Thomas Seibert

Türkei-Korrespondent, Istanbul

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Artikel

IS-Milizen an der Grenze zur Türkei

Thomas Seibert Nur ein paar Eisenbahnschienen und ein Grenzübergang liegen zwischen dem türkischen Dorf Mürsitpinar und der Stadt in Syrien, die seit zwei Wochen von Kämpfern des IS angegriffen wird. Wer kann, der flieht aus dieser Gegend - und hofft aufs Militär. „Wenn Kobane fällt", sagen sie hier, „ist nichts mehr sicher".

Der Imam ist geflohen aus Mürsitpinar, genau wie der Lehrer und viele andere. Sie wollten nicht mehr in einem türkischen Bauerndorf leben, das plötzlich an der Front eines Konfliktes mit der brutalsten Extremistengruppe des Jahrzehnts liegt. Nur ein paar Eisenbahnschienen und ein geschlossener Grenzübergang trennen Mürsitpinar von Kobane, der syrischen Stadt, die seit zwei Wochen von der Dschihadisten-Miliz „Islamischer Staat" (IS) angegriffen wird.

Der Krieg ist der neue Nachbar von Mürsitpinar. Von einem Hügel in der Nähe sind zwei Panzer zu sehen, die auf Stellungen der Verteidiger am Ostrand von Kobane feuern. Das Geräusch von Maschinengewehrfeuer weht über die Grenze, auf einem Feld bei Mürsitpinar schlägt eine Granate ein.

Einheiten der türkischen Polizei und bewaffnete Soldaten riegeln das Dorf ab und patrouillieren durch die Straßen. Gepanzerte Fahrzeuge stehen bereit. Ein Beamter eines Sondereinsatzkommandos der Polizei sitzt im Schatten eines verlassenen Eisenbahngebäudes zwanzig Meter vom Stacheldraht des Grenzzauns entfernt und montiert ein Fernrohr auf sein Präzisionsgewehr. Immer wieder dringt aus Kobane der dumpfe Knall einer Explosion herüber. „Besonders nachts hört man viele Schüsse und Einschläge", sagt ein Polizist. Auf dem Turm eines Getreidesilos an der Grenzlinie weht die türkische Fahne. Manchmal kann man von der türkischen Seite der Grenze aus auch die schwarze Fahne des IS sehen.

Nur eine Handvoll Bewohner ist im Dorf geblieben

Im Dorfladen von Mürsitpinar hält Yusuf Cankaya die Stellung, umgeben von Regalen voller Shampoo- und Waschmittelflaschen, die niemand mehr kauft. Die übrigen, wenigen Geschäfte an der staubigen Straße zum Grenzübergang sind verriegelt. Die Moschee nebenan ist verwaist, seit sich der Imam abgesetzt hat. Die Dorfschule ist geschlossen, so wie die Schulen in anderen Orten entlang der Grenze auch: Die Einschläge von Artilleriegeschossen aus Syrien machen den Unterricht lebensgefährlich. In Mürsitpinar hat das neue Schuljahr nach den Sommerferien deshalb gar nicht erst begonnen. Nur eine Handvoll Bewohner ist im Dorf geblieben, die meisten, um sich um ihr Vieh zu kümmern. „Es ist wie im Krieg", sagt Yusuf Cankaya.

Während die Politiker in Ankara über das am Donnerstag verabschiedete Entsendegesetz reden, das der türkischen Armee den Einsatz in Syrien oder im Irak ermöglicht, und während in Europa über Waffenlieferungen an die Kurden und den möglichen Bündnisfall beim Nato-Mitglied Türkei diskutiert wird, ist der Krieg im türkisch-syrischen Grenzgebiet schon angekommen. An einigen Stellen liegen nur 50 Meter zwischen den türkischen Panzern und den IS-Trupps auf der syrischen Seite der Grenze.

Ausnahmezustand am Grenzzaun

Eine Art Ausnahmezustand herrscht entlang des Grenzzauns. „Das Leben ist gelähmt", sagt ein Kurde in Mürsitpinar. Felder liegen brach, auf einem Militärgelände außerhalb des Dorfes sind rund drei Dutzend Panzer aufgefahren. In einer frisch ausgehobenen Stellung steht eine Panzerhaubitze, das Rohr zeigt Richtung Syrien. Mehrmals schon haben die Türken das Feuer erwidert, wenn Granaten des IS auf türkischem Boden niedergingen. Im Dorf Tavsanli in der Nähe bejubeln türkische Kurden die Einschläge der Bomben von alliierten Luftangriffen auf IS-Stellungen. Auch in anderen Grenzdörfern sitzen Leute auf Hügeln und Dächern und schauen dem Krieg zu.

Der Händler Cankaya übernachtet in seinem Haus neben dem Laden, manchmal auch im Auto außerhalb des Dorfes, wenn der Gefechtslärm von Kobane nachts ungemütlich nahe an die Grenze rückt. „Ich verkaufe so gut wie nichts mehr, aber selbst wenn das Geschäft gut ginge, würde es mir keinen Spaß mehr machen", sagt er. Warum er selbst in Mürsitpinar bleibt, weiß Cankaya auch nicht so genau. Er würde gerne den Flüchtlingen aus Kobane helfen, sagt er, etwas für die Leute tun. Auf beiden Seiten der Grenze leben Kurden, viele haben Verwandte im jeweils anderen Land. Mürsitpinar und Kobane waren eigentlich einmal ein und derselbe Ort und wurden nur durch die Grenzziehung nach dem Ersten Weltkrieg getrennt, sagt ein Kurde.

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