Die dunklen Haare, das magere, irgendwie ausgemergelte, abgezehrte oder einfach nur schlanke Gesicht. Ein roter Rollkragenpullover, eine Jeans. Im Chefzimmer des Literarischen Colloquiums Berlin sitzt A.L. Kennedy an einem Tisch und erzählt von ihrer Arbeit an "Der letzte Schrei", ihrem neuen Erzählungsband. Links liegt ihre Brille, rechts eine einzelne, schon etwas angebräunte Banane. Bananen machen nicht dick, spenden Kraft und gute Laune und sind original verpackt sehr umweltschonend. A.L. Kennedy schwört daher auf Bananen, auf Lesereisen sind sie das ideale Handgepäck der 1965 im schottischen Dundee geborenen Schriftstellerin.
Literarische Welt:
"Also. Wieder auf Lesereise", schreiben Sie in "On Writing", Ihrem Buch über Ihr Leben als Schriftstellerin: "In meinen Zwanzigern ging es dabei um meine Hoffnungen und Unsicherheiten, in meinen Dreißigern vermutlich um das Schreiben selbst. In meinen Vierzigern scheint eine Lesereise mehr damit zu tun zu haben, anderen Menschen zu begegnen." Bald sind Sie fünfzig. Was geht Ihnen heute auf Lesereisen durch den Sinn?
A.L. Kennedy:
Mit der Zeit wird es immer weniger wichtig, wer man selbst ist, und ich glaube, dass ich mich in meinen Fünfzigern immer weniger darum scheren werde, wer ich bin oder was ich tue. Mit der Zeit verlieren bestimmte Dinge an Bedeutung, alles Unwesentliche fällt von einem ab. Aber ich kann mir vorstellen, dass es mir auch in Zukunft noch darum gehen wird, Menschen zu begegnen und über das zu reden, was von Bedeutung ist. Die politische Situation hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert, obwohl sich wesentliche Dinge im Grunde kaum jemals ändern, aber die Rolle der Literatur als ein Medium, das dem Leser ermöglicht, sich in andere hineinzuversetzen, als ein Medium, das die vorherrschenden, von anderen Medien erzählten Geschichten herausfordert, indem es abweichende Geschichten erzählt, ist von wachsender Bedeutung.
Haben sich die Hoffnungen und Unsicherheiten, mit denen Sie als junge Schriftstellerin angetreten sind, verflüchtigt?
Das nicht, aber man gewöhnt sich an sie. Bevor ich zu Hause abgereist bin, habe ich meinen neuen Roman abgeliefert, aber mein Lektor ist im Urlaub und wird sich vermutlich erst in drei oder vier Wochen bei mir melden, und mein Agent ist der langsamste Leser der Welt, sodass ich auch von ihm nicht wesentlich früher hören werde. Man hofft natürlich, der neue Roman ist okay, aber man weiß es nicht. Vielleicht schenkt einem die Erfahrung das Vertrauen, dass man nicht im großen Stil scheitern wird, aber weil man mit jedem Buch etwas Neues versucht, wiederholt man auch nicht seine Fehler, sondern macht Fehler, von denen man noch gar nichts weiß. Man wird allerdings nur besser, wenn man sich vollkommen auf das Schreiben konzentriert und sich nicht mehr von den unwesentlichen Dingen ablenken lässt. Als ich als junge Schriftstellerin an Orte wie das LCB kam, an denen sich alles um Literatur und ernsthafte Gedanken dreht, dachte ich, jeder wisse, was er oder sie tue, und hatte keine Ahnung, wie ich mich in einem solchen Umfeld richtig verhalten solle. Heute weiß ich natürlich, dass jeder Angst hat, sich falsch anzuziehen und etwas Dummes zu sagen, und ich fühle mich in dieser Hinsicht weniger unsicher.
Sie lehnen es ab, auf Lesereisen ins Flugzeug zu steigen und schreiben in "On Writing", dass Ihre Flugangst seit der Arbeit an "Day", Ihrem Roman über einen Heckschützen der Air Force im Zweiten Weltkrieg, zugenommen habe. Weshalb ist der Tod für Sie eine furchterregende Vorstellung?
