Thomas Hürner

Journalist und Autor, München

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Artikel

Warum Frank de Boer bei Inter entlassen wurde: Wie ein Veganer in der Churrascaria

Ganze 84 Tage hielt es Frank de Boer als Trainer bei Inter Mailand, ehe er in dieser Woche entlassen wurde — via Skype. Das hat mit der sportlichen Misere, chinesischen Investoren und einer Majestätsbeleidigung zu tun. Von Thomas Hürner


Die Brauen fallen tief in die Augenwinkel, das Gesicht wirkt trüb und angespannt zugleich. Frank De Boer muss sich in einer Live-Schaltung in die Studios von Sky Italia gerade wieder für eine Niederlage verantworten, diesmal hatte Inter bei Sampdoria Genua den Kürzeren gezogen.  


Gianluca Vialli, einer der großen Angreifer der 90er-Jahre, ist als Experte anwesend. Sie standen sich im Champions League-Finale von 1996 gegenüber, als Juventus in Rom gegen Ajax Amsterdam den Henkelpott gewann. Der Italiener spricht De Boer aber versehentlich mit dem Vornamen seines Bruders Ronald an.

Nur noch wenige Fürsprecher

Neben ihm im Studio sitzt der ehemalige Inter-Kapitän Giuseppe Bergomi, er versucht vergebens sich das Lachen zu verkneifen. Der Gesichtsausdruck des Holländers bleibt unverändert, aber die Mundwinkel verraten, dass er das alles gar nicht komisch findet.

Es sollte das letzte Mal gewesen sein, dass er der Schelte der italienischen Medien ausgesetzt war. Am Dienstagvormittag wurde Frank De Boer als Trainer von Inter Mailand entlassen.

Nein, der 46-Jährige hatte zum Ende seiner kurzen Amtszeit nicht mehr viele Fürsprecher. Keine drei Monate hatte die Liaison gehalten, wettbewerbsübergreifend verlor De Boer als Inter-Trainer die Hälfte seiner 14 Spiele.

Alles andere als ideale Begleitumstände

Zwei Wochen vor Saisonstart übernahm er den vakanten Posten an der Seitenlinie der Lombarden, die sich gerade nach internen Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Ausrichtung des Klubs von Roberto Mancini getrennt hatten. 

Keine Vorbereitung mit der Mannschaft, eine fremde Fußballkultur samt neuer Sprache sowie ein Kader, der nach den Maßgaben seines Vorgängers zusammengestellt worden war. Die Begleitumstände, mit denen De Boer von Beginn an zu kämpfen hatte, waren alles andere ideal.

Dennoch wirkte der Holländer entschlossen, als er Anfang August der Öffentlichkeit als neuer Inter-Trainer präsentiert wurde: »Alle hier haben das gleiche Ziel vor Augen, nämlich den Klub wieder da hin zu bringen, wo er hingehört. Ich kann kaum erwarten bis es losgeht und Teil davon zu sein.«

Der beste Kader seit 2010

Gleichzeitig forderte De Boer aber Zeit. Seine Spielphilosophie werde erst am Ende des Jahres vollends zu erkennen sein, bis dahin seien Höhen und Tiefen zu erwarten, bekräftigte der Holländer.

Stets sprach De Boer von einem langfristigen Projekt, in Mailand zählen aber traditionell nur schnelle Erfolge. Dafür investierte der Verein dank der neuen Eigentümer aus China im Sommer so viel wie lange nicht mehr.

Der Einzelhandelsriese Suning, seit Mitte Juni Mehrheitseigner bei Inter, verpflichtete für insgesamt 130 Millionen Euro gefragte Top-Spieler wie den frischgebackenen Europameister João Mário oder den italienischen Nationalspieler Antonio Candreva.

Die italienische Medienlandschaft war sich nach der Transferoffensive von Inter einig: Der Kader, der Frank De Boer zur Verfügung stand, ist der Beste, seit José Mourinho im Jahr 2010 mit Inter das Triple gewann.


Der Einstand auf der Trainerbank ging bei einer 2:0 Pleite gegen Chievo Verona jedoch gründlich daneben. Entgegen den eigenen Ankündigungen zur neuen Spielphilosophie setzte De Boer in diesem Spiel nicht auf sein typisch-holländisches 4-3-3 System, sondern entschied sich für eine Dreierkette.

Eine Variante, die er nach dem Debakel gegen den Außenseiter nicht mehr wählen sollte und für die er sich erstmals öffentlich rechtfertigen musste. Die Spieler seien physisch nicht auf der Höhe, erklärte De Boer danach die Pleite und kritisierte damit indirekt seinen Vorgänger Roberto Mancini, der in Italien nach wie vor hohes Ansehen genießt.


Gegen ausländische Trainer

Von Beginn an waren die meisten Experten in der italienischen Medienlandschaft kritisch gegenüber dem neuen Inter-Trainer eingestellt, sie stuften die Verpflichtung als risikoreiches Experiment ein, das zum Scheitern verurteilt ist. In ihrer Argumentation genügte vielen dabei allein der Umstand, dass De Boer kein Italiener ist.

