Der 1939 geborene Schriftsteller und Publizist Amos Oz wird immer wieder als Kandidat für den Literaturnobelpreis genannt. 2004 wurde ihm der "Welt"-Literaturpreis verliehen Foto: Getty Images
Amos Oz sieht müde aus, in Deutschland schläft er nie besonders gut. Die kurzen grauen Haare wirken ungekämmt, sein Blick ist still oder irgendwie nicht ganz wach. Vielleicht ist er auch nur sorgenvoll. Oz trinkt erst mal eine Tasse Kaffee. Er trägt einen schlichten Pullover, eine unauffällige Brille. Im Gespräch über "Judas", seinen grandiosen neuen Roman, in dem er abermals das bereits in mehreren seiner Bücher behandelte Thema des Verrats aufgreift, wird die Stille zum Ausdruck größter Konzentration, und der müde alte Mann verwandelt sich in einen faszinierenden, überaus geistesgegenwärtigen Erzähler. Oz spricht mit leiser Stimme, große Gesten hat er nicht nötig.
Die Welt: In Ihrem autobiografischen Meisterwerk "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" erwähnen Sie einen Augenblick im Jahr 1948, als Sie während der Belagerung Jerusalems allen Mut zusammennahmen und ihre Tante fragten, wer Jesus gewesen sei. Weshalb beschäftigt Sie diese Frage nach mehr als 65 Jahren noch immer so sehr, dass Sie sie in "Judas", Ihrem neuen Roman abermals stellen?
Amos Oz: Die Geschichte von Jesus hat mich schon fasziniert, bevor ich als Kind zum ersten Mal das Neue Testament las, und insbesondere Jesus' Beziehung zu Judas erschien mir immer als sehr rätselhaft. Mein Großonkel Joseph Klausner, ein seinerzeit sehr bekannter Religionswissenschaftler, vertrat die Ansicht, dass Jesus als Jude geboren und gestorben sei, und ich habe in all den Jahren meines inzwischen langen Lebens nie eine Erklärung dafür gefunden, weshalb Judas ihn verraten haben soll. Warum sollte ein mehr oder weniger wohlhabender Mann aus Judäa für dreißig Silberstücke einen Verrat begehen? Ein Betrag, der heute vielleicht 800 Euro entsprechen würde. Weshalb musste Judas Jesus durch einen Kuss identifizieren, wenn ganz Jerusalem wusste, wie er aussah, nachdem er dort gepredigt hatte? Die Geschichte kam mir also immer irgendwie unglaubwürdig vor, aber sie hat mich nie losgelassen, weil Judas in gewisser Weise das Tschernobyl des Antisemitismus verkörpert. Seit zweitausend Jahren sind wir Juden für die Judenhasser Judas, und in manchen Sprachen, im Deutschen zum Beispiel, sind Jude und Judas beinahe dasselbe Wort, und was es bedeutet, ist schlicht und einfach dies: Verräter. Ich hatte allerdings nie vor, einen historischen Roman zu schreiben, in dem die Figuren in Sandalen herumspazieren, sodass ich die Geschichte des Judas in meinem Roman mit der Geschichte mehrerer anderer sogenannter Verräter verbunden habe.
Die Welt: Dennoch spielt "Judas", dessen Hauptfigur, der Student Schmuel Asch, Ihr Interesse an Jesus und Judas teilt, Ende der Fünfzigerjahre. Weshalb haben Sie die Geschichte nicht in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts angesiedelt?
