John Burnside, in "Haus der Stummen" unternimmt Ihr Erzähler das seiner Meinung nach bedeutendste Experiment, "das ein Mensch nur unternehmen kann, nämlich den Versuch, den Sitz der Seele zu finden, jenes einzigartigen Geschenks, das uns von den Tieren unterscheidet". Worin gründet Lukes Verlangen, dieses Experiment durchzuführen, und was meint er, wenn er von "Seele" spricht?
In gewisser Weise habe ich diese Figur erfunden, um den Dingen nachzugehen, die mich selbst am meisten beschäftigen - das Wesen der Sprache und die Beschaffenheit dessen, was wir "Seele" nennen. Als Katholik wurde ich in dem Glauben erzogen, die Seele sei etwas, das jedem Kind Gottes persönlich gehöre und nach dem Tod in den Himmel aufsteige - etwas, das ich ebenso wenig glauben konnte wie das in meinem Roman von Luke übernommene Dogma, dass Tiere seelenlos seien. Schon als Sechs- oder Siebenjähriger habe ich mich darüber mit meinem Lehrer gestritten und gesagt, wenn Tiere nicht in den Himmel kämen, wolle ich dort auch nicht hin. Tiere haben mir schon immer alles bedeutet, und auch die Behauptung, dass sie im Gegensatz zum Menschen nicht über Sprache verfügten, erschien mir unsagbar arrogant.Die Fragen nach dem Zusammenhang von Seele und Sprache haben mich seit meiner Kindheit interessiert, und die ursprüngliche Idee für "Haus der Stummen" war daher, diesem Zusammenhang in einer Art sokratischem Dialog nachzugehen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Gedichtbände veröffentlicht, "Haus der Stummen" sollte mein erster Roman werden, und der Lektor, dem ich von der Idee erzählte, sagte: "Interessant, aber fehlt es nicht noch an einer Handlung?" Er hatte natürlich recht, und ich antwortete: "Wie wäre es, wenn meine Figur die Geschichte des indischen Moguls Akbar kennt, der ein ‹Haus der Stummen› errichten liess, um herauszufinden, ob Neugeborene, die isoliert aufwachsen, ohne je die menschliche Sprache zu hören, schliesslich eine eigene Sprache entwickeln?" Auch Luke interessiert sich für die Frage, ob Sprache Ausdruck der von Gott gegebenen Seele ist. Der Roman ist keine Parabel, aber Luke repräsentiert dennoch den Typus des Pseudowissenschafters, der sein Leben damit zubringt, in irgendwelchen Laboratorien sinnlose Tests an Tieren durchzuführen.
"Ich wusste nur, da draussen geisterte die Seele in einer ihrer vielen Gestalten umher", heisst es in Ihren 2006 erschienenen Memoiren, "Lügen über meinen Vater", und in "All One Breath", Ihrem jüngsten Lyrikband, begegnet sie dem Leser in sich wandelnder Gestalt auf Schritt und Tritt: Weshalb lässt Sie die Beschäftigung mit der Seele auch siebzehn Jahre nach Erscheinen von "Haus der Stummen" nicht los?
Ich glaube nicht an das, was gemeinhin als "Gott" bezeichnet wird, denke aber, dass dieses Wort eine Leerstelle in der menschlichen Erfahrung füllt. Das Gleiche gilt für das Wort "Seele". Wenn wir es aus unserer Sprache und aus unserem Denken eliminierten, würde es uns fehlen, und wir würden diese Leerstelle spüren. Es hat inzwischen vielleicht tatsächlich den Duktus einer Wiederholung angenommen, aber ich werde meine bisherigen Vermutungen über die Beschaffenheit der Seele auch weiterhin revidieren und neue Hypothesen aufstellen. Gerade schreibe ich in einem Gedicht abermals über die Seele, obwohl ich auf alle diesbezüglichen Fragen noch immer keine Antwort gefunden habe und es mir leichterfällt zu sehen, in welchen Bereichen des Lebens die Seele fehlt.Es klingt vielleicht etwas mystisch, aber für mich steht die Seele in keinem religiösen, sondern in einem energetischen Zusammenhang, der jedem Einzelnen von uns ermöglicht, zur kollektiven Schöpfung des Seins beizutragen. Auch Rilke meint, wenn er von Engeln spricht, nicht die Engel der Bibel, aber es ist fast unmöglich, auf die philosophische oder religiöse Patina dieser Begriffe zu verzichten, wenn man bestimmte Dinge kommunizieren möchte. Wörter wie "Engel" oder "Seele" transportieren eine bestimmte Energie, selbst wenn man sie in einem rein säkularen Zusammenhang verwendet. Mir gefällt zum Beispiel die Art, wie Musiker über Seele reden - als etwas, das man als Energie aufbringen kann. Als etwas, das man sofort erkennt, wenn es da ist, und das man vermisst, wenn es fehlt.
