Mr Ellroy, Sie arbeiten derzeit an einer neuen Tetralogie, in der Sie auf Material Ihres zwischen 1987 und 1992 erschienenen "L.A.-Quartetts" zurückgreifen und die Biografien der Figuren gewissermassen zwischen den Zeilen der früheren Romane fortschreiben. Worin besteht die Herausforderung dieser erneuten Auseinandersetzung mit dem eigenen Werk?
Der Kampf, den ich gewinnen muss, ist die Erschaffung einer zusammenhängenden fiktiven Geschichte, die nicht nur die im Los Angeles der Jahre 1946 bis 1958 spielenden Romane des "L.A.-Quartetts" sowie die Romane der "Unterwelt-USA-Trilogie" umfasst, die den Zeitraum vom Ende der fünfziger Jahre bis kurz vor Watergate 1972 abdeckt, sondern die noch weiter in die Vergangenheit zurückreicht. "Perfidia" - der erste Teil des "Zweiten L.A.-Quartetts", das ich nun in Arbeit habe - beginnt mit dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor, und auch die drei weiteren Romane dieser Werkgruppe werden während des Zweiten Weltkriegs spielen. Es fasziniert mich, meine und ihre Beziehung zu einigen der in meinen früheren Romanen auftretenden Figuren zu vertiefen und zu erzählen, welche Erfahrungen sie als jüngere Menschen machten. Dies ist die Geschichte, die meinen Namen sprach, und sie zu erzählen, ist beispiellos in der amerikanischen Literatur.
Allerdings hat bereits Faulkner Nebenfiguren des einen Romans zu Protagonisten eines anderen gemacht, Perspektiven auf seinen Stoff gewechselt und den Erzählzusammenhang seines fiktiven Bezirks im Staate Mississippi auf diese Weise mehr und mehr verdichtet.
Das mag sein, aber ich habe Faulkner nie gelesen und die Idee für das übergreifende Konzept meines Werks aus mir selbst heraus geboren. Nachdem ich Mitte der Achtziger mit "Die Schwarze Dahlie" den historischen Roman für mich entdeckt und die anderen Romane geschrieben hatte, fand ich im Zweiten Weltkrieg ein Ereignis, das bedeutend genug war, um meinem Verlangen zu entsprechen. Es ging mir einerseits darum, den Romanen des "L.A.-Quartetts" und der "Unterwelt-USA-Trilogie" eine feste historische Basis zu geben, aber darüber hinaus wollte ich auch etwas erschaffen, das der Sehnsucht nach einem überbordenden Epos gerecht wird, die ich seit meiner Kindheit hege. Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen grossen Roman gelesen, der seine Geschichte in epischer Breite erzählt und mich auf allen Ebenen befriedigt hat. Im Moment sehe ich mir gern zusammen mit einem Freund Fernsehserien an.
Vermutlich Serien wie "The Wire", die auch in Europa als innovativ gelten und längst Kultstatus geniessen.
"The Wire" ist der letzte Mist: tausend Meilen lang und nur einen Inch tief. Ich kann die Serie nicht ausstehen und bevorzuge "The Killing" - nicht die amerikanische Neuverfilmung, sondern das dänische Original, "Kommissarin Lund - Das Verbrechen". Aber selbst diese Serie hat Schwächen. Wenn ich also von einem Epos träume, von etwas wirklich Grossem, das alle meine Sehnsüchte erfüllt, muss ich versuchen, es selbst zu schreiben.
Weshalb ist die Grösse, das rauschhaft Überbordende, das Ihr Werk auszeichnet und den Leser mitunter auf faszinierende Weise überfordert, für Sie derart von Bedeutung?
Ich bin Amerikaner, die Dinge müssen für mich schon allein deshalb ein gewisses Format haben, aber davon abgesehen habe ich einfach eine Vorliebe für überbordende Kunst. Ich liebe die Sinfonien von Bruckner und Beethoven, die erste Sinfonie von Brahms. Ich verstehe dieses Bedürfnis, neue Wege zu ebnen, neues Gebiet zu erobern. Ich verstehe die geistige Gestaltung von Reichweite und Umfang.
Ihr literarischer Durchbruch kam 1987 mit "Die Schwarze Dahlie", wo Sie auf ein reales Verbrechen zurückgreifen. Elizabeth Short, das Opfer des grausamen und nie aufgeklärten Mordes, der im Zentrum des Romans steht, tritt auch in Ihrem neuen Buch "Perfidia" wieder auf. Short ist nicht nur eine zentrale Figur Ihres Werkes: Sie betrachten die Ermordung der Anfang 1947, mehr als ein Jahr vor Ihrer Geburt, in Los Angeles tot aufgefundenen Frau auch als Anfangspunkt Ihrer Biografie.