Amos Oz: "Judas" ist ein Jerusalem-Roman und gehört in die Zeit vor dem Sechstagekrieg und der angeblichen Vereinigung Jerusalems. Aber es gibt einen weiteren, sehr persönlichen Grund, und den will ich Ihnen nicht verheimlichen: Ich bin im Laufe der Zeit von meinen israelischen Landsleuten selbst wiederholt als Verräter beschimpft worden, aber wie Schmuel Asch im Roman bin ich der Meinung, dass ein Verräter oft nur ein Mensch ist, der sich in den Augen derer, die sich nie verändern und jeden Wandel fürchten oder hassen, einer Veränderung unterzieht. In anderen Worten: Als Verräter wird oft jemand bezeichnet, der seiner eigenen Zeit voraus ist. Die Geschichte ist voll solcher Menschen: Abraham Lincoln wurde von Millionen Amerikanern als Verräter bezeichnet, als er die Sklaven befreite. Churchill wurde als Verräter bezeichnet, als er nach dem Zweiten Weltkrieg die Auflösung des Britischen Empire propagierte, und Charles de Gaulle wurde als Verräter bezeichnet, als er Frankreich aus Nordafrika zurückzog. Anwar al-Sadat wurde als Verräter bezeichnet, als er nach Jerusalem kam, um mit den Israelis Frieden zu schließen, und Menachem Begin, Sadats israelischer Verhandlungspartner, wurde ebenfalls als Verräter bezeichnet, weil er den Frieden mit der Rückgabe der Sinai-Halbinsel an Ägypten bezahlte. Sadat wurde für seinen angeblichen Verrat sogar ermordet, und auch Yitzhak Rabin musste für seinen "verräterischen" Einsatz für den Frieden mit den Palästinensern mit dem Leben bezahlen. Sie sehen, der Club der Verräter ist ein sehr ehrenwerter Club, und ich bin stolz, darin Mitglied zu sein.
Die Welt: In Ihrem Roman "Verse auf Leben und Tod" erzählen Sie, wie Sie als Schriftsteller andere Menschen beobachten und über deren Leben fantasieren - das haben Sie schon als Kind in den Jerusalemer Kaffeehäusern getan. Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass Sie in Ihren Büchern keinen Verrat an den Menschen verüben, deren Geschichten Sie nachspionieren?
Amos Oz: Ich habe keine Gewissheit, und vielleicht verübe ich an diesen Menschen in gewisser Hinsicht tatsächlich Verrat. Das einzige, was ich zu meiner Verteidigung sagen kann, ist, dass ich nicht wie ein Paparazzi arbeite und in meinen Büchern nicht einfach nur den Schnappschuss eines anderen Menschen zeige. Als "Unter Freunden" veröffentlicht wurde, der im Kibbuz spielende Zyklus von Erzählungen, haben natürlich alle meine alten Freunde und Nachbarn aus Kibbuz Hulda, in dem ich mehr als dreißig Jahre gelebt hatte, sofort nachgeschaut, ob sie sich selbst in den Erzählungen entdecken. Aber niemand von ihnen hat ein bekanntes Gesicht gefunden, denn der Vorgang, die eigenen Beobachtungen und das, was man anderen Menschen anzusehen vermeint, in eine Geschichte zu verwandeln, ist äußerst komplex und vielleicht sogar ein wenig mysteriös. Ich bin mir bei der Arbeit sehr oft bewusst, dass mein Schreiben auf persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen basiert, aber ich kann kaum jemals sagen, auf welchen Erfahrungen und auf welchen Beobachtung. Vielleicht übe ich also Verrat an dem einen oder anderen Menschen, der eine Erzählung angeregt hat, aber dieser Mensch wird das nie erfahren, weil er sich in meiner Geschichte nicht wiedererkennen kann.
Die Welt: Hat Ihnen das intensive Beobachten Erkenntnisse über die menschliche Natur verschafft oder teilen Sie die Meinung Ihrer Mutter, die Ihnen als Kind sagte, dass es schon unmöglich sei, die einem am nächsten stehenden Menschen wirklich zu kennen?
