Er ist leidenschaftlicher Europäer - und leidenschaftlicher Brite. Der Zorn über den Brexit hat John le Carré, den Grossmeister des Spionagethrillers, nochmals zur Feder greifen lassen - und er findet auch im Gespräch mit Thomas David Ausdruck.
Ein schneller Sprint, der plötzliche Angriff. Ein tiefer Ball, um Haaresbreite verfehlt. "Badminton", heisst es in "Federball", dem agilen Alterswerk des britischen Schriftstellers John le Carré, "ist List, Geduld, Tempo und eine unmögliche Aufholjagd." Ein Lauern und Taktieren, während der Ball hoch über dem Netz eine Kurve beschreibt; die unerwartete, fintenreiche Reaktion. Als Nat und Ed nach ihrem Match noch ein Bier trinken, starrt Ed erst still vor sich hin und verblüfft Nat dann mit einem unverblümten politischen Bekenntnis.
Nat ist der 47-jährige Ich-Erzähler von le Carrés neuem Roman; Ed der mehr als zwanzig Jahre jüngere Fremde, der ihn wie aus heiterem Himmel zum Spiel herausgefordert hat. Er sei der festen Überzeugung, dass ein Brexit zu Zeiten Donald Trumps und die daraus folgende totale Abhängigkeit von den USA "für Grossbritannien, für Europa und für die liberale Demokratie auf der ganzen Welt das beschissenste Chaos ist, das man sich nur vorstellen kann", so Ed. "Und nun frage ich Sie: Stimmen Sie mir grundsätzlich zu, oder habe ich Sie beleidigt und es wäre besser, ich würde auf der Stelle aufstehen und gehen?"
Wir sind die Verräter"Im Jargon von Westminster", sagt John le Carré, "bin ich ein Kollaborateur." Er sitzt im Wohnzimmer seines schönen, am Rand der Heide- und Parklandschaft Hampstead Heath gelegenen Hauses und erklärt sich zum Sympathisanten seiner vom Furor der Entrüstung geleiteten Figur. "Wir Brexit-Gegner sind die Kapitulationsaffen", sagt der Schriftsteller, der im Unterschied zu Ed mit einem konzentrierten, nuancenreichen Understatement spricht, "die Verräter, weil man Europa zum Feind erklärt hat und sich das ganze Spiel momentan darum dreht, Europa dafür verantwortlich zu machen, dass Grossbritannien die EU im Chaos verlässt."
"Wenn wir aus denen, die Boris Johnson entlassen hat, ein Kabinett bilden würden, hätten wir ein gutes Kabinett."
Le Carré trägt eine dunkelbraune Weste über dem Hemd; ein Hörgerät, das leise summt, wenn er die Brille abnimmt. Auf seinem Arbeitstisch liegt eine Ansammlung diverser Tageszeitungen und Magazine; auf dem Kaminsims steht neben feinem Porzellan ein druckfrisches Exemplar der amerikanischen Ausgabe des neuen Romans. Eine Woche vor dessen weltweitem Erscheinen und dem 88. Geburtstag des Schriftstellers am "Super Saturday", an dem das Unterhaus in Westminster über Boris Johnsons Brexit-Vorlage beraten wird, sitzt le Carré auf dem luftigen Hügel über der Stadt und versucht, die Ruhe zu bewahren.
Er schlägt ein Bein über das andere. Er sagt: "Die Angst, die ich habe, ist für jeden real, der etwas über den Aufstieg des Faschismus weiss. Die Voraussetzungen für eine rechtsextreme Regierung sind gegeben. Für einen Despotismus nach dem Vorbild Trumps. Wenn wir aus denen, die Boris Johnson entlassen hat, ein Kabinett bilden würden, hätten wir ein gutes Kabinett. Jetzt", sagt le Carré, der es seit je meisterlich versteht, im rhetorischen Schlagabtausch zu punkten, und auch im hohen Alter scheinbar keine Mühe hat, den politischen Gegner vorzuführen und in die Schranken zu verweisen: "Jetzt", sagt er, "haben wir eine Art Flohzirkus." Er sitzt mit einer Tasse Kaffee im Lounge-Sessel am Fenster des Wohnzimmers. Der wippende Turnschuh am Fuss des übergeschlagenen Beins wirkt wie eine dezente Provokation.
