Thomas Hürner

Journalist und Autor, München

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SSC Neapel: Spektakulärer italienischer Offensivfußball

Dries Mertens (links) und Lorenzo Insigne bejubeln einen Treffer im Spiel gegen den Bologna FC. Foto: AFP

Auf der Titelseite des „Corriere dello Sport" war kürzlich eine Karikatur abgebildet, die Maurizio Sarri dabei zeigt, wie er mit verdutzter Miene in einen Spiegel blickt. In diesem erkennt er aber nicht etwa sich selbst, sondern einen zufrieden grinsenden Mann mit kahlem Kopf, der in einer Trainingsjacke mit roten und schwarzen Streifen steckt. „Sarri come Sacchi" lautete die Schlagzeile, doch was von der römischen Sportzeitung als Ritterschlag angedacht war, empfindet der Trainer des SSC Neapel als unangebrachten Affront gegen sein vermeintliches Spiegelbild. „An seiner Stelle würde ich das als Beleidigung empfinden", sagt Sarri, „immerhin sprechen wir hier über jemanden, der den Fußball revolutioniert und einfach alles gewonnen hat."

Die italienischen Gazetten lassen aber nicht ab von den Vergleichen mit dem legendären Arrigo Sacchi, der Ende der 80er Jahre aus dem chronisch erfolglosen AC Mailand die dominierende Kraft im europäischen Vereinsfußball formte. Im Land des Fußball-Minimalismus prägte der charismatische Trainer einen völlig neuen Stil und stellte so die Gesetzmäßigkeiten im Calcio auf den Kopf. Die „schönste Mannschaft der Welt" gewann ihre Spiele nicht mit einer reaktiven und abwartenden Taktik, sondern mit Dominanz über alle Winkel des Platzes.

Trotz der großen Erfolge schien mit dem Ende der Ära Sacchi auch sein fußballerisches Erbe verloren, seither gibt die traditionell-defensive Denkschule wieder den Ton an in der Serie A. Ein Unding für Sacchi, der bei jeder Gelegenheit im italienischen Fernsehen über den Stillstand und die fehlenden Visionen tobt. Mit Sarri hat sich nun aber jemand gefunden, der gewillt ist, sein Vermächtnis in die Moderne zu tragen. „Ich denke, dass er den Fußball aus dem gleichen Blickwinkel wie ich betrachtet", sagte Sacchi kürzlich, und selbstredend sei dieser Satz „als Kompliment zu verstehen".

Als Spieler schaffte es sowohl Sacchi als auch Sarri nie über den Amateurbereich hinaus, und auch der Einstieg in den Trainerberuf verlief für beide nur über Umwege. Nach der gescheiterten Profikarriere verdiente Sacchi zunächst als Schuhhändler sein Geld. Sarri arbeitete viele Jahre als Bankangestellter, ehe er es über zahlreiche Trainerstationen in der Provinz schließlich in die Beletage des italienischen Fußballs schaffte. „Der einzige Job, den ich auch umsonst machen würde", wie er einmal sagte.

Nun ist der 59-Jährige in seiner dritten Saison Trainer beim SSC Neapel, dem Gegner von RB Leipzig im Europa-League-Sechzehntelfinale an diesem Donnerstagabend. Anders als Sacchi, der seine Vorstellung von Fußball für zementiert und grundsätzlich richtig hält, besticht Sarri auch durch Anpassungsfähigkeit und Flexibilität. Als Mittelstürmer Gonzalo Higuaín 2016 zum großen Rivalen Juventus Turin abwanderte, suchte er die Lösung für das Problem im eigenen Kader und fand sie in Dries Mertens. Schnell erwies sich der quirlige Belgier als das fehlende Puzzlestück im mitreißenden Kombinationsspiel der Neapolitaner.

Die Europa League als Kollateralschaden - den Scudetto vor Augen

Mit Mertens zirkuliert der Ball noch schneller durch die eigenen Reihen, das aggressive Pressing ist für die Gegner noch zermürbender geworden. Napoli betreibt zu jeder Zeit extrem hohen Aufwand in seinem Spiel, weil das Konzept von Trainer Sarri einen filigranen, aber zugleich fordernden Fußball vorsieht. „Unser Stil ist schön anzuschauen, aber schwierig umzusetzen", sagt Marek Hamšík, der Kapitän. „Wir müssen viel laufen und früh angreifen, um im Gegenzug auch unsere Stärken möglichst effizient auf den Platz zu bringen." Nicht der Einzelne steht bei Sarri im Mittelpunkt, sondern das Kollektiv.

Im Training erlaubt der Trainer nie mehr als zwei Kontakte, und das Ergebnis ist ein Offensivfußball von begeisternder Leichtigkeit und Raffinesse. Napoli verliert sich nicht in belanglosem Ballgeschiebe im Mittelfeld, sobald sich beim Gegner Lücken auftun, geht es vertikal und in höchstem Tempo nach vorne. „Kein Zweifel, das ist eine der besten Mannschaften, gegen die ich je gespielt habe", sagt Pep Guardiola, „vielleicht sogar die beste." Zwar gewann der Spanier mit Manchester City in der Gruppenphase der Champions League seine beiden Spiele gegen den SSC Neapel. Selten war der souveräne Tabellenführer aus England in dieser Saison aber so gefordert.

Dass nach Niederlagen gegen Feyenoord Rotterdam und Shakhtar Donezk und dem daraus resultierenden dritten Platz nun Europa League statt Königsklasse angesagt ist, empfinden sie am Fuße des Vesuvs aber lediglich als Kollateralschaden. Der Traum der Anhänger ist die italienische Meisterschaft, und für diesen nehmen sie auch ein Scheitern auf der internationalen Bühne in Kauf. Zu groß ist die Sehnsucht nach dem Scudetto geworden, dem ersten, seit Diego Maradona vor 28 Jahren die Dominanz von Sacchis Milan durchbrach und sich so in der Stadt einen gottgleichen Status verschaffte.

Napoli steht derzeit mit einem Punkt Vorsprung an der Spitze der Serie A und wähnt sich in dieser Saison endlich stark genug, um Serienmeister Juventus Turin bis zum Schluss in die Rolle des Verfolgers zu drängen. Auch in den vergangenen Jahren war Sarris Napoli für lange Zeit ein ernsthafter Titelaspirant, scheiterte dann aber im Endspurt an einer Mischung aus Erschöpfung und Naivität.

Gerade einmal 6000 Tickets wurden bis Dienstagabend für die Partie gegen Leipzig verkauft, in Ligaspielen kommen im Schnitt über 40.000 Zuschauer ins Stadio San Paolo. Sarri hat bereits angekündigt, dass er einige Stammspieler schonen wird. Im Schatten des großen neapolitanischen Traums wirken andere Aufgaben eben schnell banal.

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