Amos Oz: Wenn Sie jetzt eine philosophische oder soziologische Antwort von mir erwarten, muss ich Sie enttäuschen. Ich bin kein Philosoph. Ich erinnere mich an Zeilen des israelischen Lyrikers Natan Zach, der in einem seiner frühen Gedichte in etwa schrieb: "Dies ist ein Lied über Menschen. Über das, was sie denken, über das, was sie wollen und über das, von dem sie denken, dass sie es wollen." Damit ist auch mein Werk sehr gut beschrieben. Dennoch habe ich im Laufe meines Lebens ein oder zwei sehr schlichte Erkenntnisse gewonnen. Eine davon ist, dass Komödie und Tragödie nicht die unterschiedlichen Planeten sind, als die man sie uns in der Schule verkauft. Es handelt sich eher um zwei unterschiedliche Fenster, durch die man das Leben betrachten kann, und deshalb bemühe ich mich in vielen meiner Bücher, dasselbe Ereignis aus zwei Perspektiven zu betrachten und sowohl humorvoll als auch tragisch und herzzerreißend darzustellen. Eine andere Erkenntnis ist, dass jeder von uns nur sehr wenig über sich selber weiß, und ich schließe mich davon nicht aus. In dieser Hinsicht folge ich also tatsächlich der Meinung meiner Mutter, aber ich halte es für keine Zeitverschwendung, es immer wieder zu versuchen, sich selbst zu entschlüsseln und zu entziffern. Eine dritte Erkenntnis vielleicht noch: Der Mensch ist in der Lage, sich immer wieder selbst zu überraschen, und diese Eigenschaft fasziniert mich über alle Maßen.
Die Welt: Nach dem frühen Tod Ihrer Mutter sind Sie als 14-Jähriger in den Kibbuz eingetreten, um Traktorfahrer zu werden. Haben Sie sich selbst überrascht, als Sie erkannten, dass es dennoch unmöglich war, mit der bildungsbürgerlichen und intellektuellen Tradition Ihrer Familie zu brechen?
Amos Oz: Diese Frage bringt uns abermals auf die Problematik von Treue und Verrat. Als ich im Alter von vierzehn Jahren meinen Nachnamen von Klausner zu Oz änderte und gegen die Welt meines Vaters rebellierte, habe ich in voller Absicht Verrat an den Klausners geübt. Mir war damals nicht klar, dass sich unter diesem Verrat eine tiefere Art der Loyalität verbarg, und es brauchte Jahre, bevor ich mir dessen bewusst wurde. Heute lebe ich in einem Zimmer voller Bücher und schreibe selbst sogar noch weitere Bücher, tue also ganz genau das, was sich mein Vater immer von mir erhoffte hatte. Viele Revolutionen kehren irgendwann an ihren Ausgangspunkt zurück und schließen am Ende den Kreis, das ist nichts Überraschendes. Aber ich streite mit meinem Vater noch immer über Politik. Er starb vor vierundvierzig Jahren, und dennoch vergeht kaum ein Tag, an dem wir uns nicht über Politik die Köpfe heißreden.
Die Welt: Haben Sie an Gott geglaubt, als Sie in den Kibbuz eingetreten sind?
Amos Oz: Nein, ich habe nicht an Gott geglaubt. Ich glaubte daran, die Welt zu reformieren und daran, dass eine reformierte und gerechte Gesellschaft einen unmittelbaren Einfluss auf die Natur des Menschen haben würde. Daran, dass der Mensch zu einem besseren Wesen werden könne. Aber ich habe mich geirrt, und die Begründer des Kibbuz haben sich ebenfalls geirrt. Sie hatten geglaubt, dass sich der Mensch ändern würde, wenn die sozialen Regeln des Spiels verändert werden - dass Neid und Kleingeistigkeit verschwinden würden, dass Gier und Klatsch und üble Nachrede verschwinden würden. Aber die Natur des Menschen ändert sich nicht, und darin haben wir alle uns getäuscht. Zu unserer Verteidigung muss ich allerdings sagen, dass die Kibbuzbewegung im Unterschied zu anderen Versuchen, die Gesellschaft zu verändern, kein Blut vergossen hat. Es handelte sich um das einzige soziale Experiment im zwanzigsten Jahrhundert, das ohne Gulags, Folterkammern und Geheimpolizei ausgekommen ist. Im Kibbuz gab es nicht einmal eine Polizeiwache, weil Klatsch und Tratsch die Rolle des Polizisten übernommen hatten.
Die Welt: Wenn es Marx nicht gelungen ist, an die Stelle des Talmud zu treten: Kann der Glaube an die Literatur dies tun und das Vakuum der menschlichen Sehnsüchte ausfüllen?
