Mit ihrer vielschichtigen und informierten Erzählkunst ist A. S. Byatt zu einer grossen Stimme der britischen Literatur geworden. Die Entwicklung der Gegenwartsliteratur betrachtet sie mit Skepsis.
Antonia Byatt, mit Ihren neoviktorianischen Romanen markieren Sie Distanz zu einer zeitgenössischen Literatur, die sich der Gegenwart mitunter bis zur Tagesaktualität annähert. Können Sie das imaginäre Terrain beschreiben, auf dem sich Ihr Werk bewegt?
Ich bemühe mich fortwährend um eine Ausweitung des Terrains. In meinen Anfängen schrieb ich noch sehr vorsichtig über England oder sogar den Norden Englands, wo ich geboren wurde. Aber nach dem Erscheinen von "Besessen" im Jahr 1990 fiel mir dies zunehmend schwer, und ich begann, meinen Blick auf Europa auszuweiten. Das hatte auch damit zu tun, dass mir ein Grossteil der britischen Gegenwartsliteratur aus den von Ihnen angedeuteten Gründen nicht mehr gefiel. Als Studentin hatte ich ein Faible für Iris Murdoch, weil sie philosophisch war und ich dachte, dies sei von Belang, aber heute habe ich meine Probleme mit ihrem Werk. Ich mochte damals auch die Bücher von Doris Lessing. Aber die Schriftsteller, die mir am meisten bedeuten, sind Proust und Thomas Mann - Autoren von umfangreichen Romanen mit sehr komplizierten formalen Strukturen.
Und Europa ist nach wie vor Ihr Bezugspunkt?
In dem Roman, an dem ich zurzeit schreibe, befinden sich meine Figuren gerade im Wien des Jahres 1923. Es handelt sich um Psychoanalytiker, die von Wien zu einer Konferenz nach Berlin und von dort nach Paris und zurück nach England reisen. Ich erschreibe mir also ein Europa, das ich verstehen und zu dem ich gehören möchte, und ich finde dies sehr viel aufregender, als mich mit Britishness und dem Wesen des Englischen zu befassen. Obwohl ich sehr wohl auch Britishness kann.
Weshalb haben Sie sich dem autobiografischen Schreiben stets verweigert?
Das hat zum Teil sicherlich damit zu tun, dass ich als Quäkerin aufgewachsen bin, also eine religiöse Erziehung genoss, die dem Ich und der eigenen Befindlichkeit keine sonderlich grosse Bedeutung beimass. Ich war damit durchaus einverstanden, und zu den Überzeugungen, die sich im Laufe meines Lebens über das Schreiben von Romanen herausgebildet haben, gehört auch, sich nicht in den Kopf eines echten Menschen hineinzudenken. Nicht nur, dass ich niemals eine Autobiografie schreiben würde, auch eine erfundene Figur kann ich nur zum Leben erwecken, wenn ich sie aus den Eigenschaften von fünf oder sechs verschiedenen Menschen konstruiere - nicht, indem ich versuche, jemanden so genau wie möglich nachzubilden.
Was wäre daran denn so problematisch?
Das Letztere wäre Journalismus, und ein Grossteil der zeitgenössischen Literatur kommt darüber tatsächlich nicht hinaus, was ich sehr bedauerlich finde. Die Ambitionen dieser Art Literatur sind zu gering, sie bleibt hinter den Möglichkeiten des Intellekts zurück. Auch Proust hat auf eine Weise über sich selbst geschrieben, die nicht von ihm handelt. Das Bewusstsein seiner Romane ist nicht das des Menschen Proust und hat nichts mit der Religion des Ichs zu tun, die ich in den Romanen vieler zeitgenössischer Autoren wahrnehme und verabscheue.
Kommt einem literarischen Werk, das der "Religion des Ichs" abschwört, in einer Gesellschaft, die dieser fast allenthalben zu huldigen scheint, eine besondere Bedeutung zu?
Das hoffe ich natürlich. Als junger Schriftstellerin missfiel es mir einfach nur, über mich selbst zu schreiben, aber heute versuche ich ganz bewusst, mich mit dem Anderen zu verbinden. Ich möchte Dinge durchdringen und verstehen, ich möchte das Wesen der Zeit, die Bewegung durch die Geschichte begreifen. Unserer Gesellschaft fehlt es zunehmend an Geschichtsbewusstsein, etwas, das meines Erachtens mit der schwindenden Bedeutung der Religion zu tun hat. Es fehlt an einer ernsthaften Form für die Auseinandersetzung mit der Welt, weshalb sich das Tagebuch einer so grossen Beliebtheit erfreut und sich im Internet zu etwas absolut Schrecklichem auswächst.
