Der Beifall war nicht ganz einhellig, als V. S. Naipaul im Oktober 2001 den Literaturnobelpreis erhielt. Immer wieder hat der brillante Denker und Stilist äusserst kritisch über andere Kulturen reflektiert, und noch heute formuliert der mittlerweile Achtzigjährige pointiert und scharf. Thomas David hat ihn in London getroffen.
Sir Vidia, in Ihrem Haus in der Grafschaft Wiltshire leben Sie inmitten der alten englischen Landschaft, in der Teile Ihres späten Meisterwerks "Das Rätsel der Ankunft" spielen. Inwiefern unterscheidet sich der V. S. Naipaul, dem man in der Metropole London begegnet, von dem Schriftsteller, den man in der Abgeschiedenheit unweit von Stonehenge besucht?
Es handelt sich um ein und denselben Menschen, es gibt keinen Unterschied zwischen dem Schriftsteller und dem Menschen, der ich hier in der Grossstadt bin. Aber London hat sich mit den Jahren natürlich sehr verändert. Als ich 1950 in England eintraf, war diese Stadt für mich das Zentrum der englischen Kultur, ein Ort, an dem es Verlage und Literaturkritiker gab - all das, was in meiner Heimat Trinidad nicht existierte, was ein Schriftsteller jedoch braucht, um von seiner Arbeit leben zu können. Ich hätte in Trinidad, wo die Menschen ganz andere kulturelle und imaginativen Bedürfnisse hatten, niemals Schriftsteller werden können.
In einem Ihrer Bücher haben Sie London auch als Sehnsuchtsort beschrieben, den Ihnen Ihr Vater in Trinidad durch die Romane von Charles Dickens und anderen Schriftstellern nahegebracht hatte. Als Sie als 18-Jähriger in England eintrafen, fühlten Sie sich jedoch verloren.
London war genau so, wie ich es mir in Trinidad vorgestellt hatte. Ebenso übermächtig, wie ich es mir vorgestellt hatte, und als ich mir mit der Zeit meiner selbst etwas sicherer wurde, war die Stadt weniger übermächtig. Aber ich würde Ihnen gern etwas über Dickens sagen. Ich mag ihn nicht und verabscheue insbesondere den späten Dickens. Als Kind kann man ihn bis zu einem gewissen Alter mit Faszination lesen, aber wenn man geistig etwas reger und ein wenig gebildeter ist, sollte man diese Schlichtheit hinter sich lassen.
Ist es die Schlichtheit der Sprache, die fehlende intellektuelle Komplexität, die Ihnen an dieser Art Literatur missfällt?
Es ist die Schlichtheit der Erfindung. Ich habe viele Leute, interessante Leute, über "David Copperfield" sagen hören, immerhin einen von Dickens' grossen Romanen: "Das Buch ist genau, wie wir es uns vorgestellt hatten." Aus ebendiesem Grund ist es für mich nicht interessant. Und wenn man an einen richtig schlechten Dickens gerät, "Dombey und Sohn" und so weiter, ist er völlig ungeniessbar.
Ihnen missfällt es, wenn ein Autor seinen Lesern eine sentimentale, naive Weltsicht zu verkaufen versucht. Aber wie gelingt es, die naiven Vorstellungen, die man sich von der Welt macht, zu überwinden und zur Wirklichkeit der Dinge vorzudringen?
Darüber habe ich ausführlich in "Das Rätsel der Ankunft" geschrieben. Es gibt darin diesen jungen Mann aus Trinidad, der unbedingt Schriftsteller werden möchte und sich nach seiner Ankunft in England so sehr von seinen vorgefassten Ideen leiten lässt, dass er die Realität, die sich ihm präsentiert, gar nicht wahrnimmt. Er versäumt auf diese Weise ein grosses Thema. 1950 gab es in England überall verlorene, heimatlose Menschen, und später habe ich über sie geschrieben. Es wäre allerdings hilfreich gewesen, wenn ich eher auf dieses Thema gestossen wäre, aber ich konnte es nicht sehen, ich konnte es anfangs nicht erkennen. Der Mensch ist oft geblendet von dem, was er zu wissen glaubt, und selbst, wenn er etwas Neues, Unbekanntes sieht, drängt er diesem die Bilder auf, die er schon kennt.
Orwell hatte damals gerade "1984" veröffentlicht, Graham Greenes "Das Ende einer Affäre" erschien 1951, der erste Teil von Evelyn Waughs berühmter Kriegstrilogie "Ohne Furcht und Tadel" ein Jahr später. Alles moderne Klassiker . . .
Alles Bücher, die ihre Zeit hatten und heute überholt und altmodisch sind; Bücher, die mir schon damals nicht viel sagten. Ich habe kürzlich ein wenig Greene gelesen, und mir gefällt die Art und Weise, wie er sich bemüht. Greene war ein Streber im besten Sinne, er hat sich an schwierigen Dingen versucht, aber er interessiert mich im Grunde nicht, weil die Welt, die er beschreibt, nicht meine ist. Bei Orwell findet man hin und wieder ein Bewusstsein für den kolonialen Hintergrund, dem ich entstamme, aber Autoren wie Graham Greene und Evelyn Waugh benutzen diesen Hintergrund nur, um sich selbst ins Licht zu rücken.