Amos Oz: Fragen Sie mich, ob die Literatur die Welt verändern kann? Das kann sie vermutlich nicht, aber ich glaube, dass sie ein oder zwei andere gute Dinge verrichten kann. Das Lesen guter Romane, guter Erzählungen und Gedichte erlaubt dem Leser, sich das Leben anderer vorzustellen, sich in die Schuhe und sogar in die Haut eines anderen hineinzuversetzen, und das ist keine schlechte Sache. Ich habe Neugier immer für eine moralische Tugend gehalten und glaube, dass ein neugieriger Mensch ein besserer Mensch ist als jemand, der nicht neugierig ist. Der neugierige Mensch fragt: "Wie wäre es, wenn ich an der Stelle des anderen wäre?" Ich glaube sogar, dass ein neugieriger Mensch ein besserer Liebhaber ist, aber es ist vielleicht noch zu früh am Tag, um über diesen Aspekt der Neugier zu sprechen. Ein guter Leser ist immer auch ein neugieriger Leser, und das gleiche gilt für einen Schriftsteller. Mein Freund Siegfried Lenz zum Beispiel hatte die Neugier eines Kindes, und ich liebte ihn dafür. Er hat nie aufgehört, Fragen zu stellen.
Die Welt: Beschreibt diese Neugier bereits die "moralische Vision", von der es in "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" heißt, dass sie neben seinem Pathos die wahre Größe eines Schriftstellers ausmache?
Amos Oz: Ich habe Ihnen von dem Irrglauben, die Welt im großen Rahmen revolutionieren zu können, bereits erzählt. Heute glaube ich an die kleinen Gesten. In "Judas" erwähne ich, wie Judas kurz bevor er sich erhängte, mit dem Gedanken spielte, ein hässliches schwangeres Dienstmädchen zu adoptieren, das er gerade in einer Gastwirtschaft getroffen hatte, und sich eines kranken streunenden Hundes anzunehmen. Das ist nicht viel, aber es ist etwas. Es ist wie in der Geschichte vom Teelöffel, die ich immer wieder gern erzähle: Wenn irgendwo ein großes Feuer ausbricht, kann ich drei Dinge tun. Ich kann davonlaufen und diejenigen, die nicht laufen können, verbrennen lassen. Oder ich kann protestieren, sodass diejenigen, die für das Feuer verantwortlich sind, zur Rechenschaft gezogen werden. Und als dritte Möglichkeit kann ich nach einem Eimer Wasser greifen und versuchen, das Feuer zu löschen. Wenn ich keinen Eimer habe, nehme ich ein Glas, und wenn ich nicht einmal ein Glas habe, dann nehme ich einen Teelöffel, um Wasser ins Feuer zu schütten. Ein Teelöffel ist natürlich sehr klein und das Feuer ist riesig, aber wenn viele von uns einen Teelöffel benutzen, können wir das Feuer vielleicht gemeinsam löschen. Verglichen mit den Visionen, die ich als junger Mann hatte, ist dies nicht viel, aber ich würde sagen, diese Geschichte ist der Kern meines Glaubensbekenntnisses.
Die Welt: Zeugt es nicht von Niederlage und Desillusionierung, wenn man eine große "moralische Vision" zugunsten des gesunden Menschenverstandes aufgibt?
Amos Oz: Ich bin zweifellos desillusioniert, was die edelmütigen Visionen und magischen Formeln der Religionen und Ideologien betrifft. Ich bin desillusioniert, weil ich einen großen Teil des zwanzigsten und den Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts durchlebt und mit eigenen Augen gesehen habe, was sich Menschen der Erlösung willen oder als Wiedergutmachung angetan haben. Ich habe in meinem Leben selbst zweimal auf Schlachtfeldern gekämpft und erlebt, wie Menschen kämpfen und einander umbringen. Es gibt nur sehr wenige Dinge, die es wert sind, das eigene Leben oder das Leben eines anderen zu opfern.
Die Welt: Über Ihre Erlebnisse im Sechstagekrieg 1967 und im Jom-Kippur-Krieg sieben Jahre später haben Sie bisher kaum geschrieben. Trotz allem, was Sie erlebt und erfahren haben: Was rettet Ihren Glauben, dass die Literatur im Angesicht aller Gräuel und des gesamten Leids dieser Welt überhaupt bestehen kann?
