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Das Meer, das Jon Fosse inspiriert, könnte in Hainburg nicht ferner sein: Zwar fließt die Donau durch den zwischen Wien und Bratislava gelegenen Ort. Aber der Ausblick aus Fosses Wohnung wirkt denkbar unpoetisch für einen immer wieder als Nobelpreiskandidat ins Gespräch gebrachten Norweger. An der Heizung lehnen Krücken, ein Knie macht ihm zu schaffen. An der Wand ein Kreuz und eine Gebetskette, eine Kinderzeichnung. Im Bücherregal eine Ausgabe der "Edda", auf dem Sofa Bücher von und über Meister Eckhart. Fosses junge Frau serviert Kaffee und Brötchen. Weil sie ihre Promotion an der Universität von Bratislava kürzlich beendet hat, wird Fosse künftig wieder seltener in Hainburg anzutreffen sein.
Die Welt: Jon Fosse, worin besteht der Unterschied zwischen zwei Figuren, die auf der Bühne einen Dialog miteinander führen, und zwei Menschen, die sich wie wir in einem Gespräch begegnen?
Jon Fosse: Der wesentliche Unterschied ist, dass die beiden Figuren nur in einem spezifischen Raum existieren. Jedes meiner Theaterstücke bildet sein eigenes, in sich geschlossenes Universum, hat seine eigene Sprache, während dieses Interview anders verlaufen wird als alle vorherigen, die ich gegeben habe. Im Gegensatz zu einer Bühnenfigur kann ich in jedem Interview etwas anderes sagen, weil ich zu einem anderen, von eigenem Leben und eigener Persönlichkeit erfüllten Menschen spreche.
Die Welt: In Ihren mehr als dreißig Theaterstücken scheinen Sie sich mehr für die soziale Dynamik zwischen den meist namenlosen Figuren zu interessieren als ihre Psychologie oder Identitäten.
Fosse: Ich weiß nicht, ob dem tatsächlich so ist. Aber ich glaube schon, dass ein Theaterstück eine Art Modell für die Kräfte sein kann, die zwischen zwei Menschen wirken. Für das, was ihre Beziehung ausmacht, was man jedoch weder sehen noch erklären kann, was also einfach irgendwie geschieht. Aber was ist es, das es geschehen lässt? Sehr viel wichtiger als eine Antwort ist vielleicht das Geheimnis und die Stille des Stückes. Eine Stille, die in den Theaterstücken ebenso wie in meinen Erzählungen oder Romanen nicht aus den Figuren spricht, sondern aus der Ganzheit, aus dem Universum, aus dem, was Thomas Mann den "Geist der Erzählung" genannt hat. Diese Stille ist der entscheidende Punkt.
Die Welt: Können Sie die Beziehung zu Asle und Alida beschreiben, dem jungen Paar aus "Trilogie"?
Fosse: Ich bin jetzt seit vielen Jahren Schriftsteller und habe in dieser Zeit auch versucht, meine eigenen Erlebnisse zu verarbeiten. Aber diese Versuche sind kläglich gescheitert, haben nie den Zustand des Schwebens erreicht, der wahre Literatur auszeichnet. Ich musste also lernen, bei Null anzufangen, nicht von eigener Erfahrung oder einer Recherche auszugehen, sondern buchstäblich mit nichts zu beginnen und zu begreifen, dass das Schreiben für mich ein Akt des Zuhörens ist. Zuhören fordert enorme Konzentration - und das, was Meister Eckhart als "Abgeschiedenheit" bezeichnet hat. So ist "Trilogie" entstanden. Ich wusste nichts von Asle und Alida, bevor ich anfing, hatte kein Konzept für die Erzählungen. Ich schreibe einen ersten Satz und folge der Logik, die sich daraus ergibt, dem Muster, das sich nach und nach zu erkennen gibt. Es ist sinnlos, das Schreiben mit einer Absicht zu beginnen - sich etwa vorzunehmen, einen postmodernen, einen feministischen oder katholischen Roman schreiben oder mit einem Buch einen Haufen Geld verdienen zu wollen. Man muss solche Ambitionen aufgeben und sich ganz der Abgeschiedenheit und der Stille anvertrauen.
Die Welt: Ähnlich wie die Musik von Arvo Pärt scheint auch Ihr Werk auf die Stille zuzustreben.
Fosse: Für mich, aber vielleicht mehr noch für Arvo Pärt bedeutet die Stille eine Nähe zu Gott. Wenn man Gott irgendwo hören kann, dann in der Stille. Weil Sie Pärts Namen erwähnen: Ich habe eine Bühnenbearbeitung der "Edda" geschrieben, die unter der Regie von Robert Wilson im nächsten Frühjahr in Oslo Premiere haben wird, und Arvo Pärt schreibt dafür die Musik. Seine Musik ist mir sehr nah.
Die Welt: Handelt es sich bei der "Edda" um Ihre letzte Arbeit fürs Theater, wie vielerorts zu lesen war?
Fosse: Das letzte eigene Stück, das ich geschrieben habe, ist "Ich bin der Wind", und im selben Flow habe ich gleich anschließend "Schlaflos" geschrieben, die in Norwegen 2007 erschienene erste Erzählung aus "Trilogie". Gegenwärtig arbeite ich an einer Septologie, einer Folge von sieben Büchern, die voraussichtlich ab 2019 erscheinen werden. Ich habe bereits mehr als 1500 Seiten geschrieben, und es ist für mich eine große Herausforderung nach all den kurzen Dialogen, all den "Jas" und "Neins" meiner Stücke, an etwas derart Langem zu arbeiten.
