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So kann auch deine Kommune Geflüchteten helfen

Foto: Juliane Metzker

So kann auch deine Kommune Geflüchteten helfen

Die EU-Flüchtlingspolitik ist ein Trauerspiel. Um das Leid in den griechischen Lagern zu mindern, haben sich 120 Kommunen in Deutschland für eine freiwillige Aufnahme von Geflüchteten bereit erklärt.

Sie spricht nicht mehr und essen will sie auch nicht. Nachdem das
9-jährige Mädchen eine Bombenexplosion in Afghanistan und die Flucht
nach Europa überlebt hat, sitzt es schwer traumatisiert nun seit Monaten
im überfüllten Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos fest. So
steht es in einem Brief des Präsidenten der Hilfsorganisation Ärzte ohne
Grenzen. # Es sind Geschichten wie diese, die im Herzen Europas hilflos
stimmen. Oder reden wir uns das nur ein?

Pünktlich zur Weihnachtszeit diskutierte die deutsche Politik einen Akt
der Nächstenliebe, nämlich ob die Bundesrepublik Geflüchtete in Not aus
den ägäischen Lagern aufnehmen solle. Der Grünen-Parteichef Robert
Habeck forderte, Kinder aus den Lagern nach Deutschland zu holen. Als
Reaktion hagelte es Kritik – und eine Lösung blieb aus.

Während die einen noch diskutieren, setzen andere aufs Handeln. Das
Bündnis »Städte Sicherer Häfen« weckt Hoffnungen auf Bewegung in
der Debatte. An der Gründung waren 13 Kommunen in Deutschland
beteiligt. Mittlerweile sind es 126, die auf eigene Faust Geflüchtete
aufnehmen und Druck auf die Regierung ausüben wollen. Mit dem
Zusammenschluss wollen die kommunalen Bündnispartner mehr Druck
auf die Bundesregierung ausüben. Und so funktioniert das Bündnis:

Während andere diskutieren, setzt ein Bürgermeister seine Worte in Taten um

Koordiniert wird das Bündnis von der Stadt Potsdam und dem
Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD): Anfang dieses Jahres kündigte
dieser an, seine Stadt werde freiwillig 5 minderjährige unbegleitete
Geflüchtete aus einem der griechischen Lager aufnehmen. Das sind nicht
viele, aber angesichts der verfahrenen Situation ein Fortschritt.
Bevor das Bündnis entstand, waren es einzelne Bürgermeister:innen, die sich für
die Seenotrettung einsetzen.

»Die humanitäre Katastrophe, die sich auf den griechischen Inseln
abspielt, ist ein Armutszeugnis für Europa«, begründete Schubert in
einer Mitteilung der Stadt Potsdam seine Entscheidung. Er wisse, dass
dies nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sein werde. »Aber es ist
allemal besser, als den gesamten Winter über eine Diskussion über
Verteilquoten zu führen, während sich vor Ort die Situation weiter
dramatisch verschlechtert«, so der Potsdamer Oberbürgermeister.
Als koordinierende Stadt im Bündnis wolle Potsdam mit gutem Beispiel
vorangehen und konkrete Hilfe im Rahmen des Möglichen leisten.
Zugleich bat Potsdam weitere Mitgliedsstädte im Bündnis darum,
ebenfalls zu prüfen, ob sie Kapazitäten hätten, geflüchtete Kinder
aufzunehmen.

Umdenken in der Flüchtlingspolitik auf Bundes- und EU-Ebene

Mit diesem Schritt setzt Schubert darauf, langfristig ein Umdenken in der
Verteilung von schutzbedürftigen Personen anzuregen. Seine Vision ist
eine Koalition der Freiwilligen: Kommunen sollen selbst entscheiden, wie
viele Geflüchtete sie aufnehmen können und wollen, anstelle des
Bundes, der nicht einmal die Bereitschaft vor Ort kenne, sagt Schubert in
einem Interview. Um als Kommune in das Bündnis einzutreten, ist eine
Solidaritätserklärung mit den Zielen der »Seebrücke« sowie die
Bereitschaft zur freiwilligen zusätzlichen Aufnahme von aus Seenot
Geretteten erforderlich.

Auf der EU-Ebene hofft Schubert auf eine Kettenreaktion, die andere
Städte darin bestärkt, ebenfalls geflüchtete Menschen aufzunehmen.
Besonders Städte in »Ländern, in denen sich die nationale
Administration derzeit verweigert«. Zum Beispiel gebe es Kommunen in
Polen, die sich schon vor Jahren bereit erklärt hätten, Geflüchtete
aufzunehmen, so der Potsdamer OB. »Wenn alle Städte im Bündnis das
tun, kann das schon viel bewirken«, sagt Schubert.
Polen gehört wie Ungarn oder Tschechien zu den sogenannten
Visegrád-Staaten, deren nationale Regierungen die Verteilung von
Schutzbedürftigen über einen EU-weiten Verteilungsschlüssel seit Jahren
ablehnen.

Die Kommunen wollen die Gesetzeslage ändern und mehr Recht auf Mitsprache

Bislang jedoch hat das Bundesinnenministerium eine Regelung zur
freiwilligen Aufnahme von Asylsuchenden, wie es vom Bündnis gefordert
wird, abgelehnt und dies mit der Rechtslage begründet. In der Regel
entscheidet der Bund über den Königsteiner Schlüssel, wie viele
schutzsuchende Personen einem Bundesland zugeteilt werden.
Kommunen haben insofern kein Mitspracherecht.
Daher fordern die Vertreter des Bündnisses eine Zusatzvereinbarung:
Bringen die Gemeinden mehr Kapazität auf, als ihnen zugewiesen wird,
sollen sie selbst entscheiden, ob sie weitere Geflüchtete aufnehmen
können.

Ein Weg dafür könnte eine Änderung des § 23 Absatz 1 des
Aufenthaltsgesetzes sein, den die Grünen-Bundestagsfraktion bereits im
Frühjahr 2019 beantragt hatte. Den Bundesländern wäre es demnach
erlaubt, eigenständige Aufnahmeprogramme nach humanitärem Recht
durchzuführen. Bislang bedürfen diese einer Zustimmung des Bundes.
Dem Antrag zufolge sollten solche Programme künftig auch ohne die
Erlaubnis des Bundes möglich sein.

Derweil sind in Potsdam mit Genehmigung der Landesregierung bereits
25 Geflüchtete eingetroffen, weit mehr als versprochen.
Mehr noch: Nach dem Appell des Potsdamer Oberbürgermeisters haben
sich noch weitere Städte und Kommunen bereit erklärt, geflüchtete
Menschen aufzunehmen.

Der Potsdamer Oberbürgermeister Mike Schubert und die Partnerstädte
im Bündnis erwarten noch in diesem Frühjahr lösungsorientierte
Gespräche mit dem Bundesinnenministerium..

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