Die Werte landen auf dem Müll"Federball" ist John le Carrés fünfundzwanzigster Roman. Ein rasanter, weitgehend im Sommer des Jahres 2018 spielender Agententhriller, den der Autor wenige Jahre nach Veröffentlichung seiner Memoiren und des Romans "Das Vermächtnis der Spione", mit denen er sein Werk damals abzurunden schien, "wie ein Kaninchen aus dem Hut gezogen" hat. "Federball" handelt von Nats Zufallsbekanntschaft mit Ed, der für eine Medienagentur arbeitet, in der er sich am täglichen Hype der Nachrichten und Fake-News zu verschleissen scheint. Von Nats Versuch, das katastrophal verlaufende Endspiel seiner fünfundzwanzigjährigen Karriere als "Wandergeselle auf dem Gebiet der Spionage" zu erklären; vom Fairplay des falschen Spiels, von den zwischen diversen Figuren unterschiedlicher Couleur hin- und hergespielten Fragen der Loyalität und Pflicht.
"Wem schenkt man seine Loyalität, wenn die eigene Regierung den Verstand verliert?"
Nicht zuletzt geht es auch um die enttäuschte Liebe zum eigenen Land, das sich im heissen Sommer des Jahres 2018 längst "im freien Fall" befindet, wie le Carré seinen Erzähler sagen lässt. Nat hält den Brexit wie Ed für "ein durch und durch beschissenes Chaos"; anders als sein draufgängerischer Herausforderer bezweifelt er jedoch, ihn noch abwenden zu können. "Im Moment", so der Schriftsteller, dessen Roman von der eigenen Empörung über den Brexit, vom Verrat an seinen europäischen Idealen und von der Sorge um den Fortbestand der Demokratie motiviert ist, "passt zwischen die Fiktion und die politische Realität kein Blatt Papier."
"Wem schenkt man seine Loyalität", fragt le Carré, "wenn die eigene Regierung den Verstand verliert?" Durch die geschlossene Wohnzimmertür hört man das leise Schlagen einer Uhr, die Schritte von le Carrés Frau. Durchs Fenster das ferne Schnarren einer Heckenschere. "Ich hege sehr starke Gefühle für das, was ich stets als britische Werte empfunden habe", fährt er fort. "Diese Werte werden uns nun tagtäglich genommen und von der gegenwärtigen Regierung auf den Müll getragen." Der "pig-ignorant foreign secretary", als der Boris Johnson namenlos im Hintergrund des Romans agiert, wird in der Übersetzung mit falscher Höflichkeit zum "schauderhaften Aussenminister" gemacht.
"Die Dinge, die ich an uns Briten mag", erklärt der Autor, "sind das gute, lockere Gespräch. Anständigkeit und gutes Benehmen quer durch alle sozialen Schichten. Gegenseitiger Respekt und Fairplay, ein Lachen, das mir immer als sehr englisch vorkam. Dinge, die sogar für deutlich jüngere Menschen als mich selbstverständlich waren. Ich habe noch nie eine Regierung erlebt, die in der Öffentlichkeit innerhalb so kurzer Zeit einen solchen Ekel hervorgerufen hat."
Ausverkauf statt KontrolleLe Carré trinkt seinen Kaffee. Er wirft einen heimlichen Blick auf die Armbanduhr und erzählt von der Arbeit an seinem Roman, dessen Anfänge auf die Bilder des im Juli 2018 in Helsinki abgehaltenen Gipfeltreffens zwischen Donald Trump und Wladimir Putin zurückgehen, als der amerikanische Präsident vor den Augen der Weltöffentlichkeit "Verrat an seinen gesamten Nachrichtendiensten" geübt und stattdessen Putin sein Vertrauen geschenkt habe.