Das ist richtig. "After the first death, there is no other": Diese wundervolle Gedichtzeile von Dylan Thomas trifft auch auf mich zu. Elizabeth Short ist die erste Tote in meinem Leben, obwohl ihre Ermordung meiner Geburt vorausging. Nachdem 1958 meine Mutter ermordet worden war, wurde die Beschäftigung mit der legendären, ungeklärten Ermordung der "Schwarzen Dahlie" für mich zu einer Obsession, zum morbiden Subtext meines Lebens. In "Perfidia" ist Short noch ein Teenager, zum Zeitpunkt ihrer brutalen Ermordung wird sie zweiundzwanzig Jahre alt sein. Ich wollte sie in meinem neuen Roman in der Blüte ihres Lebens zeigen - temperamentvoll, intelligent, nicht nur als Leiche am Strassenrand wie in "Die Schwarze Dahlie". Ich möchte Elizabeth Short, deren Figur ich in den nächsten Romanen noch weiter ausformen werde, mit dem "Zweiten L.A.-Quartett" ehren.
Die Bandbreite des "historischen Romans", dem Sie Ihr Werk zuordnen, reicht von den Unterhaltungsromanen, die Ihre Mutter verschlang, bis zu "Libra", Don DeLillos Roman über Lee Harvey Oswald und die Ermordung John F. Kennedys, den Sie wiederholt als einen der wichtigsten Einflüsse auf Ihr Werk bezeichnet haben. Was verstehen Sie unter einem "historischen Roman"?
Ich will zurückgehen, in einer anderen Zeit leben und die Infrastruktur dieser Zeit verstehen. Ich will Figuren erfinden, die Seite an Seite mit echten Personen wie der "Schwarzen Dahlie" oder Leuten wie Bette Davis stehen. Das Los Angeles der in "Perfidia" beschriebenen Wochen befand sich rund um die Uhr in einem Zustand der Panik. Los Angeles war eine Schlampe, für die sich alles um Drogen, Alkohol und Sex drehte, die in unablässiger Angst vor den Angriffen der Japaner lebte, und ich will selbst in dieser Zeit leben und auf alle Details dieses historischen Zeitraums und dieses Ortes wie ein Hund meine Markierungen setzen. Darüber hinaus gibt es keinen übergreifenden Zweck, den ich verfolge.
Obgleich Sie in "Ein amerikanischer Thriller" schreiben, dass es an der Zeit sei, "eine Epoche von ihrem Mythos zu befreien und einen neuen Mythos zu begründen, der in der Gosse beginnt und nach den Sternen greift". Der Wunsch, eine Epoche zu entmythologisieren und die offizielle Geschichtsschreibung zu unterlaufen, scheint ein Anliegen zu sein, das Sie in all Ihren Büchern verfolgen.
Mich interessiert, wie äussere Ereignisse, gesellschaftliche und politische Umstände die Leben Einzelner beeinflussen, und welchen Einfluss andererseits der Einzelne auf die grössere Geschichte hat. Mich interessieren die moralischen Entscheidungen, die ein Mensch trifft, insbesondere die moralischen Entscheidungen der Menschen, deren Leben unbekannt sind und in der offiziellen Geschichtsschreibung sang- und klanglos untergehen.
Können Sie sich das alternative Leben von Lee Earle Ellroy vorstellen, des unbekannten, sang- und klanglos untergegangenen Sohns Ihrer Eltern, dem es nicht gelungen ist, das Werk zu schreiben, das ihm vorherbestimmt war?
Das kann ich mir unter keinen Umständen vorstellen, und ich war entschlossen, alles zu tun, um es mir niemals vorstellen zu müssen.
"Solange ich die Geschichte weiterspinnen kann, halte ich mir den Tod vom Leibe", so eine Figur in "Perfidia", aus der auch Ihre eigene Stimme zu sprechen scheint: "Ich enteile ins Damals, um mir weitere Augenblicke im Heute zu erkaufen." Weshalb ist der Tod eine beängstigende Vorstellung?
Ich möchte nicht sterben. Ich möchte die Menschen nicht zurücklassen, die ich liebe. Ich möchte niemals aufhören, Romane zu schreiben, aber ich habe dennoch einen festen Glauben an mein himmlisches Schicksal und werde Gott eines Tages aus vollem Herzen gegenübertreten. Ich bin überzeugter Christ, ich glaube an die im Neuen Testament beschriebenen Wunder. Ich glaube an die Erlösung und daran, dass unser irdisches Dasein nur eine flüchtige Reise ist, auf der wir den schrecklichsten Versuchungen ausgesetzt sind, denen ich zur Ehre Gottes zu widerstehen versuche. Gott hat mir eine besondere Gabe geschenkt, und mit seiner Hilfe habe ich die selbstzerstörerischen Triebe meiner Jugend überwunden, die mich fast das Leben kosteten. Im Alter von 67 Jahren sehe ich den grossen Entwurf von Gottes Welt deutlicher denn je, und dies spornt mich an, ein besserer Schriftsteller zu werden, meinem Werk mehr Tiefe zu geben und dem Nihilismus unserer Zeit entgegenzutreten.