Sie haben den Duktus der Wiederholung erwähnt - "eine stete Wiederholung, Wiederholungen mit kleinen, doch bedeutsamen Änderungen, die sich im Laufe der Jahre mehren", so Luke, der in der Wiederholung "die eigentliche Struktur unseres Lebens" sieht. Erkennen Sie in Ihrem Werk die Struktur anderer wiederkehrender Fragen?
Neben der überragenden Frage nach der Seele? Eine nicht ganz so wesentliche Frage, die ebenfalls nicht zu beantworten ist und mich daher unablässig fasziniert, ist die nach unserer Identität oder besser gesagt: nach dem gesellschaftlichen Zwang, so etwas wie eine Identität zu konstruieren und zu besitzen. Die Frage nach dem Besitz an sich - weniger im Sinne von Besitz eines Hauses oder eines Autos als im Sinne von Besitz einer Idee oder einer Erzählung. Memoiren wie "Lügen über meinen Vater" habe ich nicht zuletzt deshalb geschrieben, um mit dem Gedanken zu spielen, dass die Geschichte meines Lebens mir gehört und ich es bin, der sie kontrolliert. Aber sie gehört auch anderen, denn wir alle leben zur selben Zeit in derselben historischen Geschichte. Ich glaube nicht daran, Anspruch auf eine Geschichte erheben zu können, und die Frage nach dem, der man ist, sobald man "ich" sagt und "die eigene Geschichte" erzählt, ist höchst komplex. Wenn ich zum Beispiel im Anschluss an eine Lesung Fragen beantworte und von mir selbst rede, habe ich immer das Gefühl, etwas zu verfälschen. Ich meine damit nicht, dass ich die Unwahrheit sage, aber es stellt sich das Gefühl einer Unvollständigkeit ein, die unmittelbar mit der Unmöglichkeit zu tun hat, vom "Ich" als einer festen, in sich stimmigen Identität zu sprechen.
In "Waking Up In Toytown" erzählen Sie von Ihrem Anfang der achtziger Jahre unternommenen Versuch, nach einem Jahrzehnt des Alkoholkonsums und der psychischen Erkrankung den Traum von einem "normalen Leben" in einer Vorstadt zu verwirklichen. Dort sprechen Sie auch von Ihrem früheren Selbst und dessen Bemühen, "die Welt vor dem Zerfall zu bewahren" und im Alkoholrausch "alles zu verbinden, alles festzuhalten". Ist inzwischen das Schreiben für Sie ein Weg, diese Art von Vollständigkeit oder Ganzheit zu erlangen?
Ich habe tatsächlich ein Jahrzehnt lang das Comic-Klischee eines Vorstadtlebens geführt, und die Erzählung dieses Lebens lautete: "Ich war verrückt, ich habe Drogen genommen und getrunken, aber jetzt ist das alles vorbei, und ich bin in der Normalität angekommen." Dann passierte jedoch genau das, was zu erwarten war: Der Wahnsinn begann sich um mich herum abzuspielen, so dass mir irgendwann aufging, dass das, was ich für meine eigene Geisteskrankheit gehalten hatte, lediglich eine Art Auflehnung gegen die Unterdrückung und Zerstörung dessen war, das mir am meisten bedeutet hatte, und dass das Wesen der Welt Unordnung und Chaos ist, auch wenn viele von uns alles tun, um dies zu verleugnen und sich dem gesellschaftlichen Konformismus, der autorisierten Darstellung des Lebens unterordnen. Die Literatur kann ein Medium sein, das einen die Welt sehen lässt, wie sie ist, und nicht, wie es die autorisierte Fassung behauptet. Es ist die Vorstellungskraft, die uns in die Seele eines anderen Menschen blicken lässt und Voraussetzung ist für die Liebe zu der Welt, die uns umgibt. In diesem Zusammenhang habe ich mich in letzter Zeit viel mit der Figur des Narziss befasst, der meines Erachtens nicht in sein eigenes Spiegelbild verliebt ist, sondern, wie der schottische Psychiater Ian Suttie bemerkt hat, das Bild eines anderen Menschen sieht, der von einer ganzen Welt umgeben ist. Erst später begreift Narziss, dass er selbst dieser andere ist, und erlebt sich erstmals als Teil der ihn umgebenden Schöpfung.
"All One Breath", wie es der Titel Ihres neuen Gedichtbandes sagt: Wir sind "alle ein Atem" und stimmen gemeinsam in den Chor der Schöpfung ein. Kann die Literatur ein Instrument sein, das uns begreifen lässt, dass wir als Menschen im Einklang mit der uns umgebenden natürlichen Welt leben sollten?
Ich denke schon, dass die Literatur uns daran erinnern kann, obwohl dieser Anspruch nicht immer eingelöst wird und man das eigene Schreiben meist als Scheitern erlebt. Ich weiss nicht, ob er dies wirklich gesagt hat, aber Robert Frost wird der Satz zugeschrieben, dass es die Aufgabe des Dichters sei, dem Gedicht nicht im Weg zu stehen, aber oft ist es genau das, was man tut. Das Gedicht ist bereits da, und ich fürchte, auch dies klingt wieder mystisch, aber das Gedicht existiert bereits als eine Art rhythmisches Ereignis, als Klang, durch den hindurch man irgendwann Wörter vernimmt, und ich muss versuchen, diese Wörter einfach kommen zu lassen und aufzuschreiben.