In "Federball" entwickelt er die Fiktion, dass es sich bei Trump um den "Latrinenputzer" des russischen Präsidenten handele, dem Grossbritannien mit anbiederndem Bemühen um eine "besondere Beziehung zu den USA" in die Hände spiele. Dahinter steht entweder erschreckende politische Klarsicht - oder aber die Paranoia jenes "Fossils" des Kalten Krieges, als das sich le Carré gern bezeichnet; etwa wenn er über die Geschichtsvergessenheit der Generation seiner Enkel spricht, für die der Kalte Krieg inzwischen ähnlich weit zurückliege wie für ihn der Burenkrieg.
"Die Menschen sind deprimiert und getrieben, halten aber irgendwie durch. Der Humor ist verschwunden."
"Unsere Aussenpolitik ist von Nostalgie geleitet", sagt le Carré. "Doch diese ‹besondere Beziehung› zu den USA ist eine Phantasie der Briten." Die Amerikaner seien sich dieser Beziehung kaum bewusst, weshalb der Deal, den Johnson nach dem Brexit mit Trump auszuhandeln hoffe, unkalkulierbare Folgen haben werde. "Der Slogan für den Brexit lautet ‹Kontrolle zurückzugewinnen›, und soweit ich die Aussenpolitik überblicke, bedeutet dies, dass wir die Kontrolle wiedererlangen und sie dann Trump anbieten werden. Gott allein weiss, was für uns an die Stelle von Europa treten wird. Wir werden uns von Chlorhühnchen ernähren."
Er stellt die leere Kaffeetasse zurück auf den Tisch. Erzählt dann von seinen Erfahrungen als Lehrer in Eton, wo er nach seinem Studium in Bern und Oxford zur Zeit der Suezkrise Deutsch und Französisch unterrichtete und "vermutlich ein Dutzend Johnsons der einen oder anderen Art" kennengelernt habe. "Sie waren immer sehr schlagfertig und sprachgewandt und fügten sich mühelos in ein Umfeld, in dem es ausschliesslich ums Gewinnen geht", sagt er. "Unmoralisch, vollkommen ohne inneres Zentrum, oberflächlich." Er erzählt von seiner Zeit an der britischen Botschaft in Bonn, in der er nach seiner sagenumwobenen Arbeit für die Geheimdienste MI5 und MI6 als "Wanderprediger" für Grossbritanniens Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsunion warb, weshalb ihn der Brexit nun auch ganz persönlich trifft.
Ein unglückliches Land"Wenn ich mich heute in Grossbritannien umschaue", sagt er, "sehe ich, dass sich die Gesichter der Menschen verändert haben. In Cornwall, wo ich die meiste Zeit lebe, sehe ich das, was wir früher das ‹Dritte-Welt-Gefühl› genannt haben. Die Menschen sind deprimiert und getrieben, halten aber irgendwie durch. Der Humor ist verschwunden. Grossbritannien", sagt John le Carré, "ist ein sehr unglückliches Land. Das muss sich ändern. Aber woraus können wir Hoffnung schöpfen?" Er blickt einen Moment still vor sich hin und fragt: "Worin liegt die Hoffnung?" Er hebt den Blick - ein alter, von einer tiefen Liebe zu seinem Land erfüllter Mann mit hellwachen Augen. "Können Sie mir das sagen?"
Doch die scheinbare Ratlosigkeit der Frage täuscht über die Entschlossenheit seines Blicks nicht hinweg. "Man wartet in Lauerstellung auf seine Gelegenheit zum Angriff", heisst es in "Federball", einem Roman, der auf eindrucksvolle Weise zeigt, dass le Carrés Spiel gegen die Kontrahenten auf der Nachtseite seines europäischen Traums noch lange nicht verloren ist. Auch an seinem 88. Geburtstag wird er daher in die Turnschuhe schlüpfen, nach dem Gehstock und der Plakette mit der Aufschrift "Bollocks to Brexit" greifen und mit Hunderttausenden gegen das Parlament marschieren. "Zumindest", sagt John le Carré, "muss man die heisse Luft des Geredes in Taten verwandeln."