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Reportage

„Immer noch das große Vaterland“

Zwischen London und Moskau herrscht seit dem Giftanschlag auf Sergej Skripal eine Krise. Wie Russlanddeutsche im Revier auf die russische Politik blicken.


Ruhrgebiet. Sie haben sich einfach in den Flieger gesetzt. 1997 kam Familie Kosaev aus Kirgistan in Deutschland an. Zavrbek Kosaev führt seit sieben Jahren das „Gastronom“, einen Dortmunder Supermarkt, in dem es russische Lebensmittel zu kaufen gibt. Die Geschichte der Kosaevs lässt sich als eine der vielen Erzählungen lesen, die Ergebnis der Einwanderung von Aussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion sind. Die Russlanddeutschen gelten als eine der größten Zuwanderergruppen in der Bundesrepublik.

Das „Gastronom“ liegt im Wohnpark Clarenberg. Nebenan türmen sich Hochhäuser in ver- blassten Mint- und Blautönen auf. Im Inneren des Geschäfts: russische Popmusik, Gläser mit eingelegten Tomaten, Konserven gefüllt mit Lachs, Makrelen und Sprotten.
Über russische Politik wird auch hier gesprochen. „Besonders bei der Krim war es schlimm. Es gab zwei Lager, es wurde viel diskutiert. Hier die Russen, da die Ukrainer“, erzählt Alan Kosaev, der den Laden mit seinem Vater Zavrbek (48) führt. Was das „große Vaterland“ Russland macht, ist in der russischsprachigen Gemeinschaft immer Thema, erklärt der 24-Jährige. Auch wenn man nicht „richtiger Russe“ ist. Bei der Krim sei es vor allem um die Identität, das Kulturelle gegangen.

Solche Diskussionen bekommt Alan von älteren Kunden mit. Ihn betreffe das weniger, er halte sich lieber raus. Die Wahlen in Russland habe er verfolgt, den Giftanschlag auf den Ex-Spion Sergej Skripal in England habe er nicht mitbekommen. „Das spielt sich ja auch nicht hier im Land ab, warum also?“, sagt er. Ihn interessiere die Politik in Deutschland mehr.

Samstagvormittag an der Ruhr- Uni Bochum: Tatyana Gavrylyako rüttelt kräftig an der kupfernen Glockenklingel, es tönt durch alle Türen. Kinder rennen zu ihren Klassenräumen, Eltern schieben sich hinterher. Der Verein Lukomorje bietet eine Samstagsschule für russischsprachige Kinder an. Die zweisprachigen Schüler zwischen drei und 15 erlernen hier russische Sprache und Bräuche.

Die gebürtige Ukrainerin Tatyana Gavrylyako (37) leitet die Schule seit 2009. Sie ist 2005 für ihre Promotion nach Deutschland gekommen. Sie gehört zwar nicht zur Gruppe der Russlanddeutschen, ihre Schule wird aber von vielen Aussiedler-Familien besucht.
Über Politisches herrschen im Verein kontroverse Meinungen. „Wenn es zu diesem Thema kommt, sind wir keine Freunde mehr“, sagt Mitglied Andrey Sokolov. Der 39- jährige Mathematiker wertet die Ausweisung russischer Diplomaten im Zuge des Giftanschlags als folgerichtig. „Auch wenn nicht alles strikt bewiesen ist, Russland macht falsche Sachen.“

Valentina Tebyakina sieht das anders. Sie sei keine Befürworterin der Regierung. Aber: „Wenn Russland Skripal tot sehen wollte, wäre es eine dumme Art und Weise, das eigene Gift zu verwenden“, sagt die Moskauerin, die vor 20 Jahren zum Studieren herkam. Für die Ausweisung der Diplomaten habe es zu wenige Fakten gegeben. „Wann hat es sowas das letzte Mal gegeben?“

Sofia Maier* will ihre Tochter (6) demnächst auf die Schule schicken. Sofia kam 1998 mit elf Jahren aus Usbekistan. Ihre Familie gehörte zur Welle der Spätaussiedler: Der Vater hat deutsche Vorfahren, die Mutter ist „wahre Russin“. Als eine „Russlanddeutsche“ würde die 30-jährige Slawistik-Studentin sich selbst nicht bezeichnen. Politisches ist zwischen Eltern und Geschwistern immer mal Thema: Alles, was Deutschland betrifft, Flüchtlinge, Nordkorea, USA. Sofia schaut Nachrichten auf Deutsch an, der Vater (67) auch, für ihre Mutter (66) ist es einfacher, Nachrichten in der Muttersprache zu verfolgen: Euronews auf Russisch oder Channel One Russia.

Komme Politik zur Sprache, herrsche bei Vater und Bruder die Meinung: „Russland interessiert es wenig, wer ihnen womit droht, überhaupt interessiert sie der Rest der Welt nicht.“ Der Giftskandal hätte alle in der Familie überrascht, als sie zusammen den Geburtstag der Enkelkinder feierten. „Aber wir konnten uns schon vorstellen, dass die sowas machen. In der Sowjetunion war es doch üblich, dass man nichts laut sagen durfte.“
In den Diskussionen ergreife eher ihr Bruder (46) Partei für Russland, Sofia ganz im Gegenteil. In Russland würde es ihm besser gehen, sagte er manchmal. Mittlerweile sehe er es anders. Kam es jedoch dazu, erwiderte die Mutter: „Komm, dann wander‘ doch aus!“