Thomas Beschorner

Prof.denkt.schreibt, St.Gallen

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Covid-Zertifikat: Gastkommentar von Wirtschaftsethiker Thomas Beschorner

Die Lage ist wieder ernst: Intensivstationen nähern sich ihren Kapazitätsgrenzen, Forschungsbefunde zu Long-Covid-Folgen verdichten sich, und Menschen, die sich nicht impfen lassen können, sind den Gefahren der viel ansteckenderen Delta-Variante ausgesetzt. Dazu zählen die bis 12-Jährigen, für die es bislang keinen Impfschutz gibt. Wir nehmen aktuell eine Kinderdurchseuchung mit dem Coronavirus billigend, ja grob fahrlässig in Kauf.

Dies sind nur einige Gründe, weshalb massive Anstrengungen zur Erhöhung der Impfquote notwendig sind, bei der die Schweiz das Schlusslicht in Westeuropa bildet. Die Impfquote liegt in der Schweiz aktuell bei etwa 59 Prozent Erstimpfungen und 52 Prozent Komplettimpfungen. Trotz anhaltender Diskussionen in den letzten vier Wochen hat sie nur um etwa 4 Prozent zugelegt.

Durch die Einführung der Zertifikatspflicht erhofft man sich einen doppelten Effekt: einerseits eine Reduzierung der Infektionszahlen und eine geringere Belastung des Gesundheitssystems, andererseits einen Anreiz zur Impfung von noch nicht Geimpften. Denn mit guten Argumenten und niederschwelligen Angeboten dürften wir so langsam an die Grenzen gekommen sein.

Impfungen sind nicht nur Privatsache

Die Kritik am Beschluss des Bundesrats wird dennoch nicht lange auf sich warten lassen. Es dürfte argumentiert werden, dass es sich dabei um Ungleichbehandlungen handelt.

Es handelt sich in der Tat um Ungleichbehandlung - aber um eine, die aus ethischer Sicht gerechtfertigt ist. Man diskriminiert hier nicht Menschen aufgrund einer Eigenschaft wie Hautfarbe oder Geschlecht, sondern aufgrund einer Verhaltensweise, die andere schädigt. Denn die Impfung schützt nicht nur den Geimpften, sondern aufgrund der deutlich geringeren Virusübertragungsrate auch andere. Diese Form der Ungleichbehandlung finden wir in unserer Gesellschaft zuhauf, etwa in Form des Rauchverbots in Restaurants.

Impfungen sind daher nicht nur Privatsache, sondern eine moralische Pflicht und Ausdruck von Solidarität mit anderen - etwa jenen, die sich nicht impfen lassen können. Das ist im Übrigen zutiefst liberal: Freiheit ist nicht Freizeit, vielmehr vereint ein wohlverstandener Liberalismus stets Freiheit mit Verantwortung.

Es bleiben nur drei Optionen

Man wird sorgfältig beobachten müssen, ob die Zertifikatspflicht den gewünschten Effekt erzielt. Und man wird den Ausgang des Referendums im November berücksichtigen müssen, das das Zertifikat abschaffen will. Falls das Zertifikat wirkungslos bleibt oder der Politik dieses Instrument aus der Hand genommen wird, so gibt es wenigstens drei weitere Optionen, um die Pandemie zu kontrollieren:

1. Finanzielle Anreize erhöhen die Impfbereitschaft. Um die Impfquote massiv zu erhöhen, bräuchte es wohl einen Betrag von 600 Franken, wie Studien zeigen. Eine solche Impfprämie müsste man aus Fairnessgründen auch an bereits Geimpfte entrichten. Diese Massnahme wäre sehr teuer, in Anbetracht der zweiten Option aber eventuell sinnvoll.

2. Diese Option nämlich wäre, weitere Lockdowns in Kauf zu nehmen. Das würde alle treffen, auch die Genesenen und Geimpften. Und das würde, so darf angenommen werden, zu massiven gesellschaftlichen Unruhen führen und den sozialen Frieden in einer kaum zuvor gesehenen Art und Weise gefährden.

3. Schliesslich gibt es die Option einer allgemeinen Impfpflicht. Eine Impfpflicht, das wird oft falsch verstanden, ist nie ein Impfzwang in Form physischer Gewalt. Es würde sich vielmehr um eine gesetzliche Regelung handeln, bei deren Nichtbeachtung hohe Bussen zu entrichten wären. In Berlin etwa gibt es eine Pflicht zur Masernimpfung für Kinder, im Fall eines Vergehens drohen 2500 Euro Busse.

Pest, Cholera und Pocken

Sollten die nun beschlossenen Massnahmen des Bundesrates nicht greifen, das Impfzertifikat bei dem Referendum im November vom Tisch gefegt werden oder sich nicht mehr Menschen aus Vernunft, Verantwortung und Solidarität impfen lassen, so sind es diese drei Optionen, die uns in sehr naher Zukunft bevorstehen. Es ist dann - salopp formuliert - die Wahl zwischen Pest, Cholera und Pocken.

Weniger salopp formuliert geht es darum, wie wir die anhaltende Covid-19-Pandemie besser kontrollieren und Menschen vor massiven gesundheitlichen Folgen schützen können. Eigentlich sollte dies das wichtigste Argument zur Wahrnehmung eines verantwortlichen Handelns in einer liberalen Gesellschaft sein.

Thomas Beschorner (51) ist Professor für Wirtschaftsethik und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen.

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