Amos Oz: Auch wenn ein Roman die Welt nicht ändern kann, so kann er dem einen oder anderen Leser dennoch Trost spenden und ihm das Gefühl geben, dass er mit seiner Einsamkeit nicht allein ist in der Welt. Dass seine Einsamkeit nicht die einzige Einsamkeit ist. Ein Roman verspricht keine Erlösung, aber er kann uns ihr einen kleinen Schritt näher bringen. Soll ich Ihnen einen jüdischen Witz erzählen, der illustriert, was ich meine? Er handelt von zwei Bettlern, die in Paris vor dem Eiffelturm stehen. Sagt der eine: "Verkaufst Du mir den Turm?" Worauf der andere erwidert: "Für 250 Millionen Dollar gehört er Dir." Die beiden verhandeln eine Weile und einigen sich schließlich auf einen Preis von 200 Millionen Dollar. Der eine Bettler zückt seinen Kugelschreiber und setzt den Vertrag auf, dann schütteln sie sich die Hände und trennen sich. Aber ein Fremder hat die Verhandlungen beobachtet und geht auf einen der Bettler zu: "Was sollte das," sagt er. "Deinem Freund gehört der Eiffelturm nicht, und Du hast keinen Cent in der Tasche, um ihn zu bezahlen. Was haben Dir diese Verhandlungen eingebracht?" Woraufhin der Bettler lacht, in seine Tasche greift und sagt: "Seinen Kugelschreiber!" Es gibt also etwas, das die Mühe lohnt, auch wenn es sich im Vergleich zu unseren Träumen klein und scheinbar unbedeutend ausnimmt. Einen Leser neugierig und mitfühlend zu machen, ist eine moralische Dimension guter Literatur.
Die Welt: Vor dreißig Jahren sagten Sie noch, Sie würden schreiben, "um böse Geister zu vertreiben." Gilt das noch?
Amos Oz: Nein, das würde ich heute nicht mehr sagen. Ich bin inzwischen sehr viel weniger ambitioniert, aber von Zeit zu Zeit schreibe ich noch immer einen wütenden politischen Artikel oder Essay und wünsche meine Regierung zum Teufel. Die Regierung liest meine Artikel, aber sie denkt leider nicht daran, zum Teufel zu gehen. Weil ich aber mein ganzes Leben mit der Sprache gearbeitet habe, fühle ich eine gewisse Verpflichtung, als eine Art Rauchmelder der Sprache zu fungieren. Manchmal bin ich sogar die Feuerwehr der Sprache, weil ich aus Erfahrung weiß, dass die Kontamination und Entmenschlichung der Sprache der erste Schritt zur Entmenschlichung der Realität ist. Wenn Menschen als "Parasiten" oder als "unerwünschte Personen" oder "negative Elemente" bezeichnet werden, ist es nur eine Frage der Zeit, bevor sie entmenschlicht und verfolgt werden. Ich erhebe also meine Stimme und schreie auf. Ich habe im Laufe der Jahre Hunderte politischer Artikel geschrieben, aber auch damit habe ich die Welt nicht verändert. Ich komme lediglich einer Verantwortung nach, die ich als Schriftsteller verspüre.
Die Welt: Anders als Ihr politischer, von Zorn und tiefen Überzeugungen geleiteter Aktivismus entspringen Ihre Romane und Erzählungen einem Verstand, der mit sich selbst "zum Teil uneinig" ist, wie Sie gesagt haben. Welche Fragen bleiben nach fünfzig Jahren des Schreibens nach wie vor ungelöst?