Die Welt: Ist das Projekt Ihre Version von Knausgårds "Min Kamp"?
Fosse: Sie wissen, dass ich Karl Oves Lehrer war, und vielleicht hat er mich wirklich inspiriert, endlich einmal etwas sehr Langes zu schreiben, aber ich eifere ihm keineswegs nach. Bei meinem Projekt handelt es sich so ziemlich um das Gegenteil von dem, was er in seinen Büchern tut. Ich war 27 und er 20 Jahre alt, als ich ihn an der Universität unterrichtete. Wir rauchten und tranken zusammen, und wie all meinen Studenten versuchte ich ihm beizubringen, niemals direkt über die eigene Erfahrung zu schreiben. Wie alle guten Studenten hat er genau das Gegenteil von dem getan, was ich ihm riet.
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Die Welt: Immerhin gibt es in "Trilogie" ein autobiografisches Streiflicht, wenn Sie in der letzten der drei Erzählungen einen "Jon" erwähnen.
Fosse: Vielleicht hätte ich selbst das besser lassen sollen. Das Werk ist Fiktion, pure Vorstellung, also etwas, das mit der Seele zu tun hat, mit einem inneren Raum, während sich ein Großteil der Literatur vor allem mit der äußeren Welt befasst. Mein Wunsch, Schriftsteller zu werden, hatte von Anfang an damit zu tun, der Gesellschaft zu entkommen, nicht mit anderen Menschen zusammenzuleben, sondern ganz und gar nach meinem eigenen Rhythmus. Ich wollte ein stilles, einsiedlerisches Leben führen, und es ist eine der Paradoxien meines Lebens, dass ich irgendwann ausgerechnet in der Welt des Theaters landete.
Die Welt: "Spielmannsgeschick ist Missgeschick", sagt Asles Vater. "Immer fort, immer fortziehen", sagt er. "Immer sich den anderen geben. Nie ganz im Eigenen sein dürfen." Beschreiben Sie damit auch Ihr Künstlerdasein?
Fosse: Jeder ernsthafte Schriftsteller, jeder Künstler, der diesen Namen verdient, gibt viel von sich, selbst wenn er nicht wie Karl Ove von sich selbst erzählt. Alles, was ich schreibe, ist stark mit mir verbunden, nur eben in innerer, nicht in einer äußerlichen Hinsicht des Erlebens. Man gibt sehr viel von sich und sucht zugleich nach einem Ausgleich für diesen Verlust, für etwas, das man dafür zurückerhält. Anders würde man das unablässige Geben nicht ertragen können. Alkohol kann diesen Ausgleich schaffen, nicht wenige Künstler sind insbesondere in jungen Jahren schwere Trinker, und auch für mich war der Alkohol für viele Jahre Kompensation.
Die Welt: Ihre Theaterstücke wurden in vierzig Sprachen übersetzt. Ist Welterfolg keine ausreichende Kompensation?
Fosse: Als ich mit dem Schreiben begann, war das einzige, das mir wirklich wichtig war, das Schreiben selbst und die Veröffentlichung. Daran hat sich bis heute nichts Wesentliches verändert. Ich bin allenfalls arrogant in den Gewissheiten meines Schreibens, in dieser Hinsicht war ich von Anfang an unantastbar und von guten Kritiken ebenso wenig beeinflussbar wie von schlechten, weil ich dieses Bild in mir trage, dem ich mit jedem meiner Werke nahezukommen versuche, dieses Wissen, das ich bereits in mir trug, bevor ich überhaupt mit dem Schreiben begann. Mein Werk ist Ausdruck dessen, was ich weiß, was ich zu sagen habe und als meine Gnosis bezeichne. Es ist unmöglich zu sagen, worum es sich dabei handelt, ansonsten müsste ich keine Bücher schreiben. Ich kann dieses Wissen intellektuell nicht erfassen, ich kann es nicht in Worten ausdrücken, aber ich trage in mir dieses Bild.
Die Welt: Sie haben den Band "Best European Fiction 2016" herausgegeben. In der Einleitung schreiben Sie, dass wahre Literatur davon handele, "was es heißt zu sterben". Fürchten Sie Ihren Tod?
Fosse: Nein, da muss ich Sie enttäuschen. Den Tod fürchte ich keineswegs, aber ich fürchte alles andere. Es grenzt für mich an Blasphemie, das Wort "Gott" zu verwenden, aber als Schriftsteller komme ich nicht umhin, Wörter zu gebrauchen. Ich begann als Zwölfjähriger mit dem Schreiben, mit zwanzig schrieb ich den ersten Roman. Seit damals suche ich nach dem, was wir als "Gott" bezeichnen. Nach dem Gott in einer gottlosen, zumindest in intellektuellen Kreisen vollkommen säkularisierten Welt. Aber wohin soll man sich wenden, seitdem der riesige Optimismus der 68er-Generation verflogen ist? Wo findest du Antworten, wenn ein Mensch, der dir nahesteht, tot neben dir liegt? In der Soziologie oder in den Naturwissenschaften? Der Tod kann biologisch erklärt werden, aber wie erklärt man sich, was mit dem Menschen geschehen ist, dessen Körper neben einem liegt? Nur die Religion hat eine Sprache dafür gefunden, und weil die Kunst eng mit der Religion verbunden ist, hat auch die Literatur eine Sprache dafür.
Die Welt: Wir könnten unser Interview mit einem Moment der Stille beschließen - aber wie schreibt man über die Stille?
Fosse: Das ist die große Frage. Aber vielleicht können wir wenigstens sagen, dass es ohne Wörter keine Stille gäbe.