Miss Schenkar, als ich Patricia Highsmith im Herbst 1994 in ihrem Haus im Tessin besuchte, war sie nett, höflich und grosszügig. Nun erzählen Sie in Ihrer Biografie, Highsmith sei zeitlebens "nicht nett" und "selten höflich" gewesen, "und niemand, der sie gut kannte, hätte sie grosszügig genannt". Wer war die Schriftstellerin, der ich wenige Monate vor ihrem Tod begegnet bin?
Gegenüber jungen Leuten, die am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn standen, hat Highsmith sich oft so verhalten, weil sie aus eigener Erfahrung wusste, wie schwer es ist, Fuss zu fassen; aber Ihnen gegenüber scheint sie sich besonders grosszügig verhalten zu haben, weil sie zum Zeitpunkt Ihrer Begegnung längst am Sterben war. Sie war Ende 1994 bereits seit etwa zwei Jahren am Sterben und pflegte zu sagen, dass ihr Blut "sich schlafen gelegt" habe. Vermutlich konnte nur Patricia Highsmith, deren Leben vollkommen von der Metaphorik ihrer Obsessionen beherrscht wurde, an zwei rivalisierenden Krankheiten sterben. Durch die Behandlung der einen Krankheit verschlimmerte sich die andere: Highsmith starb also, wie sie gelebt hatte - in jenem chaotischen Konflikt unversöhnlicher, miteinander nie in Einklang zu bringender Zustände, aus dem natürlich ihr Werk hervorgegangen ist, der sich aber auch schon darin zeigte, dass sie als Amerikanerin im europäischen Exil lebte und in Europa über das "Museum der amerikanischen Leiden" schrieb, das sie mit sich ins Exil geschleppt hatte. Jeder ihrer Romane ist ein Raum in diesem imaginären Museum.
Können Sie das eine oder andere dieser "amerikanischen Leiden" benennen?
Im Grunde handelt es sich dabei um alles, was Amerika grossartig und nicht so grossartig macht, um den amerikanischen Exzeptionalismus und den unerschütterlichen Glauben an einen Individualismus, der auch Patricia Highsmith härter arbeiten liess, als sich dies mancher vorzustellen vermag. Sie schrieb nicht nur bis zu sieben Seiten täglich an ihrem jeweiligen Roman, sie führte auch äusserst akribisch Tage- und Notizbücher und eine Unzahl von Korrespondenzen. Der Glaube, dass man die Ärmel hochkrempeln müsse und als Einziger auf der Welt für seinen eigenen Erfolg und das eigene Glück verantwortlich sei, war in ihr ebenso fest verankert wie die Überzeugung, dass diejenigen, die arm oder erfolglos waren, selber schuld seien und dass mit ihnen irgendetwas nicht stimme.Ich bin auf genau die gleiche Weise im Glauben an den amerikanischen Exzeptionalismus erzogen worden, obwohl ich nicht einmal Protestantin, sondern Jüdin bin, und es ist vielleicht ein Glück für Highsmith, die zahlreiche antisemitische Ressentiments hegte und zugleich eine Vielzahl jüdischer Geliebter hatte, dass sie nun auch eine tüchtige jüdische Biografin gefunden hat. Ich musste für mein Buch eine vollkommen neue biografische Form finden, um der Komplexität und der inneren Widersprüchlichkeit von Highsmiths Charakter gerecht zu werden.
In der amerikanischen Literaturgeschichte hatte Highsmith lange keinen Platz, und als sie Anfang 1995 starb, hatte sie nicht einmal mehr einen amerikanischen Verleger. Wie sind Sie erstmals auf Highsmiths Werk gestossen?
