Einst verpönt und gebannt, hat sich die irische Autorin Edna O'Brien gegen alle Vorurteile durchgesetzt. Mit über achtzig schreibt sie besser denn je.
Mit "Die kleinen roten Stühle" legen Sie fast ein Jahrzehnt nach Ihrem voraufgehenden Roman ein Meisterwerk vor. Handelt es sich da um "das letzte Festmahl", von dem am Ende Ihrer 2012 erschienenen Memoiren die Rede ist?
Danach hat man mich schon einmal gefragt. "Handelt es sich bei diesem Festmahl um eine grosse Liebe? Um ein letztes grosses Buch? Oder um den Tod?" Ich nehme an, es ist eine Mischung aus allen dreien. Andererseits hat der Roman viel mit einer Kurzgeschichte zu tun, die ich ein paar Jahre zuvor geschrieben hatte und als meine Wiederauferstehung bezeichne.
Sie meinen die Story "Shovel Kings" aus dem bisher nicht ins Deutsche übersetzten Erzählband "Saints and Sinners".
Das ist richtig. Ich hatte zuvor meist über Liebe und über Schmerz geschrieben - über Dinge, die vielleicht nicht so sehr in eine begrenzte, aber doch in eine Sphäre des Privaten und Familiären gehörten. Ich wollte aber schliesslich in andere Welten vordringen und habe mich auf die Recherche in mehrere vor allem von irischen Arbeitern besuchte Pubs im Norden Londons begeben. Ein paar von den Männern kannten meine frühen Romane und waren erfreut, als ich ihnen erzählte, dass ich eine Geschichte über sie schreiben wolle. Wir sprachen über das Exil, etwas, das mich mit den Männern verband - über das Heimkehren.
Sie selbst leben seit Ende der fünfziger Jahre im englischen Exil. Ihre frühen Romane lösten in ihrer irischen Heimat einen Skandal aus, wurden verboten und sogar verbrannt.
Ja. Und während ich den Männern zuhörte, wurde mir klar, dass es keine Heimkehr geben kann. Keine psychische Heimkehr - nicht einmal für diejenigen, die in physischer Hinsicht in ihre Heimat zurückkehren. Ich habe fünf oder sechs Monate gebraucht, um diese eine Story zu schreiben, aber sie war meine Wiedergeburt und wie ein Prolog zu "Die kleinen roten Stühle", worin ich eine ganze mir zuvor unbekannte Welt der in London lebenden Flüchtlinge beschreibe.
"Gibt es im Menschen eine Saat des Bösen? Einen faustischen Moment, in dem sich entscheidet, ob wir einen guten oder einen schlechten Weg einschlagen?"
Die "Unterwelt" einer neuen Arbeiterklasse.
Die ganze Welt derjenigen, die ihr Land verlassen mussten oder verstossen wurden - samt der Dualität, einerseits wieder nach Hause zurückkehren und andererseits endlich die Papiere haben zu wollen, um in England bleiben zu können. Dualität, ein innerer Konflikt oder Widerspruch, hat mich als Thema schon immer fasziniert. Diesen Aspekt habe ich in "Die kleinen roten Stühle" auch auf den charismatischen Dr. Vlad ausgeweitet, der zu Beginn des Romans in einem irischen Dorf auftaucht.
Wie entstand die Figur dieses Dichters und Wunderheilers mit blutiger Vergangenheit?
Er ist aus meiner Faszination für die erwähnte Dualität hervorgegangen. Wie kann ein Mann für den Tod Tausender Menschen verantwortlich sein und sich zum Abendessen an einen Tisch setzen, ohne zusammenzubrechen? Wie kann man ein Leben als Despot führen, ohne in einem Ozean der Schuld zu versinken? Für meinen Roman bediente ich mich eines Kriegsverbrechers aus jüngerer Zeit, der sich bereits in Den Haag befand, als ich mit der Arbeit an dem Buch begann. Ich sah Radovan Karadzic oft im Fernsehen: diesen Ritter in seiner Rüstung, der mit wehendem Haar einen Berg erklomm. Ich habe seine Eitelkeit gesehen, seinen Eroberungs- und Besitzwillen. Den Gotteskomplex, der Menschen wie ihm eigen ist.
Haben Sie beim Schreiben eine Antwort auf Ihre Fragen nach der inneren Gespaltenheit des Menschen gefunden?