"Sprache ist nur das Instrument der Wissenschaft, und Wörter sind nur Anzeichen von Ideen", so Samuel Johnson in dem "Haus der Stummen" vorangestellten Zitat: Wie gelingt es Ihnen, als Lyriker und Schriftsteller Johnsons Hoffnung zu erfüllen, "die Instrumente würden nicht so rasch stumpf und Anzeichen wären so dauerhaft wie die Dinge, die sie benennen"?
In diesem Zusammenhang ist für mich das Ende des Romans wichtig - der Moment, in dem die Kinder, an denen Luke sein Experiment durchführt, zu singen beginnen. Die Kinder leben in völliger Isolation, haben nie die menschliche Sprache gehört und beginnen plötzlich zu singen. Dies bedeutet, dass sie ihre eigene Sprache gefunden haben, eine, die sich von unserer unterscheidet. Johnson hat meines Erachtens nur zum Teil recht: Wir gebrauchen Sprache, um die Welt zu benennen, in der wir leben, aber eine ihrer anderen Funktionen hat eher mit Beschwörung und Gesang zu tun.Manche Leute fragen sich, weshalb Delphine aus dem Wasser springen und herumtollen. Aber sind Tiere etwa wie Maschinen und rein funktional? Ich habe Tiere schon alles Mögliche tun sehen - als Spiel und als Ausdruck reiner Lebensfreude. Diesen Aspekt lässt Johnson ausser acht, und in meinem Roman versteht auch Luke nicht, dass die beiden Kinder aus Freude darüber singen, dass sie am Leben sind. Sie sind wie zwei Vögel im Käfig und dennoch voll Lebensfreude, und Luke kann nichts dagegen tun. Man singt, man schreibt ein Gedicht, man redet um des Redens willen, ohne etwas beschreiben oder erklären zu wollen. Man folgt einfach seinen Assoziationen, man improvisiert wie im Jazz. Improvisation hat keine Funktion, sie entspringt dem Wunsch, sein Dasein auszudrücken und zu sagen: "Hier bin ich, und ich liebe es." Aus diesem Grund bewundere ich die Gedichte Walt Whitmans, weil man diese Daseinsfreude in ihnen fast überdeutlich hört. Sie sind wie der Schrei eines Tieres, das sich am Leben erfreut, und dieser Ausdruck tut mehr für die Demokratie als tausend Reden von Abraham Lincoln, weil er das individuelle Recht auf Leben und Freiheit einfordert und auch anderen zugesteht. Im Grunde ist dies ein anarchistischer Impuls, der auch mein Werk durchzieht. Wahre Anarchisten werfen keine Bomben und sind die liebenswürdigsten Menschen, weil sie über niemanden herrschen wollen und ihre Revolution keinen Anführer braucht. Keinen Anführer, keine Vorgesetzten, keine Kooperationen.
Keine "autorisierte Version", die dem Individuum vorschreibt, wie es sein Leben zu führen hat?
Keine autorisierte Version, abgesehen von der, die man selbst autorisiert. Eine Anarchie der Imagination, die sich nicht scheut, das Erhabene und Unerklärliche anzuerkennen, das sich dem rationalen Denken entzieht und in unseren fortschrittlichen Gesellschaften unterdrückt und ausgegrenzt wird. Die Literatur kann einem helfen, die gesellschaftlich anerkannte Darstellung infrage zu stellen und sich mit dem Leben zu versöhnen - mit Erfahrungen des Erhabenen, Schönen oder Tragischen. Aber dennoch führe ich meine Feder nicht zu dem Zweck, dem Leser meine Sicht der Dinge aufzuzwingen. Ich schreibe aus dem gleichen Grund, aus dem ich esse oder tanze, und ich weiss, dass mir etwas fehlen würde, dass ich unvollständig wäre, wenn ich es nicht täte.Es behagt mir nicht, wenn Schriftsteller sich zu Weltendeutern erklären, was nicht heisst, dass sie sich mit den Erklärungen abfinden müssen, die ihnen die Politik oder die Massenmedien als Wahrheit oder Wirklichkeit verkaufen. Als Kind hat mir meine Mutter einmal ein Poster mit zwei streitenden Affen geschenkt, weil sie der Meinung war, dass auch ich keinem Streit aus dem Weg gehe und auf Widerspruch beharre - auf dem, was wir bei uns in Schottland "thrawn" nennen. Aber es verhält sich damit wie mit einer Muskatnuss: Eine Prise davon genügt, um dem Ganzen eine besondere Note zu geben, aber zu viel erzeugt Halluzinationen. Ich bin wie eine Prise Muskatnuss - zu viel, und alle werden verrückt.
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