Es stimmt, Highsmith spielte in Amerika lange Zeit keine Rolle, und als mir an einem regnerischen Tag in Massachusetts, wo ich einmal ein langweiliges Wochenende verbrachte, ein paar alte Paperbacks in die Hände fielen, hatte ich nie von ihr gehört, obwohl ich sehr belesen war. Ich war noch ziemlich jung, und zuerst fühlte ich mich zurückgestossen und empfand die Lektüre als unglaublich unerfreulich. Später fand ich, dass etwas, das mich derart abstiess, sehr interessant sein müsse, und als ich 1995 gefragt wurde, welcher verstorbene Schriftsteller es verdiene, in Erinnerung gebracht zu werden, nannte ich prompt Highsmiths Namen, obwohl ich bis zu ihrem Tod sogar vergessen hatte, dass sie überhaupt noch am Leben war. Irgendwie hatte sich Highsmith in mein Unbewusstes eingenistet, und obwohl ich zu diesem Zeitpunkt noch an einer anderen Biografie arbeitete, wusste ich, dass ich eines Tages zu ihr zurückkehren würde.Als ich später in ihren Tagebüchern blätterte und auf den Namen meiner längst verstorbenen Theateragentin stiess, einer sehr bekannten, ehrwürdigen Frau, die eine von Highsmiths Geliebten gewesen war, war ich schockiert. Ich hatte keine Ahnung von der sexuellen Orientierung meiner Agentin, wusste nicht, dass sie und Highsmith sich kannten, und las nun in allen Details die Beschreibung einer Liebesnacht, die die beiden miteinander verbracht hatten. Dies war allerdings nur der erste Schock, den mir Highsmith im Laufe der Jahre versetzte, denn sie ist natürlich voller tiefer, zerstörerischer Verunsicherungen. Als Biografin muss ich zwangsläufig Nähe zu der Person verspüren, über die ich schreibe, aber allein schon Highsmith zu mögen, ist eine Perversität, und die Hälfte der Zeit meiner Arbeit an dem Buch habe ich sie gehasst, weil sie jede einzelne meiner liberalen Überzeugungen untergrub. Auch die Tatsache, dass sie alles infrage stellt, dessen man sich sicher glaubt, ist einer der Gründe, weshalb sich Amerika mit ihr zeitlebens schwertat, während sie in Europa sehr sorgfältig gelesen wurde.
Zum Beispiel von Peter Handke, der sich bei der Lektüre "im Schutz einer grossen Schriftstellerin" fühlte.
Auf dem Terrain grosser Kunst, sehr richtig, aber dieses Terrain ist glatt und rutschig, und Highsmith leitet ihre Leser in die Irre, was bereits damit beginnt, dass ihr Werk schwer zu klassifizieren ist. Die Verlage sortierten sie natürlich gern zu den Kriminalromanen, aber Highsmith selbst fühlte sich Dostojewski sehr viel näher. Sie ist eine psychologische Schriftstellerin mit einer besonders perversen Note, die bei amerikanischen Buchhändlern nicht immer gut ankam und in den fünfziger Jahren, als Highsmith ihre ersten Romane veröffentlichte, gegen die allgemeine Nachkriegseuphorie verstiess. Es stand damals blendend um Amerika, und erst in den letzten Jahren hat mein Land zu Highsmiths Vision aufgeschlossen. Es dauerte vierzig Jahre, aber jetzt sind die Dinge in Amerika so finster, wie Highsmith sie sich vorgestellt hat, und ihre Romane werden nun von allen gelesen.
Ihre Biografie fasziniert nicht nur aufgrund der Komplexität von Highsmiths Persönlichkeit, die Sie äusserst differenziert schildern, sondern auch aufgrund der ungewöhnlichen, von Ihnen vorhin bereits erwähnten Struktur Ihrer biografischen Erzählung. Zum Beispiel haben Sie die "reinen Fakten" der recht umfangreichen Chronologie in den Anhang verbannt und im Text die Konvention der linearen Lebenserzählung aufgehoben.
