Ich bin nur ein wenig abgespannt. Aber ich sollte mich vielleicht schon im Voraus entschuldigen: Meine Frau und ich sind erst gestern aus New York zurückgekehrt, und ich habe seitdem noch nicht mal Zeit für den Jetlag gehabt. Ehrlich gesagt, ich warte noch auf ihn.
Lassen Sie uns doch derweil über Ihre jüngsten Bücher reden. Sind Sie eigentlich anfällig für Stumpfsinn und Langeweile?Interessant, dass Sie mich danach fragen, weil ich meine Ansichten über die Langeweile in den letzten Jahren tatsächlich sehr verfeinert habe. Ich dachte immer, dass gar nichts langweilig sei: dass sogar etwas, was mir langweilig erschien, aus genau diesem Grund bereits wieder interessant war. Diese Auffassung ist ein Privileg der Jugend. Wenn man älter wird, erlebt man Langeweile fast wie einen körperlichen Angriff. Mein Vater, der ein großer Experte in Sachen Langeweile war und sie zeitlebens verabscheute, sprach immer von der „leidenschaftlichen Aufrichtigkeit der Langeweile", und früher habe ich ihn nie verstanden. Aber heute erscheint mir Langeweile als unerträgliche Folter. Als ich letztes Jahr im Irak war, dachte ich: Wenn ich entführt werden sollte, braucht man keine komplizierten Werkzeuge aufzubieten. Es genügt schon, mich zum Treffen eines Lehrer- und Elternverbands zu schicken, und ich würde alles sagen, was meine Entführer hören wollen.
In „Haus der Begegnungen", Ihrem soeben in deutscher Übersetzung erschienenen Roman über zwei Brüder, die im stalinistischen Russland auf unterschiedliche Weise die Schrecken des GULag erleben, bezeichnet der Erzähler die Langeweile als zweite Säule des Systems neben dem Terror.Ja, ich glaube, dass ein totalitärer Staat immer auch mit Langeweile operiert. Stellen Sie sich vor, wie erschreckt ich war, als ich nach Fertigstellung des Romans entdeckte, dass Saul Bellow in „Humboldts Vermächtnis" gleich mehrere Seiten über das Verhältnis zwischen Terror und Langeweile geschrieben hat. Das hatte ich vollkommen vergessen.
„Langeweile", so Bellow, „ist ein Werkzeug der sozialen Kontrolle." Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesem Gedanken und „The Second Plane", Ihrem Buch über die Anschläge vom 11. September? Darin mutmaßen Sie, dass das „Zeitalter des Terrors auch als Zeitalter der Langeweile" in Erinnerung bleiben wird.Wenn Sie auf die Frage hinauswollen, ob „Haus der Begegnungen" als Kommentar auf die Welt nach dem 11. September gelesen werden kann, muss ich Sie enttäuschen. Der Roman war eher ein Urlaub von der Beschäftigung mit diesem Thema. Ich habe mich vorher an einem autobiographischen Roman versucht, der um den 11. September kreist, aber irgendwie gelang es mir nicht, das Autobiographische mit der Problematik des Islamismus zusammenzubringen. Es ist schwierig, über einen historischen Zeitraum zu schreiben, während man ihn noch durchlebt. Man ist zwar erfüllt von unmittelbaren Eindrücken, aber die Phantasie, wie Norman Mailer richtig sagte, kann auf diese Eindrücke nicht schnell genug reagieren. Also ließ ich die Arbeit an dem anderen Buch ruhen und schrieb „Haus der Begegnungen", das auf den Recherchen basiert, die ich für „Koba der Schreckliche", meinem Sachbuch über Stalin, unternommen habe.
„Haus der Begegnungen" ist dennoch kein historischer Roman. Was erzählt er uns über die Zeit, in der er entstanden ist?Mein Erzähler nimmt im September 2004 an einer „Gulag Tour" teil und kehrt als Sechsundachtzigjähriger mit einem Touristendampfer zu dem ehemaligen Lager im Norden Sibiriens zurück, in dem er als junger Mann gefangen gewesen war. Seine Erinnerungen an den GULag werden in der Gegenwart von den Nachrichten über die Geiselnahme von Beslan durchkreuzt, die sich Anfang September 2004 ereignete. Insofern untersucht „Haus der Begegnungen" natürlich schon das Wesen des Terrorismus, obwohl es zwischen dem staatlichen Terror und dem als Privatunternehmen betriebenen Terror unserer Tage kaum Ähnlichkeiten gibt. Seit den Anschlägen vom 11. September hat sich unsere Sensibilität gegenüber derartigen Greueltaten stark verändert, und es ist erstaunlich, wie schnell man mit Erklärungen zur Hand ist, die beispielsweise das Phänomen der Selbstmordattentate zu entmystifizieren versuchen. Haben Sie gewusst, dass sich achtzig Prozent aller historischen Selbstmordattentate seit 2001 ereignet haben? Ich glaube, es ist Zeit, zu begreifen, dass es sich dabei um einen nihilistischen Kult handelt, der mit Religion kaum noch etwas zu tun hat.
