Einmal sitzt Teju Cole auf einem Stein im Valser Rhein. Er ist vom Ufer hinabgestiegen, seine «Sinne sind wach, empfänglich für alle Reize, den Sinnenrausch», wie er in dem Essay «Erfahrung» schreibt, dem vielleicht grundlegendsten Essay aus Coles neuem Buch «Black Paper: Schreiben in dunkler Zeit». Bevor er die von Peter Zumthor entworfene Therme besucht, hält er einen Moment inne, um sich den Epiphanien des Augenblicks hinzugeben.
Cole schmeckt das Wasser, die «Mineralspuren und einen Hauch Sommerwiese». Er berührt Steine und Gras, erfühlt die Strömung des Wassers. In seinem Essay beschreibt der 1975 in den USA geborene und im nigerianischen Lagos aufgewachsene Schriftsteller und Fotograf den eigenen Körper als sensibles Instrument seiner Weltbeziehung. Er macht die eigene Erregung zum Ausgangspunkt einer essayistischen Betrachtung, die weit über das Persönliche hinausgeht und das Phänomen der Synästhesie ebenso streift wie die über alle Grenzen hinweg tönende Polyfonie kultureller Einflüsse.
Die Welt betrachten
Cole beschreibt in den Essays seine Begegnungen mit Malerei und Fotografie, mit der Musik Beethovens oder jener des westafrikanischen Sängers Kassé Mady Diabaté. Ihm widmet Cole eine der berührenden Elegien, in denen er verstorbener Freunde und Künstler gedenkt. Coles Begegnungen mit der Literatur, seine imaginären Dialoge mit Leitfiguren wie John Berger oder W. G. Sebald, die sein Empfinden geformt haben und ihm bei der Lektüre Momente wahrhaftigen Erlebens bescheren, durchdringen als Basso continuo das gesamte Buch.
Handlung und Dialoge, so Cole, seien schön und gut: «Doch der heimliche Grund, weshalb ich lese, der einzige Grund, sind genau jene Momente, da die Geschichte, die erzählt wird, die Welt mit wachen Sinnen betrachtet, die Dinge sieht, wie sie sind, oder sie träumt, wie sie sein könnten.»
So ist Coles ereignishafte Auseinandersetzung mit der Literatur und den anderen Künsten denn auch alles andere als ein zurückgezogenes Schwelgen in einem passiven Ästhetizismus. In seinem nicht zuletzt dank der formalen Vielfalt bisher faszinierendsten Essay-Band setzt der Schriftsteller fort, was Siri Hustvedt im Vorwort zu Coles Buch «Blinder Fleck» die «Erforschung des Verhältnisses zwischen dem körperlichen Bewusstsein und der sichtbaren Welt» genannt hat.
Tod in der Wüste
Es ist zuletzt die Konfrontation mit den Krisen der Zeit, Coles Weigerung, sich vor der Not und dem Leiden anderer zu verschliessen, aus dem er die Ethik ableitet, die seinem Werk zugrunde liegt. Er fühlt sich zu Caravaggios Bildern hingezogen, weil er in ihnen ein Mitgefühl für Heimatlose und Randexistenzen erkennt. Er beschreibt, wie er im Sommer 2016 auf den Spuren des Malers durch Italien reiste und an der sizilianischen Küste auf Flüchtlinge traf, die aus einem Boot aus Libyen gerettet worden waren. Und er erzählt Szenen von der amerikanisch-mexikanischen Grenze, wo er Dinge sah, die sein Zugehörigkeitsgefühl zu den USA veränderten: die Leichen jener Migranten, die in der Wüste ums Leben gekommen waren.
«Wie lässt sich die blosse Rezeption faktischer Gegebenheiten in Handeln umsetzen?» In «Black Paper: Schreiben in dunkler Zeit» verwandelt Teju Cole die Begegnungen mit Literatur und Kunst in die Zeugenschaft seiner eigenen Gegenwart. Genau deshalb reise und lese er, schreibt Cole: «Um zu ergründen, zu empfinden, zu erzittern, um die Gefahr zu bannen, dass konkrete Fakten nur eine passive oder gar nutzlose Reaktion erzeugen.»
Teju Cole: Black Paper: Schreiben in dunkler Zeit. Essay. Aus dem Englischen von Anna Jäger und Uda Strätling. Claassen-Verlag, Hamburg 2023. 320 S., Fr. 33.90.
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