Hat das Streben nach Authentizität die Suche nach Wahrheit abgelöst?
Zwischen diesen beiden Begriffen besteht tatsächlich ein enormer Unterschied. Niemand wird jemals die ganze Wahrheit über einen Menschen oder einen Sachverhalt kennen, aber viele Menschen haben den Glauben an die Wahrheit verloren und sind eher bemüht, "sich selbst auszudrücken", wie es so schön heisst. Das ist meines Erachtens ein allzu enger Blick auf die Welt. Die Suche nach Wahrheit und Erkenntnis hat mich mein ganzes Leben angetrieben, und wenn ich nicht Schriftstellerin geworden wäre, hätte ich gern ein Leben als Insektenforscherin geführt. Ich erinnere mich, wie ich nach einer Lesung mit einem Mann ins Gespräch kam, der sich als Insektenforscher erwies und mich fragte, ob er einen Käfer nach mir benennen dürfe. Das war der Augenblick einer Begegnung mit einem Menschen, der sein ganzes Leben der Erforschung von Wahrheit verschrieben hatte, der Erforschung von allem, was sich über eine Sache herausfinden lässt.
Wie offenbart sich im Vergleich zu dieser naturwissenschaftlichen Erkenntnis Wahrheit in der Literatur?
Das ist eine Frage, über die ich oft nachdenke und die mir nach all den Jahren noch immer Rätsel aufgibt. Aber ich glaube, man kann die Wahrheit erkennen, wenn man sie sieht. In dem Abschnitt meines neuen Romans, an dem ich heute Morgen geschrieben habe, sitzen meine Psychoanalytiker, allesamt Freudianer, in Wien und veranstalten ein Gschnas. Wissen Sie, was das ist?
Eine Art Kostüm- oder Faschingsball?
Meine Figuren vergnügen sich auf diese Weise, und meine Gestaltung dieser Szene ist reinster Surrealismus. Nichts davon hat etwas mit mir zu tun, alles ist komplett erfunden, und dennoch erscheint mir die Szene wahr.
Nimmt der Drang nach Wissen, von dem es in "Besessen" heisst, er sei noch ursprünglicher als der Sexualtrieb, mit dem Alter zu?
Er lässt nicht nach, aber das Problem ist, dass man vieles von seinem Wissen vergisst. Früher habe ich niemals etwas vergessen, aber wenn ich heute über das Wien des Jahres 1923 schreibe, muss ich immer wieder eines meiner Referenzbücher zur Hand nehmen und einen Namen nachschlagen. Ich werde in Zukunft noch mehr vergessen, aber als Schriftstellerin kann ich meinen eigenen Verstand betrachten und auch über das Vergessen schreiben. Ich kann das Vergessen studieren, was interessant ist, zumal es sich dabei um eine Art des Sterbens handelt. Es war für mich schon immer absolut notwendig, das vorherige Buch zu vergessen, um ein neues schreiben zu können, aber ich sass oft zitternd über einem fertigen Manuskript, weil ich spürte, wie mir das Wissen entglitt. Einmal geriet ich darüber so ausser Fassung, dass ich mich in ein Hotelzimmer flüchtete und mich verschanzte, bis ich wieder bei Verstand war. Ein Vorteil des Alters ist, dass man einen schlechten, einen unwahren Satz auf den ersten Blick erkennt.
Wie lange schreiben Sie an einer Manuskriptseite?
Ich benötige vielleicht einen Vormittag, aber dem gehen mehrere Tage des Nachdenkens voraus. Ich muss nachdenken und abwarten, aber sobald ich dann schreibe, mache ich keinerlei Korrekturen. Ich habe es schon immer gehasst, in meinem Manuskript Streichungen oder Korrekturen vorzunehmen. Überraschend ist, dass ich im Alltag mittlerweile Wörter vergesse, mich beim Schreiben aber an jedes einzelne Wort erinnere, das ich benötige. Ich verfüge heute über technische Fähigkeiten, die ich als junge Schriftstellerin nicht besass. Das Wichtigste aber ist die Gewissheit, wirklich Schriftstellerin zu sein - eine Gewissheit, die für eine Frau meiner Generation von grosser Bedeutung ist. In meiner Jugend hatte eine Frau noch einer ganz anderen gesellschaftlichen Rolle zu genügen, und als ich nach der Geburt meiner Kinder mit einem Job an der Universität Geld verdienen musste und jede freie Minute aufs Schreiben verwendete, war ich daher noch voller Selbstzweifel und fand es schwer, an mich als Schriftstellerin zu glauben.
