Sie sitzen lebenslänglich oder gar im Todestrakt. Aber wer hat das Recht, Rachel Kushners Romanfiguren schuldig zu sprechen? In ihrem neuen Roman gibt die amerikanische Schriftstellerin den Verlorenen und Verdammten ihr menschliches Mass zurück.
An Thanksgiving wird Romy Hall vom Feiertagsblues gepackt. Das fettige Emufleisch, das man ihr als Festtagsessen durch die Futterklappe schiebt, ist widerwärtig. Der Himmel über dem vergitterten Betonplatz, auf dem sie sich mit ihren Freundinnen Conan und Sammy zur Feier des Tages eine Weile den Wind um die Nase wehen lässt, ist trüb und trist. Conan leidet an einer oppositionellen Verhaltensstörung und sass als muskulöse Transsexuelle nach einem Raubüberfall schon mal versehentlich im Männerknast. Sammy jobbte bereits mit zwölf Jahren als Stricherin für ihre drogensüchtige Mutter und hat sich seitdem ein soziales Netzwerk in diversen Gefängnissen aufgebaut.
Romy, die von ihrer Mutter nach der Schauspielerin Romy Schneider benannte Hauptfigur von Rachel Kushners Roman "Ich bin ein Schicksal", hat im Anschluss an eine mehrjährige U-Haft ihre zweimal lebenslängliche Freiheitsstrafe in der Stanville Women's Correctional Facility in Kalifornien angetreten. Ende November 2003 befindet sie sich bereits seit mehreren Wochen in dem Frauengefängnis und gibt sich den Erinnerungen an ihr "letztes Thanksgiving in der freien Welt" hin. Erinnerungen an den "Mars Room", das schäbige Striplokal an der Market Street von San Francisco, in dem Romy als Tänzerin gearbeitet hat. Erinnerungen an ihren aufdringlichen Stammkunden Kurt Kennedy, "die raue, trockene Haut seiner Hände auf meinen Oberschenkeln", das Knistern der frischen Dollarscheine, die sie Kennedy aus der Brieftasche zog, statt zu Hause etwas Nettes mit ihrem kleinen Sohn Jackson zu unternehmen.
Das dunkle Gesicht AmerikasAn Feiertagen herrschte im "Mars Room" immer viel Betrieb, "weil die Männer aus ihrem echten Leben in ihr richtig echtes Leben mit uns, ihren Phantasien, fliehen müssen": Romy analysiert hellsichtig, auch wenn ihre tragische Lebensgeschichte von der brutalen Gewalt und den tödlichen Obsessionen in einer heillosen, um Vergebung und Erlösung ringenden Welt erzählt. Einer bedrohlichen Welt, die ihre Hand nach den Verlorenen und Verdammten dieses faszinierenden Romans ebenso kalt und mitleidlos ausstreckt wie die "feuchtkalten Nebelfinger", die Romy bereits während ihrer im Schatten der Golden Gate Bridge verbrachten Kindheit in die Kleider krochen.
Als Romy wenige Tage nach Thanksgiving erfährt, dass ihre Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen und der siebenjährige Jackson ins Krankenhaus eingeliefert worden ist, überschreitet die ihr vom Schicksal für den Mord an Kurt Kennedy auferlegte Strafe jedwedes menschenwürdige Mass. Im Moment der Katastrophe wächst Kushners Roman über sich selbst hinaus, wird zu einem tief empfundenen, dabei vollkommen unsentimentalen erzählerischen Manifest der Menschlichkeit.
Conan und Sammy, die Romy ihre Lebensgeschichten erzählen. Geronima Campos, "die irgendwo im Inland Empire den Torso ihres Ehemanns von einer Brücke geworfen hatte". Laura Lipp, die ähnlich wie Medea aus Rache an ihrem untreuen Mann das gemeinsame Baby tötete. Betty LaFrance wartet im Todestrakt auf ihre Hinrichtung. Die junge Button Sanchez spielt mit einem im Haupthof gefangenen Kaninchen, nachdem man ihr das kurz nach der Ankunft im Frauengefängnis zur Welt gebrachte Kind genommen und irgendwo draussen in Obhut gegeben hat. In "Ich bin ein Schicksal" zeigt Kushner die Gesichter eines dunklen, hinter Mauern und Stacheldraht verborgenen Amerika und verbindet diese - in unzähligen Geschichten und Anekdoten, in den Polaroids der mit den Jahren in Gefangenschaft verblassenden Erinnerungen und Träume - zu einem einzigen Antlitz, das im Dunkeln mit unerhörter Strahlkraft leuchtet.
"Ich fühl mich gut. Ich fühl mich verdammt gut", so Betty LaFrances Ex-Freund, der wegen Mordes verurteilte Polizist Doc, der zum ersten Mal im Leben "sein wahres Ich" spürt, nachdem ihm ein Mithäftling im östlich von Sacramento gelegenen New Folsom den Schädel eingeschlagen hat. "Vielleicht bildeten Schuld und Unschuld ja gar keine richtige Achse", überlegt der als Lehrer im Frauengefängnis von Stanville arbeitende Literaturwissenschafter Gordon Hauser. Wie Doc und der in Tagebucheinträgen zitierte, als "Unabomber" in die Geschichte des Terrorismus eingegangene Ted Kaczynski zählt Hauser zu den Nebenfiguren des Romans, deren Innenperspektiven den Hauptstrang von Romys Ich-Erzählung in lockerer Folge brechen und kontrapunktisch ergänzen. Er lebt in einer kleinen Berghütte oberhalb von Stanville und wird, ähnlich wie sein Idol Henry David Thoreau, zum stillen Helden des zivilen Ungehorsams, als er Bücher und Strickzeug ins Gefängnis schmuggelt und dann den Versuch unternimmt, sich für Romy nach dem Verbleib ihres zur Adoption freigegebenen Sohns zu erkundigen.
Leiden, leiden lassenGordon Hauser, hinter dessen Altruismus sich schon bald die gleichen Phantasien regen, die Kurt Kennedy zum Verhängnis wurden, erweist sich im Laufe des Romans dennoch als eine Art Stellvertreterfigur des Lesers. Eines Lesers, der wie der von Dostojewski berauschte Hauser Mord im Grunde "nur aus der Literatur" kennt und der sich, wie Aljoscha Karamasow, den Glauben bewahrt, dass der kostbarste Teil eines jeden Menschen "für immer unschuldig" ist. Am Ende wird man in Romy und Conan, in der Kindesmörderin Laura Lipp und der irgendwann auch ihres Kaninchens beraubten Button Sanchez keine Täter und keine Opfer mehr sehen. Sie sind nicht mehr die von demselben Staat, der jenseits der Gefängnismauern einen fadenscheinigen Krieg gegen den Irak führt, im Namen der Gerechtigkeit verwalteten Monster, sondern nur mehr "Menschen, die litten und auf dem Weg ihres Leidens andere leiden liessen".
Es braucht grosse Romane wie "Ich bin ein Schicksal", um die oft verhängnisvolle Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz zu begreifen. Um sich als Leser der eigenen Gewissheiten und der Anmassung eines Urteils zu entledigen und im Angesicht einer grandiosen Figur wie Romy Hall mit Thoreau zu sagen: "Ich habe nie einen schlechtern Menschen gekannt, noch werde ich einen kennen, als ich selber bin."