Einmal abgesehen von der Fußnote, dass es sich bei Wladimir Putin um einen typisch „russischen Kriminellen" handele: Was erfahren wir aus Ihrem neuen Roman über Russland?Nun, der GULag war ein System der Versklavung, und es ist doch offenbar so, dass Russland sein Volk immer schon versklavt hat. Bis ins späte neunzehnte Jahrhundert war es das Bauerntum, das in Sklaverei lebte, und nach einer kurzen Blüte, in der es so schien, als würde das Zarentum in irgendetwas münden, das sich handhaben ließ, entstand ein Regime der Unterdrückung, das die Versklavung der Bevölkerung zur ökonomischen Basis der Gesellschaft machte. Das Wohl des Volkes war in Russland noch nie ein Anliegen des Staatsoberhauptes. Es ging immer nur darum, das Ansehen des Staates zu heben. Während die westlichen Wohlfahrtsstaaten heute immer mehr zu Marktstaaten werden, in denen der Bürger vor allem Kunde ist, bleibt Russland die Staatsnation, die es schon immer war.
Wie oft haben Sie Russland besucht?Ich war noch nie in Russland.
Eben. Ich hätte durchaus die Gelegenheit gehabt, Russland während der Arbeit an „Haus der Begegnungen" zu bereisen, hatte aber Angst, mit zu vielen Eindrücken zurückzukehren. Ich wollte mit dem Roman etwas Reineres schreiben, etwas Vergeistigteres, das in erster Linie ein Produkt der Vorstellung ist.
Der betagte Erzähler beschuldigt seine in den Vereinigten Staaten lebende Stieftochter, für die er seine Erinnerungen aufschreibt, einer Ideologie der Verwestlichung. Was ist gemeint?Wir haben für diese Ideologie verschiedene Namen: Relativismus, Multikulturalismus, Political Correctness. Ein Egalitarismus, der uns weiszumachen versucht, dass wir alle gleich sind und nichts besser ist als irgendetwas anderes. Diese Haltung schwächt uns auch im Umgang mit dem internationalen Terrorismus. Wenn Al Qaida zum Beispiel ein norwegisches oder südafrikanisches Phänomen wäre und sich ihre Art des Fundamentalismus in Oslo oder Johannesburg herausgebildet hätte, würden wir damit sehr hart ins Gericht gehen. Aber schon die Tatsache, dass es sich um mehr oder weniger dunkelhäutige Menschen aus Ländern handelt, die zum Teil vom Westen kolonisiert und ausgebeutet wurden, nötigt uns eine gewisse Sympathie ab und ein gewisses Verständnis für den Hass auf den Westen.
Sie haben sich mit Ihren politischen Äußerungen zuletzt nicht nur Freunde gemacht. Verständlich, wenn man Ihnen zuhört.Man duldet in der Diskussion politischer Realitäten eben keinen elitären Gebrauch der Sprache. Man erlaubt keinen Hinweis auf eine moralische Überlegenheit, die aber nun einmal Tatsache ist. Unsere Gesellschaft ist in moralischer Hinsicht viel weiter entwickelt als eine Gesellschaft, in der Leute von einem Mob in Stücke gerissen werden. Woran misst man denn die moralische Evolution einer Gesellschaft, wenn nicht am Kriterium der Gewaltbereitschaft? Natürlich provozieren derartige Äußerungen in unserer Kultur die ideologische Reaktion eines intellektuellen Mobs, der nur die Sprache der Euphemismen kennt und Angst hat, Anstoß zu erregen. Noch ein Bellow-Zitat: „Wenn du ein ruhiges Leben willst, widersprich niemals deinem Zeitalter."
„Das Rachel-Tagebuch", Ihr erster Roman, erschien vor 35 Jahren. Wissen Sie eigentlich inzwischen selbst, wovon Ihr Werk handelt?Ich habe schon seit einiger Zeit den Verdacht, dass sich alles um das Thema der Maskulinität dreht. Es ist doch ziemlich kompliziert, ein Mann zu sein. Aber ich sage Ihnen was: In meinem Alter vergeudet man nicht mehr so viele Gedanken auf das, was man bereits geschrieben hat, und ich will Sie auch schon mal warnen: Wenn man Ende vierzig, Anfang fünfzig ist, kann man es nicht fassen, wie schnell die Zeit vergeht, und das Leben erscheint einem durchsichtig und etwas dünn, bis dann etwas ganz Merkwürdiges passiert: Ein riesiges Gebiet eröffnet sich in einem selbst, und wissen Sie, was das ist?