Können Sie den inneren Zustand beschreiben, in dem Sie sich bei der Arbeit befinden?
Ich schreibe mit dem ganzen Körper, nicht nur mit dem Verstand. Ich kann nur denken, wenn ich meine Finger bewege, deswegen spiele ich während unseres Gesprächs auch die ganze Zeit mit einer Rolle Klebeband herum. Der ideale innere Zustand ergibt sich, wenn Körper und Geist im Einklang sind und zusammenarbeiten, und wenn einem dann ein guter Satz gelingt, stellt sich auch eine Art von körperlichem Wohlbehagen ein. Beim Schreiben heute Morgen war ich noch etwas müde, aber für die Beschreibung des Gschnas war das genau der richtige Zustand, weil meine Figuren in dieser Szene im Grunde nicht wissen, worüber sie reden. Auf diese Weise ist der Surrealismus entstanden, den ich vorhin bereits erwähnt habe.
In einem Essay erwähnen Sie, dass der Tod Ihrer Eltern Anlass war, um "über das Wesen von Wahrheit und Schreiben nachzudenken". Wie verändert das Nachdenken über die eigene Sterblichkeit Ihre Arbeit?
Ich kannte einmal einen Mann, der sich jeden Tag hinsetzte, um eine halbe oder ganze Stunde über den Tod nachzudenken. Damals konnte ich das nicht verstehen, weil es so viel andere Dinge zu tun gab. Aber heute denke ich die meiste Zeit an den Tod. Kürzlich bin ich im Schlafzimmer gestürzt, und es geschah so schnell, dass ich mich hinterher nicht daran erinnern konnte. Wenn es sich mit dem Tod ähnlich verhielte, hätte ich nichts gegen ihn einzuwenden. Manchmal erscheint es mir verrückt, an einem komplizierten, in moralischer, politischer und geografischer Hinsicht komplexen Roman zu arbeiten, wenn man auf die achtzig zugeht. Ich sollte eigentlich an einem sehr viel kürzeren Roman schreiben, aber ich kann nicht. Ich bin jetzt auf Seite 130 meines neuen Romans, und wenn ich sterben sollte, bevor die Arbeit daran vollendet ist, werde ich es nicht wissen.
Haben Sie im Alter eine Antwort auf die Frage gefunden, über die das kleine, phantasiebegabte Mädchen in Ihrem Buch "Ragnarök" nachdenkt - die Frage, weshalb überhaupt "etwas da sei und nicht vielmehr nichts"?
Ich habe noch immer keine Antwort auf diese Frage, die mich als Kind fasziniert hat. Ich versuchte damals, mir den Zustand des Nichts vorzustellen, und es ist tatsächlich möglich, ihn sich vorzustellen. Wenn man aber alt ist, dem Tod entgegengeht und einem vieles von dem, was einem früher lieb und teuer war, allmählich entgleitet, alle möglichen Details, die mir heute fern und irgendwie flüchtig erscheinen, denkt man lieber über den Menschen nach.
Und wie das? Pessimistisch? Oder doch mit Zuversicht?
Im Fernsehen habe ich gerade einen Dokumentarfilm über Leute gesehen, die ihr Leben damit verbringen, in Nordamerika nach Spuren der Wikinger zu suchen. Eine absolut wunderbare Beschäftigung und dennoch vollkommen sinnlos. Weshalb tut der Mensch so etwas? In der Szene des Romans, von der ich Ihnen erzählt habe, der Szene mit dem Gschnas, müssen die Figuren einen Knochen beschreiben, den einer von ihnen besorgt hat. Der Knochen kommt direkt vom Schlachter, aber sie tun so, als wäre er das heilige Relikt einer menschlichen Zivilisation, das um jeden Preis bewahrt werden müsse. Der Mensch kann den Dingen Bedeutung verleihen und die Welt voller Staunen und Ehrfurcht betrachten.
Die literarische Karriere von Antonia S. Byatt überspannt mittlerweile mehr als 50 Jahre. Ihr erstes Werk legte sie 1964 vor, zu Weltruhm gelangte sie 1990 mit "Possession" (dt. "Besessen"), einer fiktiven Literatur- und Liebesgeschichte. Kurze Erzählformen und Exkursionen ins Märchenhafte beherrscht die Schriftstellerin ebenso wie das facettenreiche historische Panorama. Byatt, die den Ehrentitel einer Dame Commander of the British Empire trägt und dieses Jahr mit dem Erasmuspreis ausgezeichnet wurde, feiert am 24. August ihren 80. Geburtstag.