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Arbeitskampf per Twitter

Seit Wochen streiken immer wieder Mitarbeiter des Lieferdienstes Gorillas. Was läuft schief bei dem einst gefeierten Berliner Start-up?


Zehn Minuten. So lange dauert es, bis der Lieferdienst Gorillas Lebensmittel zu Supermarkt-Preisen nach Hause bringt. Offenbar hat vielen diese Dienstleistung noch gefehlt, denn das Berliner Start-up expandiert rasant. Für die Branche ist die Corona-Pandemie ein Milliardengeschäft und es sieht ganz danach aus, als hätten sich viele in jener Bequemlichkeit eingerichtet, an die sie sich während der Zeit im Lockdown gewöhnt haben. Von den Gorillas-Gewinnen indes scheint wenig Geld in faire Arbeitsbedingungen zu fließen, weshalb die Mitarbeiter bereits seit Wochen aufbegehren. Die Streikenden prangern die prekären Arbeitsbedingungen an und berichten von willkürlichen Kündigungen, Überstunden und mangelhafter Ausrüstung.

Bei ihrem Wettlauf gegen die Zeit müssen die Arbeiter offenbar teils mit vom Regen durchnässter Arbeitskleidung auf reparaturbedürftigen E-Bikes durch die Innenstädte rasen. Überwacht wird ihre Performance per Algorithmus. Dieser steuert die Gorillas-Fahrer von Auftrag bis Auslieferung und misst die Zeit. Treten Probleme auf, ist das Unternehmen für seine Arbeiter offenbar nur per Email erreichbar. Merkwürdig, schließlich seien die Fahrer - „Rider" genannt - doch Teil einer „Crew, die sich gegenseitig hilft und stärkt". So jedenfalls verspricht es das Unternehmen auf seiner Website. Was nach der hohlen Start-up-Rhetorik des Silicon Valley klingt, trifft zumindest teilweise zu. Allerdings ganz anders, als von Gorillas gedacht: Die „Rider" verabreden sich per Twitter zum Arbeitskampf.

Wo es nur maximal 280 Zeichen braucht, um auf Empörungswellen mitzureiten, lässt sich nun auch der Kampf zwischen Kapital und Arbeit fortführen. Zu den Vorzügen dieser Entwicklung gehört, eine Art Basisgewerkschaft online gründen zu können. Die „Gorillas Workers Collective" organisiert Blockaden und Arbeitsverweigerung in Echtzeit. Bei den Aktionen handelt es sich rein rechtlich um „wilde Streiks", die ohne Vorankündigung oder zentrale Koordination großer Gewerkschaften stattfinden. Legal ist das nicht. Doch bürokratische Streikhürden zu überwinden, dürfte für die überwiegend migrantischen Arbeitskräfte schwer möglich sein.

Viele von ihnen sprechen kaum Deutsch. Dass sie jetzt Begriffe wie „Betriebsrat" oder „Kündigungsschutz" in ihren Wortschatz aufnehmen, dürfte die Vorstandsetage von Gorillas nervös machen. Das Unternehmen lenkte kürzlich ein und kündigt einen Maßnahmenplan an, der Kontrollen der Ausrüstung und ein größeres Support-Team verspricht. Nicht nur Konkurrenten wie Lieferando und Co. werden gespannt verfolgen, wie sich der Schlagabtausch bei Gorillas fortsetzt. Er ist bereits zum Präzedenzfall einer Streik-Kultur geworden, für die es lediglich ein Smartphone und einen Twitteraccount braucht - und natürlich Verbündete. Gorillas liefert in zehn Minuten? Der Schlachtruf der Aufständischen unterbietet das noch: „Wir organisieren uns in unter zehn Minuten".

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