Für mich ist das biografische Schreiben eine Form des literarischen Schreibens, und wie beim Schreiben meiner Theaterstücke vertraue ich auch beim Schreiben einer Biografie sehr auf meinen Instinkt. Die Struktur und den spezifischen Stil meiner Darstellung habe ich aus Highsmiths Leben und Werk heraus entwickelt, statt zu versuchen, ihr Leben in das Korsett dessen zu zwängen, was gemeinhin als biografische Darstellung gilt. Als Schriftstellerin war Highsmith nicht nur äusserst professionell, sondern überaus obsessiv, und die Vielzahl der Obsessionen, die sich von Anfang an durch ihr Leben zogen, sind daher das Leitmotiv meiner Biografie. Ähnlich verhält es sich mit dem Stil meines Buchs, der Sprache oder Stimme, der ganz spezifischen Symbolik und Metaphorik, die ich entwickelt habe, um Highsmith zu beschreiben. Als die Highsmiths 1927 von Texas nach New York zogen, hatte die kleine Patricia einen so starken texanischen Akzent, dass die Mitschüler ihrer Grundschule Probleme hatten, sie zu verstehen, und später schliff sie diesen Akzent so lange, bis er kaum noch zu verorten war. Für meine Biografie habe ich das amerikanische Englisch also so verwendet, dass es im Einklang ist mit jemandem, der diese Entwicklung durchlaufen hat, und nach jemandem klingt, der wie Highsmith schliesslich die längste Zeit des Lebens in Europa lebte. Manche Leute halten das Schreiben einer Biografie im Grunde für eine Art des journalistischen Schreibens, aber in meinen Augen ist es eine Kunst, und ich bin der Überzeugung, dass eine Schriftstellerin wie Patricia Highsmith eine Biografie verdient, die im Detail auf sie abgestimmt ist und selbst literarischen Ansprüchen genügt.
Der englische Romancier und Biograf Peter Ackroyd hebt die Trennung zwischen fiktionalem und biografischem Schreiben auf, wenn er sagt, dass jede Art des Schreibens Vorstellungskraft erfordere. Welche Rolle spielt die Phantasie beim Schreiben einer Biografie?
Die Phantasie kommt ins Spiel, wenn man alle Fakten, die man zuvor mühsam recherchiert hat, wieder vergisst und beginnt, seinem Unbewussten zu vertrauen. Man bereitet jeden Morgen einen Thron für die Muse und hofft, dass sie sich neben einem am Schreibtisch niederlässt, aber am Ende war es Highsmith selbst, die ihren Widerstand gegen mich aufgeben und zulassen musste, dass ich ihre Komplizin wurde. Empathie, Sympathie, Highsmiths geheimes Einverständnis, mit ihr zusammenzuarbeiten, waren für die Arbeit an der Biografie ebenso unabdingbar wie meine Vorstellungskraft, und anfangs spürte ich unmissverständlich, wie stark sich Highsmith mir widersetzte. Sie hasste jegliches Eindringen in ihre Privatsphäre, und in ihren letzten Lebensjahren gab sie Besuchern nicht einmal mehr die Hand, wie Sie sicherlich aus eigener Erfahrung wissen.Highsmith starb tausend Tode für die Liebe, aber sie mordete dafür nur in ihren Romanen. Doch sie hatte wiederholt die Angst, dass sie im Zustand der Trunkenheit oder eines Blackout einen anderen Menschen töten könne. Sie träumte von Mord, und erst, als ich Highsmith erlaubte, mit ihren Phantasien in meine Träume einzudringen, brach ihr Widerstand gegen meine Arbeit, und wir machten uns gemeinsam daran, Grenzen zu überschreiten und als Komplizen die Verbrechen zu begehen, die gute Literatur immer auszeichnen. Ich musste mir von ihr einen Reisepass für das Land ausstellen lassen, das sie erfunden hatte, und niemand, der "Highsmith Country" je betreten hat, wird diese Erfahrung wieder los. Als die komplizierte, fehlbare Person, die Highsmith war, hält sie der gesamten Menschheit einen Spiegel vor, und auch beim Schreiben meiner Biografie musste ich unablässig in diesen Spiegel blicken und darüber erschrecken, wie morbide und fehlbar ich selber bin. Highsmith zwang mich zu dieser Selbsterkenntnis, und das ist das Grossartige an ihr: Wenn man Highsmiths Romane sorgfältig liest, erfährt man etwas über sich, von dem man vorher nicht die geringste Ahnung hatte.
Joan Schenkar: Die talentierte Miss Highsmith. Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann und Karin Betz und Anna-Nina Kroll. Mit einem Bildteil. Diogenes-Verlag, Zürich 2015. 1072 S., Fr. 41.90.