Können Sie die Angst vor Ihrem eigenen Misserfolg beschreiben, die Sie Anfang der fünfziger Jahre angesichts des Ruhms dieser Schriftsteller peinigte?
Die Angst, nichts zu erreichen, nichts zu erschaffen. Es handelte sich schlichtweg um die Angst, die von mir ersehnte Karriere als Schriftsteller nicht auf den Weg bringen zu können, und nachdem mir dies gelungen war, litt ich an der Angst, plötzlich nicht weiterschreiben zu können. Diese Angst hat mich mein Leben lang begleitet. Es dauerte ziemlich lange, bis ich lernte, sie hinzunehmen und einfach vorauszusetzen, dass ich immer weiter schreiben würde. Aber jetzt, da ich dieses fortgeschrittene Alter erreicht habe, bin ich am Ende angelangt, und manche Menschen sind darüber sehr unglücklich. Ich nehme an, ich sollte darüber ebenfalls unglücklich sein, aber ich habe in meinem Leben so viel geschrieben. Wenn ich jetzt versuche, etwas zu schreiben, dann höre ich nur die alten Wörter in meinem Kopf herumtanzen.
Können Sie den Moment beschreiben, in dem "etwas, das man schreibt, Feuer fängt und man vollständig lebendig ist"?
Das ist schwer zu beschreiben. Im Grunde ist es etwas, das einfach nur passiert, und vielleicht sollte man gar nicht versuchen, diesen Moment zu beschreiben, weil man sonst womöglich die Fähigkeit verliert, ihn einfach wieder geschehen zu lassen.
Sie sprachen anfangs über die für ein Leben als Schriftsteller notwendigen kulturellen Voraussetzungen, die Sie 1950 in England vorfanden. Welches sind die kulturellen und imaginativen Bedürfnisse der heutigen westlichen Gesellschaften?
Es tut mir leid, aber auf diese Weise denke ich nicht.
Durchleben wir derzeit einen kulturellen Umbruch, in dem die imaginativen Bedürfnisse weniger von der Literatur als zunehmend von anderen, neuen Medien gestillt werden und der Leser im Wandel zum Konsumenten seine Würde verliert?
Es sieht vielleicht so aus, als würde die Literatur an Bedeutung verlieren, aber ich glaube, der oft beschworene Verfall des Lesens existiert in Wirklichkeit nicht. Wir können heute nicht mehr auf die gleiche Weise lesen wie die Viktorianer, und selbst wenn man Dickens einmal beiseitelässt und sich vorstellt, dass ein noch sehr viel unbedeutenderer und heute zu Recht vergessener Schriftsteller wie etwa James Payne Dutzende von Romanen schreiben konnte, versteht man sofort, weshalb. Autoren wie Payne haben das soziale Milieu ihrer Figuren einmal recherchiert und dann von Roman zu Roman mit geringfügigen Änderungen kopiert. Die Leser hatten damals so geringe Ansprüche, dass es für einen Schriftsteller möglich war, auf diese Weise durchzukommen. Meine Bücher hingegen hätten noch vor sechzig Jahren keine Chance gehabt, weil sie zu kompliziert sind und sich an Leser richten, die höhere Ansprüche an die Literatur stellen. Ich glaube also nicht, dass die Lesekultur verfällt, sondern, im Gegenteil, dass die Leser von einem Schriftsteller heute mehr verlangen als je zuvor. Im Grunde habe ich aber meine Probleme mit der Gegenwartsliteratur und glaube, dass der Roman als solcher an Bedeutung verloren hat.
Ihrem Vater galt der Roman als höchste literarische Gattung.
Dafür, dass ich diese Meinung längst nicht mehr teile, hat man mich schon verspottet. Ich glaube, Schriftsteller sollten sich heute mit anderen Arten des Schreibens befassen, mit anderen Möglichkeiten, ihre Erfahrungen und Vorstellungen von der Welt literarisch zu verarbeiten, statt ewig diesem Romangewerbe nachzuhängen.
"Sie sah weitläufige Plätze, die zu keinem Wohngebiet mehr gehörten, Häuser, die niemand reich genug war zu bewohnen . . .", heisst es über eine der Figuren Ihres 1975 erschienenen Romans "Guerillas" über das London der siebziger Jahre, "überall erblickte sie Gebäude, die anders und gemeiner genutzt wurden, als ihre Erbauer ursprünglich beabsichtigt hatten." Dies trifft auch auf Stonehenge und die Kathedrale von Salisbury zu, die heute weniger von Glaubenspilgern als von Touristen besuchten Monumente, in deren Nähe Sie in Wiltshire wohnen.