Ich fand keine Antwort. Für die Dorfbewohner ist Dr. Vlad wie ein Wunder, er scheint über magische Kräfte zu verfügen und heilt die Kranken. Alle geraten in seinen Bann, Fidelma, meine Hauptfigur, verliebt sich in ihn. Nachdem sie von seiner Vergangenheit erfahren hat, fragt sie sich, ob er jemals unschuldig oder schon immer von Grund auf böse gewesen sei - eine Frage, die mich ebenfalls sehr beschäftigt. Gibt es im Menschen eine Saat des Bösen? Einen faustischen Moment, in dem sich entscheidet, ob wir einen guten oder einen schlechten Weg einschlagen? Einen Moment im Alter von vielleicht vier oder fünf Jahren, von dem die Katholiken sagen, es sei das Alter, in dem man zum ersten Mal eine Sünde begeht?
"Wenn die Sprache beschmutzt wird, wird auch die Gesellschaft beschmutzt."
"Komm hinfort, o Menschenkind!", so zitieren Sie an einer Stelle William Butler Yeats. "Auf zu Wassern, Wildnis, Wind mit einer Fee an deiner Hand . . ."
"Denn auf der Welt gibt es mehr Tränen, als je ein Kind verstand." Yeats schrieb diese Zeilen vor langer Zeit, aber sie haben heute mehr Gültigkeit denn je - Tausende von Menschen, die sich aus den Massakern unserer Zeit auf einen Weg ins Nirgendwo begeben. Wie können Männer wie Asad und Putin die Wahrheit leugnen? Putin mit der ihm eigenen Prahlerei und Asad und seine Helfer mit ihrer mutmasslichen Amnesie? Auch mein Dr. Vlad hat nichts Besseres zu tun, als auf die edlen Beweggründe seiner Kriegsverbrechen hinzuweisen. Sein Nationalismus ist ungeheuerlich und hat nichts mit der Sehnsucht des Menschen zu tun, sich mit seiner tiefsten Vergangenheit zu verbinden.
Kann Literatur dazu beitragen, das Leid der Welt zu lindern?
Davon bin ich überzeugt, obwohl ich auch Romain Rollands Aphorismus zustimme, dass Kunst zwar den Einzelnen trösten, aber nichts gegen die Wirklichkeit ausrichten könne. Wir führen unser Leben vor allem als Individuen und leben im Prinzip in unseren Gedanken. Grosse Literatur nährt uns, macht uns vielleicht sogar menschlicher. Zweitklassige Literatur hingegen ist überflüssig, Papierverschwendung. Es ist vielleicht ein Vorurteil, das ich mir als Schriftstellerin gestatte: Aber ich bin überzeugt, dass es weniger Blutvergiessen, weniger Kriege gäbe, wenn sich mehr Menschen mit ernsthafter Literatur beschäftigten. Abraham Lincoln las Shakespeare, und schauen Sie sich seine Sprache im Vergleich zu der des heutigen Präsidenten der USA an. Aber wenn die Sprache beschmutzt wird, wird auch die Gesellschaft beschmutzt.
Inwiefern ist die Literatur für Sie eine Möglichkeit, die beiden Seiten Ihres "sich bekriegenden Selbst" zu versöhnen, über die Sie in Ihren Memoiren schreiben?
Eine Figur wie die des Dr. Vlad ist sicherlich eine Dramatisierung meines eigenen inneren Konflikts. Philip Roth, einer meiner guten Freunde, hat in mir schon immer erkannt, was anderen meist entgangen ist: das Barbarische, Wilde, das Teil meines Wesens ist. Ich habe tatsächlich etwas Grausames in mir, weil ich als Kind Schmerz und Schrecken erfahren habe. Als Schriftstellerin möchte ich niemandem Schmerz zufügen, aber es ist meine Absicht, der "Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten", wie es in "Hamlet" heisst.
"Ein guter Roman spricht nicht nur das Herz und den Verstand an, sondern auch die sexuellen Instinkte. Den ganzen Körper."
Ist es möglich, die eigenen inneren Konflikte zu lösen?
Nein. Die Wunden, die du hast, sind die Wunden, mit denen du leben musst. Als Schriftstellerin bin ich gleichsam besessen vom Lyrismus und von der Grausamkeit des Lebens. In gewisser Weise danke ich Gott für die Art und Weise, wie ich aufgewachsen bin, doch manchmal wünsche ich, meine Kindheit wäre etwas sanfter verlaufen.
Behütet von einem sanfteren Vater?