Wo sehen Sie diesen Nihilismus?
Ich nehme ihn überall wahr. Die Menschen müssen die Kunst des Lesens von Romanen neu erlernen und nicht nur eine längere Aufmerksamkeitsspanne entwickeln, sondern auch ihr geistiges Curriculum erweitern. Wir leben in einer permissiven Gesellschaft, und jüngere Leute erzählen mir, dass ihre ganze Generation durch den Konsum von Internet-Pornografie verhunzt ist. Kinofilme sind zunehmend gewaltverherrlichend oder handeln von gigantischen, übernatürlichen Monstern, die die Erde heimsuchen. Die Unterhaltungsindustrie wird von dystopischen Visionen dominiert, vom Übernatürlichen, von Superhelden. Wir leben in einer Comic-Heft-Kultur, in der ich keinen Tiefsinn erkennen kann und die mir lediglich wie der Kinderkram von Leuten erscheint, die oberflächlichen, zumeist männlichen Beschäftigungen nachgehen. Ich möchte aus all dem heraustreten, mich vor dieser Welt verstecken und meinen Lesern etwas Besseres, Reichhaltigeres, Tieferes bieten.
Sie haben wiederholt beschrieben, wie Sie im Dunkeln liegen und nachdenken, bevor Sie die Arbeit an einem neuen Roman mit einem detaillierten Entwurf und ausführlichen Charakterisierungen der Figuren beginnen. Der erste Entwurf von "Blut will fliessen", dem Abschlussband der "Unterwelt-USA-Trilogie", war angeblich mehrere hundert Seiten lang.
Er war siebenhundert Seiten lang, und es ist ein wunderbares Gefühl, den grossen Bogen der Geschichte und die Figuren zu kennen, bevor man mit dem eigentlichen Schreiben beginnt. Auf der Basis eines Entwurfs, der alle Details rigoros festlegt, kann ich die Erregung, die ich dann beim Schreiben der einzelnen Szenen empfinde, voll ausleben. Die Erregung des Wahnsinns der amerikanischen Geschichte der sechziger und frühen siebziger Jahre, den ich in der "Unterwelt-USA-Trilogie" beschreibe. Den Wahnsinn des Stils von "Ein amerikanischer Albtraum", die extreme Verkürzung auf dieses Stakkato, das ich in "Blut will fliessen" und mehr noch in "Perfidia" wieder stärker ausformulieren musste, weil dies den Figuren des Romans entsprach. "Perfidia" ist das lateinische Wort für Verrat, und der Roman handelt von einem Verrat im Verrat im Verrat im Verrat, von persönlichem und geopolitischem Verrat, von Amerikas Verrat an den eigenen Idealen. Die Musik dieses Romans ist die der Sehnsucht, die anders klingt als das Stakkato der Schüsse in Dallas und des "Amerikanischen Albtraums" danach.
"Perfidia" ist aber auch ein Song von Alberto Dominguez, der im Roman von Glenn Miller gespielt wird. Die zahlreichen musikalischen Anspielungen in Ihrem Werk gehen zurück bis zum 1981 erschienenen ersten Roman "Browns Grabgesang", dessen ursprünglicher Titel "Concerto for Orchestra" lautete und auf Ihre vorhin erwähnte Liebe zur klassischen Musik anspielt. Insbesondere Beethoven, über den Sie im Memoirenband "Der Hilliker-Fluch" sagen, er habe Ihnen Partituren geschrieben, hat für Sie bis heute eine besondere Bedeutung.
Beethoven ist für mich die eindrucksvollste Verkörperung des Künstlers. Er bietet jeder Tyrannei die Stirn, er ist die Verkörperung der Aufklärung und der Reformation. Als ich ein Kind war, waren Sweatshirts mit seinem Konterfei en vogue. Können Sie sich vorstellen, was Beethoven damals für einen ambitionierten, von künstlerischen Sehnsüchten getriebenen Zwölfjährigen bedeutete? Er war für mich der grösste Künstler, den die Zivilisation je hervorgebracht hatte, und er hat mich gelehrt, mein eigenes Schicksal an der Gurgel zu packen. Das habe ich getan.