Das ist zweifellos richtig, aber man kann nicht erwarten, dass eine Kultur ihrem ursprünglichen Glauben oder ihren einstigen Werten treu bleibt. Dies ist in Europa ebenso wenig der Fall wie in Afrika, über dessen vielfältige und wechselnde Religionen ich in "Afrikanisches Maskenspiel" geschrieben habe. Selbst die vollständige Weltanschauung, die der Islam predigt, hält heute nicht mehr stand. Jede Kultur muss ihre eigenen Bedürfnisse gegen den Gang der Ereignisse und der Zeit ausbalancieren. Es stimmt zwar, dass Kirchen und andere Monumente ihre ursprüngliche Bedeutung verloren haben, aber sie dienen stattdessen einer Ästhetik - einer Vorstellung von Schönheit und Architektur, die den Gläubigen früherer Jahrhunderte vielleicht weniger bedeutet hat. Nicht alles entwickelt sich zum Schlechten.
Wie gelingt es dem Einzelnen, sich gegenüber der Dynamik der Geschichte zu behaupten?
Statt das Opfer der Geschichte zu werden? Ich denke, es ist möglich und steht jedem frei, die dunklen Gebiete, die einen umgeben, zu erforschen und seine eigene unverwechselbare Identität zu begreifen. Natürlich hat nicht jeder den Drang, dies zu tun, oder den Verstand. Meine aus Indien stammenden Grosseltern, die sich in Trinidad als Vertragsarbeiter verdingten, hatten zum Beispiel nie den Drang, die Welt, in der sie lebten, zu verstehen - das war der Unterschied zwischen ihnen und mir. Ich hatte den Verstand, es wäre unsinnig, dies zu leugnen, und es interessierte mich, über die Welt nachzudenken und sie zu verstehen. Die Vorstellung von der eigenen Identität kann eine Vielzahl von Vorstellungen enthalten, sie definiert sich längst nicht mehr ausschliesslich durch Herkunft oder Abstammung, und wir müssen in der Lage sein, uns mit dieser Vielzahl auseinanderzusetzen.
Gibt es dunkle Gebiete, Aspekte Ihrer Identität, zu denen Sie mit der Spurensuche und Selbstbefragung Ihres Werks nicht vorgedrungen sind?
Ich wünschte, das wäre der Fall, denn dann könnte ich mich sofort an die Arbeit machen und sie beleuchten. Aber ich kann keine dunklen Gebiete erkennen. Das ist das Problem, wenn man so viele Bücher geschrieben hat: Man kommt an ein Ende und steht vor einer Leere, die einem die Lebensweise, an die man sich in den letzten vierzig oder fünfzig Jahren gewöhnt hatte, unmöglich macht. Das ist ein schrecklicher Augenblick.
Worauf richten Sie heutzutage Ihren Blick? Was weckt Ihre Neugier?
Das versuche ich herauszufinden. Wenn es mir gelingen sollte, wäre ich sehr glücklich.
Die Themen Ihrer Bücher haben Sie nicht nur in Trinidad gefunden, sondern zum Beispiel auch in Indien oder den "dunklen Gebieten" eines jener im politischen Umbruch befindlichen Staaten, wie sie ihn beispielsweise in Ihrem Afrikaroman "An der Biegung des grossen Flusses" beschreiben. Welches sind die "dunklen Gebiete" unserer heutigen Welt?
Ich weiss es nicht. Auf diese Weise kann ich nicht denken. Ich arbeite mit dem, was ich habe, mit dem, was mir widerfährt. Die grösseren Fragen stelle ich mir nicht - wahrscheinlich ist das eine Schwäche.
Folgen Sie den Entwicklungen des Arabischen Frühlings?
Ich folge diesen Entwicklungen, allerdings mit einem Bewusstsein für die Grenzen dieser Kulturen. Ich kann also nicht mit rückhaltloser Begeisterung über den Arabischen Frühling sprechen. Irgendetwas in mir sagt: "Es sind Araber. Es wird nicht funktionieren."
Sie meinen, die Hoffnung auf eine Demokratisierung dieser Länder ist eine Illusion des Westens?
Ja, es könnte sich dabei durchaus um eine Illusion handeln, aber ich glaube nicht, dass sich daraus eine Gefahr für den Westen ergibt. Die Gefahr entsteht vermutlich nur für diese Länder selbst.
In Ihrer Nobelpreisrede haben Sie beschrieben, wie jedes Ihrer Bücher auf dem vorherigen aufbaut und sich selbst als "die Summe meiner Bücher" bezeichnet. Was sehen Sie von jenem hohen Standpunkt Ihres Werkes und Ihres grossen Erfolgs?
Ich sehe das Ende, über das ich Ihnen heute schon viel erzählt habe. Das unvermeidliche Ende. Ich wünschte, es wäre anders, aber wie könnte es anders sein? Das ist der übliche Weg der Kreativität.