Mir ist natürlich klar, dass ich eines Tages sterben werde, aber die Vorstellung, in einem Flugzeug zu sterben, hat für mich etwas höchst Unerfreuliches. In der Ausbildung hat man den Piloten der Air Force früher erzählt, dass nichts dabei sei, aus dem Flugzeug zu fallen, weil man aufgrund des fehlenden Sauerstoffes sofort das Bewusstsein verliere. Viele sind also ohne Fallschirm aus ihren brennenden Maschinen gesprungen, aber meine Recherche hat ergeben, dass sie nicht sofort bewusstlos wurden, und wenn ich heute in einem Flugzeug sitze und mir vorstelle, etliche Meilen über dem Erdboden mit Leuten, die ich überhaupt nicht kenne, abzustürzen, ist mir das ein Gräuel. Ich kann mich nicht von meinen Freunden verabschieden, habe aber genügend Zeit, darüber nachzudenken, und weil sich die Zeit ausdehnt, wenn besonders aufregende Dinge passieren, handelt es sich um eine Ewigkeit, die ich bei vollem Bewusstsein erlebe, bevor ich aufschlage. Ich möchte daher lieber anders sterben. Mir gefällt es außerdem nicht, dass ich bereits vor dem Betreten eines Flugzeugs grob behandelt werde und zum Beispiel meine Schuhe ausziehen muss, nur weil irgendwann einmal jemand eine Bombe in seiner Sohle versteckt hat. Bei dieser Schikane handelt es sich um eine unerträgliche Demonstration der Staatsgewalt, und ich habe wenig Lust, mit Leuten zu kooperieren, die sich derart unverschämt aufführen und mich vielleicht als Nächstes zwingen, meine Unterhose auszuziehen, weil sich auch dort ein Sicherheitsrisiko verbergen könnte. Das alles ist ein Witz.
Wie fühlt sich die Angst an, die Sie im Flugzeug erleben? Erzählt sie Ihnen etwas über die Natur des Menschen?
Die meisten meiner Ängste sind vollkommen irrational, was mir an ihnen fast schon wieder gefällt. Auf einer Fähre zum Beispiel bin ich die Ruhe selbst, obwohl die Dinger sehr gefährlich sind und die Wahrscheinlichkeit, bei einem Fährunglück ums Leben zu kommen, deutlich höher ist als bei einem Flugzeugabsturz. Züge entgleisen, Autos stoßen zusammen, und die Fahrt im Taxi zum Flughafen ist lebensgefährlicher als der Flug selbst. Nichts davon beunruhigt mich, aber sobald ich im Flugzeug sitze, stellen sich die ersten Symptome ein, mir wird übel, ich fühle mich ausgeliefert und sonderbar. Aber wenn in der Luft Turbulenzen auftreten und die Angst vollkommen ist, fällt alles von einem ab, alles wird plötzlich ganz einfach, und man ist vollkommen ruhig. Das ist jedoch nur der Anfang, und ich nehme an, dass auf diese Ruhe eine Zeit der Unruhe und Verzweiflung folgt.
"Wenn ich schon sonst nichts mehr zu sagen hatte und mir niemand mehr zuhörte", heißt es in Ihrem Essay "Stierkampf", in dem Sie über eine Schaffenskrise schreiben, die Sie bis an den Rand des Selbstmords gedrängt hat, "dann wollte ich wenigstens einen Weg finden, meinen Tod sprechen zu lassen."
Das in "Stierkampf" beschriebene Ereignis liegt lange zurück, aber auch die Figuren meiner Erzählungen erleben mitunter Qual und Verzweiflung. Um jedoch beschreiben zu können, was die Figuren fühlen, muss ich mich von mir selbst distanzieren, mich selbst vergessen. Ich selbst fühle beim Schreiben im Grunde gar nichts, und sogar als ich in "Stierkampf" über mich selber schrieb, lag die Verzweiflung längst hinter mir. Verzweiflung ist kein kreativer Zustand, Depression und Angst sind keine kreativen Zustände, was einer der Gründe dafür ist, weshalb sie so vollkommen unerträglich sind. Schreiben ist im Grunde das genaue Gegenteil dieser Gefühle, und es ist mit der Hoffnung verbunden, dass man jemandem, der Verzweiflung verspürt, etwas gibt, in dem er oder sie sich verlieren kann - etwas, das einen stützt oder die eigene Verzweiflung für die Dauer der Lektüre lindert. Schreiben ist für mich in einer Weise existenziell, die vielleicht auch Sartre gefallen hätte, der als Schriftsteller ebenfalls Dinge, Texte, Gedanken, zum Wohle anderer produziert hat. Der Sinn des Künstlers besteht darin, zum Wohle anderer etwas herzustellen, damit ein anderer Mensch mehr Erleben, mehr Fühlen haben kann - mehr Leben. Die Dauer und der Umfang des Lebens ist begrenzt, also stellt man weiteres Leben her, schenkt dem Leser weitere Erfahrung, weiteres Erleben. Um dies als Schriftsteller leisten zu können, muss ich mich auf eine ähnliche Weise sicher fühlen wie der in "Stierkampf" beschriebene Torero, der im Ring keinen Gedanken daran verschwendet, dass er sein Leben aufs Spiel setzt. Als Schriftsteller setzt du zwar nicht dein Leben aufs Spiel, es sei denn, die politischen Umstände zwingen dich dazu, aber du musst dich sicher genug fühlen, um alles auszudrücken, was du zu sagen hast, und mit dem Leser auf ähnlich existenzielle Weise tanzen zu können wie der Torero mit dem Stier. Im gemeinsamen Tanz erreicht man den Punkt, an dem man einander berührt und an dem der Schriftsteller den Leser ins Herz trifft, ohne ihn zu verletzen.