Amos Oz: Die entscheidende Frage, auf die ich noch immer keine Antwort finde, ist die nach dem Ursprung des Bösen. Überall um mich herum sehe ich Grausamkeit - in der Geschichte, in der Nachbarschaft, manchmal sogar innerhalb einer Familie. Ich versuche, diese Grausamkeit zu entschlüsseln, aber ich finde keine Antworten, abgesehen von meiner klaren Gewissheit, dass das Böse existiert. Aber weshalb? Woher kommt es? Die Wissenschaften lehren uns, dass das Böse von Armut und Existenznot herrührt, von einer schwierigen Kindheit oder einer komplizierten Psychologie und emotionalen Wunden. Dies wissen wir von Marx und Freud, von Max Weber und allen möglichen anderen Denkern. Aber ich bin nicht überzeugt. Ich habe den Eindruck, dass in vielen, wenn nicht in allen von uns ein Gen des Bösen existiert, das nicht durch unser soziales Umfeld bestimmt wird, durch das Leid, das wir als Kinder erfahren haben oder durch andere äußere Einflüsse. Diese Frage beunruhigt mich, ja. Die Frage nach den Ursprüngen des Bösen belastet mich sehr, und ich weiß nicht, ob ich jemals eine befriedigende Antwort darauf finden werde, zumal jede Antwort neue Fragen aufwirft und es in dieser Welt ohnehin mehr Fragen als Antworten gibt.
Die Welt: Ist die Seele unsterblich?
Amos Oz: Wenn Sie mich das in ein paar Jahren noch einmal fragen, kann ich Ihnen die Antwort verraten.
Die Welt: Können Sie sich das Leben von Amos Klausner im Alter von 75 Jahren vorstellen?
Amos Oz: Das tue ich die ganze Zeit, im Grunde verdiene ich genau damit mein Geld. Ich trinke morgens eine Tasse Kaffee, setze mich an meinen Schreibtisch und frage mich: "Was wäre, wenn ich ein anderes Leben geführt hätte? Was, wenn ich einen anderen Beruf ergriffen oder eine andere Frau geheiratet hätte?" Ich stelle mir fortwährend das Leben anderer vor, und manchmal bin ich dieser andere selbst.
Die Welt: Wie ist Ihre gegenwärtige Gefühlslage? Fühlen Sie sich sicher und geschützt oder von der Auslöschung bedroht?
Amos Oz: Nein, ich fühle mich alles andere als sicher und geschützt und mache mir die größten Sorgen über die Zukunft meiner Kinder und Enkelkinder. Ich fühle mich sehr unsicher, und ich denke, dass es für Israel eine Frage von Leben und Tod ist, mit den Palästinensern und wenigstens einigen der arabischen Länder Frieden zu schließen.
Die Welt: Sie wurden 1939 geboren, im selben Jahr wie Reuven Rivlin, der im Sommer Schimon Peres im Amt des israelischen Staatspräsidenten nachgefolgt ist.
Amos Oz: Wir sind in Jerusalem zusammen zur Schule gegangen, bevor ich in den Kibbuz eintrat. Er war der beste Tänzer der Klasse und vielleicht sogar der gesamten Schule, und alle Jungs haben ihn darum beneidet. Etwas, das ich von ihm lernen könnte.
Die Welt: Was könnte Rivlin von Ihnen lernen?
Amos Oz: Fragen Sie ihn.
Die Welt: Zwar sind Sie nicht das Buch, das Sie als kleiner Junge werden wollten, weil Sie glaubten, Bücher könne man anders als Menschen nicht wie Ameisen töten oder systematisch vernichten: Haben Sie im Alter von 75 Jahren den Eindruck, wenigstens der Held Ihres eigenen Lebens geworden zu sein?
Amos Oz: Ich hatte als Kind tatsächlich den Wunsch, zu einem Buch zu werden, weil ich glaubte, dass wir alle sehr bald in Jerusalem ums Leben kommen würden. Aber in den letzten fünfundsechzig Jahren habe ich diesen Wunsch nach und nach aufgegeben, und heute bin ich ein für mein Leben sehr dankbarer Mensch. Ich wache jeden Morgen vor Sonnenaufgang auf und spaziere in Tel Aviv, wo ich inzwischen wohne, im Park. Ich bin um diese Uhrzeit ganz allein, und die Sonne geht nur für mich auf. Ich lausche den Vögeln, und sie singen nur für mich. Ich habe den Drang, vor Freude in die Hände zu klatschen und bin erfüllt von der Dankbarkeit für das Schauspiel der aufgehenden Sonne.