Mein Vater war voller Zorn. Er selbst hatte eine schwere Kindheit erlebt und sehr früh die Eltern verloren. Wenn er trank, sah er rot und konnte nicht mehr zwischen Leben und Tod unterscheiden. Ich lebte in der ständigen Angst, er würde meine Mutter umbringen, und hasste ihn dafür. Diesen Hass fühle ich bis heute, obgleich mir mein Vater inzwischen auch leidtut, weil ich weiss, wie einsam er gewesen sein muss. Aber ich habe "Die kleinen roten Stühle" nicht aus Hass auf ihn und seine eklatante Ungerechtigkeit geschrieben. Die eigene Story ist vor allem ein Sprungbrett in eine andere Welt. Sie schenkt einem eine Art vorsprachliches Wissen.
"Die Geschichte eines Lebens", haben Sie einmal gesagt, "ist im Körper ebenso enthalten wie im Gehirn."
Ein Roman ist eine Sinfonie aus Gefühlen und Intellekt. Aus Grausamkeit und Zärtlichkeit. Deshalb war Flaubert ein so grosser Schriftsteller, während jemand wie Jean-Paul Sartre allenfalls zur Langeweile taugt. Seine Romane sind nichts als Theorie. Beckett, den ich gut gekannt habe und sehr mochte, hat grosses Leid gesehen und daraus Dinge geschaffen, die dem Buch Hiob entstammen könnten. Aber er ist dafür über sich selbst hinausgewachsen. Das ist der Schlüssel: die Überwindung des Selbst. Auch für "Die kleinen roten Stühle" musste ich zu Gedanken und Gefühlen vordringen, die mir zuvor unbekannt waren.
Wohin hat Sie das Schreiben des Romans geführt?
Ich hoffe, er hat mir ein tieferes Verständnis des Lebens geschenkt. Ich bin inzwischen 86 Jahre alt und nutze alle Energie, die mir noch bleibt, für meine Arbeit. Ich treffe weniger Menschen als früher, denke aber sehr viel über sie nach. Über die Lebenden wie die Toten. In etwas weltlicherer Hinsicht hat mich dieser Roman mit vielem versöhnt. Als Schriftstellerin hatte ich eine schwere Zeit. Ich wurde verbannt, ignoriert und beschimpft. Nicht nur vor fünfzig, sondern noch vor zehn Jahren. Das hat mich sehr erzürnt und verletzt, weil ich die Literatur und die Sprache anbete. Sie war zeitlebens mein bester Freund. Seit Veröffentlichung meines letzten Erzählungsbandes, der Memoiren und dieses neuen Romans gesteht man mir einen Platz an der gedeckten Tafel zu.
"Wird mir zum Abschied nichts als ein Stück Blech beschieden sein? Könnte man nicht auch an Blumen denken?"
Einen Platz, den Sie in den Augen Ihrer Leser schon immer hatten.
Vielleicht in den Augen bestimmter Leser, während ich von anderen verachtet wurde. Wenn man jedoch sein ganzes Leben lang Prügel einstecken muss, droht man zu verbittern oder den Glauben an die eigenen Fähigkeiten zu verlieren. Die Kritik an mir war zu persönlich und ungerechtfertigt. Sogar Frauen verhielten sich mir gegenüber geringschätzig, weil ich in ihren Augen ein anstössiges, sündiges Leben führte. Der Erfolg von "Die kleinen roten Stühle" hat mir neue innere Kraft verliehen, weshalb ich mich heute stark fühle. Es ist schade, dass mir dieses Erlebnis nicht vor zehn oder sogar zwanzig Jahren vergönnt war.
Als Schriftsteller sei man "immer auf der Flucht", sagten Sie einmal. Trifft das nach wie vor zu - nun, da sich inzwischen sogar der irische Präsident für die einstige Skandalisierung Ihres Werkes entschuldigt hat?
Ein Teil von mir ist noch immer auf der Flucht, und ich habe nach wie vor meine Albträume. Vor ein paar Tagen habe ich geträumt, ich sei gestorben. An der sehr ärmlich anmutenden Pforte zu meiner Gruft war ein kleines Schild angebracht, auf der mein Tod mitgeteilt wurde. Kein goldenes Schild, sondern ein einfaches Stück Blech - wie das Blech, aus dem man einen Eimer herstellt. Unter meinem Namen stand das Alter von neunzig Jahren, und als ich erwachte, fragte ich mich nach der Bedeutung dieses Traums. Ist es mir vergönnt, neunzig Jahre alt zu werden? Wird mir zum Abschied nichts als ein Stück Blech beschieden sein? Könnte man nicht auch an Blumen denken? Ich liebe Blumen nämlich sehr.