Angst? Angst vor dem Tod? Oder vielleicht eine große, alles betäubende Müdigkeit?Nein. Es ist die Vergangenheit, von der man bisher gar nicht wusste, dass es sie überhaupt gab. Klar, man hatte das eine oder andere erlebt, aber man hatte doch keine „Vergangenheit". Und plötzlich tut sich dieses enorme Panorama vor einem auf, und man beginnt, die eigene Vergangenheit zu beurteilen: nicht die Bücher, die man geschrieben hat, sondern das eigene Leben und das Verhältnis zum anderen Geschlecht. Als Bellow starb, verschwendete er keinen Gedanken mehr an sein Werk: Er dachte nur noch an seine vier gescheiterten Ehen und fragte sich, ob er ein besserer Vater hätte sein können.
Mögen Sie darüber spekulieren, worüber Sie am Ende nachdenken werden?Ich habe schon ein wenig Angst, dass mir schließlich die eigenen Misserfolge zur Obsession werden könnten: die emotionalen Unzulänglichkeiten, ein Fehlen an Mut und Aufrichtigkeit. Aber im Moment stehe ich vor mir selbst noch ganz gut da.
Der 2005 gestorbene Bellow war über zwanzig Jahre lang ein Freund und Mentor, von dem Sie sagten, er habe nach dem Tod Ihres Vaters zwischen Ihnen und Ihrem eigenen Tod gestanden. Was bietet Ihnen heute Schutz?Gott sei Dank lebt ja meine Mutter noch. Aber es stimmt, man hat inzwischen ein anderes Verhältnis zum eigenen Tod. Saul sagte, der Tod sei die dunkle Seite, die ein Spiegel brauche, bevor er etwas reflektieren könne.
Profitiert der aktuelle Roman von dieser Erkenntnis? Im Gegensatz zu „Yellow Dog", Ihrem vor fünf Jahren beinahe einhellig verrissenen Roman, ist „Haus der Begegnungen" viel ernsthafter, weniger verspielt und ohne die für Ihr Werk bisher typische Satire.„Haus der Begegnungen" ist mein realistischster Roman, und es ist richtig, es gibt keine satirischen Aufmunterungen. Ich glaube, die brutale Rezeption von „Yellow Dog" hat gezeigt, dass Satire tot ist. Sie ist so entschieden gegen den Geist der Zeit, und je mehr das Leben selbst zur Satire wird, desto aufgebrachter sind die Leute, wenn man ihnen das auch noch sagt. Satire handelt von Ungleichheit, von boshafter Ungerechtigkeit und von dem, was Ärger und Empörung erregt. Davon zu reden ist heute nicht sehr populär.
Der Erzähler von „Haus der Begegnungen" erlebt sich und seinen Bruder nicht als Romanfiguren, sondern als „Figuren in einer Sozialgeschichte von unten - aus dem Zeitalter titanischer Nullen". Wie würden Sie die Sozialgeschichte charakterisieren, die Ihre Generation durchlebt hat?Die Generation der Babyboomer, wie wir immer weniger liebevoll bezeichnet werden? Wir sind ein silberner Tsunami, eine Horde hässlicher Immigranten, die sich im öffentlichen Dienst breitmachen und überall sonst. Ich glaube, das wichtigste Kapitel unserer Sozialgeschichte war die sexuelle Revolution, und es ist vermutlich kein Zufall, dass „The Pregnant Woman", der autobiographische Roman, an dem ich gerade arbeite, davon handelt. Es ist wieder ein Buch über das Individuum und die gesellschaftlichen Ideologien, von denen der Einzelne damals nicht mal ahnte, wie sehr sie sein Leben prägten. Meine Generation hat keinen Krieg erlebt, noch nicht jedenfalls, und möglicherweise ist das auch eine Erklärung für den Jugendwahn, der in den westlichen Ländern seit den Sechzigern herrscht. Wenn man älter wird, merkt man allmählich, dass man am anderen Ende dafür bezahlen muss. Die Jugend wird nach wie vor respektiert, aber das Alter? Danach wird doch heute Gesellschaft kategorisiert. Zum Hochadel gehören alle Fünfundzwanzig- bis Fünfunddreißigjährigen, zum niederen Adel alle zwischen 35 und 45, und wer auf die sechzig zugeht, wird automatisch Teil des Proletariats.
Ich glaube nun aber doch, Ihr Jetlag macht sich allmählich bemerkbar, Mr. Amis.Meine Generation war die erste narzisstische Generation. Heute ist Narzissmus natürlich längst Teil der Luft, die man atmet, doch damals war es etwas vollkommen Neues. Aber während der Jüngling der antiken Mythologie aus vergeblicher Liebe zu seinem Spiegelbild stirbt, ereilt meine Generation ein sehr viel grausameres Schicksal. Wir hören irgendwann einfach auf, unser Spiegelbild zu lieben. Es dauert Jahrzehnte, aber jedem von uns widerfährt es früher oder später unweigerlich.