Corrado Orrico, einst Nachfolger von Giovanni Trapattoni auf der Trainerbank von Inter, wählte besonders harsche Worte: »Ich bin gegen ausländische Trainer. Sie wollen auf arrogante Art und Weise unseren Fußball verbessern, verstehen von der taktischen Komplexität unserer Liga aber wenig. Nur José Mourinho macht hier eine Ausnahme.«

De Boer betonte immer wieder öffentlich, dass er den Fußball bei Inter, immerhin der Verein, in dem der Catenaccio geboren wurde, revolutionieren wolle. Ballbesitzorientierter Fußball sei der Plan, genauso wie eine hoch stehende Abwehrreihe und schnelles Gegenpressing bei Ballverlusten tief in des Gegners Hälfte.

Peinliche Pleiten gegen Außenseiter

Phasenweise war die Handschrift des Holländers auch zu erkennen, er erntete nach dem überzeugenden Heimsieg gegen Erzrivale Juventus Turin am dritten Spieltag gar Lob von Trainerlegende Arrigo Sacchi. »Mir gefällt seine Fußballkultur, seine Art spielen zu lassen«, sagte der Italiener, fügte aber hinzu: »Das alles bringt hierzulande aber nichts ohne Konstanz.«

Doch es war gerade die neue Spielphilosophie, die Probleme verursachte und so etwas wie Konstanz gar nicht erst aufkommen ließ. Die weit aufgerückte Abwehrreihe zeigte sich stets anfällig für Konter, die Spieler haben auch Defizite bei der Grundschnelligkeit.

Vernachlässigte Defensive als Majestätsbeleidigung

Vor allem die Außenseiter überließen Inter gerne den Ball, weil sie wussten, dass sie bei der löchrigen Inter-Defensive zu Chancen kommen würden. Auf diese Weise setzte es zahlreiche Pleiten, vor allem die Europa League-Saison ist mit klaren Niederlagen gegen Außenseiter wie Hapoel Beer Sheva und Sparta Prag bislang ein Debakel.

Wenn jemand in Italien die Defensivarbeit vernachlässigt, dann empfinden das viele als Majestätsbeleidigung. Besonders dreist spottete Sky Italia-Experte Fabio Caressa über De Boer: »Mit einem holländischen Trainer in Italien zu spielen ist genauso sinnlos, wie wenn man mit einem Veganer eine brasilianische Churrascaria besucht.«

Die Spieler schienen zu keinem Zeitpunkt das neue taktische Konzept vollends verinnerlicht zu  haben. Nach der 1:2 Heimpleite gegen Atalanta Bergamo bekräftige Inter-Angreifer Éder die Bedenken der italienischen Experten: »Wir sind eine starke Mannschaft, aber keine Einheit. Wir schaffen es meist nicht, die Anweisungen auszuführen, die uns der Trainer gibt.«

Auch das Verhältnis zwischen dem Trainer und seinen Spielern soll nicht mehr das Beste gewesen sein. In typischer Van Gaal-Manier gab De Boer den holländischen Feldwebel, setzte vollends auf Disziplin und ging dabei keiner Konfrontation aus dem Weg. So rügte er die beiden Mittelfeldspieler Marcelo Brozovic und Geoffrey Kondogbia öffentlich für ihre Einstellung und das Missachten taktischer Vorgaben, bevor er sie nicht mehr berücksichtigte. 

Unrealistische Erwartungshaltung

Die sportliche Misere bei Inter ist aber freilich nicht nur am Trainer festzumachen. Noch während seiner Amtszeit beklagte sich De Boer, immerhin der achte Trainer seit dem Triple-Sieg 2010, über die unrealistische Erwartungshaltung bei den Mailändern. »Inter gewinnt seit fünf Jahren gar nichts, wie soll ich das in wenigen Wochen schaffen?«, fragte der Holländer nach einer Niederlage gegen Cagliari. 

Auch sein Bruder Ronald schrieb diese Woche in seiner Kolumne bei »Voetbal International« über die zahlreichen Nebengeräusche, mit denen so ein Engagement bei den Nerazzurri behaftet ist: »Als Trainer willst du dich mit Fußball beschäftigen, während es bei Vereinen wie Inter zu viel um indirekte Themen und politische Faktoren geht.«

Entlassung via Skype

Gemeint haben könnte der ehemalige Nationalspieler die undurchsichtigen Strukturen im Mailänder Verein nach dem Einstieg der chinesischen Investoren. Sie sollen Berichten zufolge De Boer aufgrund der geographischen Distanz via Skype entlassen haben.

Der Holländer gilt als Wunschkandidat von Noch-Präsident Erick Thohir, der allerdings nur mehr 29 Prozent der Anteile hält und diese wohl in den nächsten Monaten abtreten wird. Die Chinesen hatten sich einen renommierten Namen wie Laurent Blanc gewünscht, während Vize-Präsident Javier Zanetti und Sportdirektor Piero Ausilio Befürworter eines italienischen Trainers sind.

Der Schleudersitz wartet auf sein nächstes Opfer

Eine Rückkehr des Brasilianers Leonardo war die Wunschlösung von Ex-Patron Massimo Moratti, der zwar keine offizielle Rolle im Klub mehr inne hat, mit zahlreichen Ratschlägen in Interviews aber omnipräsent bleibt.

Heute Abend wird in der Europa League-Partie beim FC Southampton Interims-Coach Stefano Vecchi an der Seitenlinie sitzen, während die verschiedenen Instanzen im Hause Inter noch über den Nachfolger diskutieren.

Zanetti und Ausilio hätten gerne Ex-Lazio-Trainer Stefano Pioli, während es die Chinesen mit Blanc oder Guus Hiddink versuchen wollen. Der Schleudersitz auf der Inter-Trainerbank wartet auf sein nächstes Opfer.



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