo die Leute zusammenkommen, um etwas Gemeinsames auf die Beine zu stellen. Selbst mit einer Handvoll engagierter Menschen beginnt der Prozess der Entperipherisierung. Dieser kann, im Zyklus der Generationen, beachtliches leisten, Provinz innovativ und wirtschaftlich erfolgreich machen, wie der Mittelstand in den ländlichen Ecken von Westfalen und Franken beweist. Wo ein Wir-Gefühl herrscht empfindet man sich nicht als abgehängt. Es braucht einen Paradigmenwechsel: Weg vom statischen Bild früher Zeiten, wo man an der Scholle klebte (weil niemand weg ging); anders als die Nachwende-Identität, die man mit der Aufforderung umschreiben konnte, der letzte möge das Licht ausmachen (weil alle weg gingen). Raum ist ein soziales Konstrukt und damit Verhandlungssache. Die alten Zeiten kommen nicht wieder. Aber wir erzählen zu oft von den alten Zeiten, in denen wir uns auszukennen glaubten! Wenn jede Wirtschaftsepoche eine eigene charakteristische Geografie hervorbringt, dann lässt sich das Land als kreative, lernende Landschaft, als Netzwerk-Landschaft und Landgesellschaft begreifen, die eben nicht die Stadtgesellschaft zu kopieren trachtet. Heimat ist das, wozu ich eine Beziehung habe, auch mit weniger Dörfern – im Gegensatz zur kalten Infrastruktur, die alle verlassenen Dörfer erschließt. Eine Umgehungsstraße im Nirgendwo bietet weniger gesellschaftliche Orientierung als Heimat- und Sport-, Feuerwehr- und Kulturvereine. Zukünftig geht es darum, lokale Profile für Lern- und Aushandlungsprozesse zu öffnen, die darauf abzielen, sich neu sehen und zu erfinden. Drei Faktoren sind Wind unter den Flügeln von Machern und Anpackern, können eingeschliffene Muster, Mentalitäten und Logiken aufbrechen:

  • Netze weben. Je mehr Menschen sich engagieren, desto dichter werden die Kooperations-, Informations- und Versorgungsnetze vor Ort. Deshalb: Patenschaften eingehen, z.B. zwischen Schulen/Kindergärten und dem örtlichen Vereinsleben und den Unternehmen, z.B. mit Institutionen aus Berlin; Generationen zusammenbringen; Tandemmodelle entwickeln, z.B. zwischen Starken und Schwachen, beruflichen Laien und Profis, Lokalmatadoren und „Außenseitern“. Kleine Mikro-Netze müssen in große Makro-Netze eingewoben werden. Miteinander reden bewirkt Wunder! Austausch kann beflügeln, Mut machen, um tatkräftig zu gestalten und Chancen zu ergreifen – gemeinsam mit anderen.
  • Realistisch sein. Die Schriftstellerin Simone de Beauvoir hat in einem anderen Zusammenhang (dem der Liebe) einen Satz geprägt, der auch für viele Ostdeutsche in der DDR galt: „Wir lebten eine Welt zusammen.“ Die eine Welt gibt es nicht mehr, den einen Osten erst recht nicht. Blühende Landschaften kann es geben – aber unter anderen Vorzeichen. So wie es eine Eroberung der Wildnis gab, beispielsweise durch das Jahrhundertprojekt Friedrich des Großen im Oderbruch, kann es auch mancherorts eine Ausweitung der Natur geben – aus dem Grund heraus, dass man zukünftig und anders als vor 250 Jahren vielleicht weniger den Ackerbau als Landschaftspflege braucht. Was ist schlecht an ausgedünnten Landstrichen, in denen einige Dörfer dann doch prosperieren? Naturlandschaften werden Alltag werden, auch wenn unsere Prägung jetzt noch eine andere ist. Intelligente, auch immaterielle Infrastruktur ist wichtiger als Blut und Boden. Deshalb: Ortsunabhängige Einrichtungen schaffen, egal ob Fahrende Bibliotheken, rollende Ämter, reisende Ärzte und fliegende Händler. Moderne Informations- und Kommunikatonstechnologie hilft bei dieser mobilen Infrastruktur. 
  • Tolerant sein. Wenn es überall gleich (schlecht) aussieht, resigniert irgendwann jeder Mundwinkel. Und zeigt nach unten. Ob Frust oder Resignation, Brain-Drain-Effekte (Abwanderung) steigern die (Ab-)Geschlossenheit zurückbleibender Milieus. Deshalb: Verhältnisse auf- und durchmischen, Pioniere einladen, Experimente bejahen und Lernprozesse initiieren, um das Andere als Anderes und Verstörendes anzuerkennen; Zuwanderung, weil ein Brandenburger noch nie in der Mark geboren sein musste, sondern auch aus Schlesien kommen durfte. Eng und hart waren bis 1989 die Grenzen der Diktatur, umso größer der Freiheitsgewinn, der auch darin besteht, mit Unterschieden umzugehen.

Fazit einer Reise: Wir müssen mehr Freiheit wagen, weil das Gelände ohnehin unwegsam wird. Rumtrampeln entmutigt. Es ist eine Aufgabe von Multiplikatoren, Menschen dazu zu bewegen, neue Pfade zu finden. Der Epochen- und Strukturwandel muss angenommen (statt klein geredet) werden, die Veränderung aktiv gesteuert werden, mehr kommuniziert und motiviert werden. Statt „Wo kommen wir denn da hin, wenn hier jeder machen darf, was er will!?!“ muss es häufiger „Kommen Sie her, bei uns darf man machen und zwar das, was man will!“ heißen. Einfach aus dem Grund heraus, weil den Menschen letztendlich keiner die Verantwortung für ihr Leben abnehmen darf, geschweige denn kann. 1989 waren Menschen genau dafür auf die Straße gegangen, sich diese Freiheiten zu nehmen.