Worin lag die Notwendigkeit, ausgerechnet die in "Der letzte Schrei" erzählten Geschichten zu erzählen?
Ich bin vermutlich inzwischen doch schon zu alt, um diese Frage noch beantworten zu können. Es ist bei mir ähnlich wie bei einem Alkoholiker, den man fragt, wie er sich fühlt, wenn er nicht trinkt. Der springende Punkt ist ja gerade, dass man als Alkoholiker nie in der Situation ist, nicht zu trinken, und ähnlich verhält es sich bei mir mit dem Schreiben. Wenn mich etwas vom Schreiben abhält, beginne ich schnell, mich extrem unwohl zu fühlen. Schreiben ist eine körperliche Notwendigkeit, und sobald ich mit einer Geschichte fertig bin, nehmen die nächsten Ideen Gestalt an und werden lauter und lauter, bis eine Idee alle anderen verdrängt und dir abverlangt, sie auf angemessene Weise zum Ausdruck zu bringen. Als Schriftsteller kannst du nicht anders, als dieser Idee zu dienen. Sie ist wie der nächste Drink, der plötzlich vor dir steht.
Wie erklären Sie sich Ihre Abhängigkeit?
Ich schreibe gerade an einer Dokumentation über Alkoholiker, und ich nehme an, dass die gleichen Ursachen, die zum Alkoholismus führen, auch auf das Schreiben zutreffen: Zum Teil gibt es genetische Ursachen, zum Teil hat es mit der Gesellschaft zu tun, in der man lebt, und damit, dass man sich aufgrund seiner Veranlagungen zu jemandem konditioniert, der dieses oder jenes tut oder ist. Ich habe schon als Kind Geschichten erzählt und meinen Verstand in den letzten Jahrzehnten so entwickelt, dass es für ihn selbstverständlich ist, Geschichten zu erzählen und Figuren zu erschaffen, die nicht ich sind.
Sie haben auch "A. L. Kennedy" als jemanden bezeichnet, der "erklärtermaßen nicht existiert".
Es wäre langweilig, wenn ich mich auch noch bei der Arbeit mit mir selbst auseinandersetzen müsste.
Immerhin teilt Dorothy, die alternde Protagonistin der Story "Gnade üben", Ihren Geschmack für Bananen.
Ja, das stimmt, aber Bananen sind einfach die beste und nahrhafteste Option für ein Frühstück, im Grunde mag ich sie allerdings gar nicht besonders. Auf Lesereisen kommen manchmal Leute auf mich zu und erzählen mir von den Gefühlen, die meine Geschichten in ihnen ausgelöst haben, und meist sind sie enttäuscht, wenn ich ihnen sage, dass ich diese Gefühle beim Schreiben gar nicht hatte. Als Schriftstellerin ist es meine Aufgabe, eine Geschichte, einen Mechanismus herzustellen, der diese Gefühle im Leser auslöst. Die Geschichten sind Erfindung, eine Fälschung, der Zaubertrick eines Magiers, der mit seiner Arbeit eine Reaktion auslöst, die echt und wahrhaftig ist. Ich feile so lang an den Sätzen, an den Details einer Geschichte, bis Sie von einer Figur wie der des Mannes in "Nach Hause" zu Tränen gerührt sind. Ich konstruiere Ihr Mitgefühl und Ihre Tränen, und dies ist eine elende, sich über endlose Entwürfe hinziehende Schufterei, die sich nur ertragen lässt, wenn der Ursprung der eigenen Arbeit nicht Verzweiflung oder Schmerz ist, sondern Liebe. Wenn man Fotos betrachtet, die Schriftsteller bei der Arbeit zeigen, denkt man meist, sie würden unsäglich leiden, aber die Ernsthaftigkeit ihres Blicks ist lediglich Ausdruck einer Konzentration. Es ist wie kurz vor einem Kuss, wenn das eigene Gesicht sehr ernst und ruhig wird, weil man sich selbst vollkommen vergisst und nur noch an den anderen denkt. Man ist nicht ernst, man ist im Gegenteil voller Freude, und es ist diese Freude, mit der ein Schriftsteller an einer Geschichte arbeitet, damit der Leser seinen Kuss spürt.
A.L. Kennedy: Der letzte Schrei. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Hanser, München. 208 S., 19,90 €.