Thomas Beschorner

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Artikel

Die Reaktionen auf die "Causa Relotius" sind ohne jedes Augenmaß | Übermedien

Der Journalismus ist durch die „Causa Relotius" zutiefst erschüttert. Die Kommentare spiegeln eine Mischung aus Ungläubigkeit, Entsetzen und Überraschung wider. Wie konnte er nur? Und wie konnte das überhaupt passieren?

Überraschende Überraschung

Der Autor

Thomas Beschorner ist Professor für Wirtschaftsethik und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen.


Das Überraschtsein der journalistischen Zunft überrascht. Denn wieso sollte es im Journalismus anders, irgendwie sauberer, ehrenwerter oder integrer zugehen als in anderen gesellschaftlichen Bereichen? Priester misshandeln Kinder, Politiker machen Steuergeschenke an nahestehende Interessengruppen, Wissenschaftler manipulieren Forschungsergebnisse, Manager lügen. Das alles kommt vor, wie wir wissen. Überall, nur nicht im Journalismus?

Es ist keine Frage, dass der konkrete Fall um die Textmanipulationen von Claas Relotius aufgeklärt werden muss, worum sich der „Spiegel" seit dem Bekanntwerden des Vorgangs ja auch nach Kräften bemüht. Der Raum, der diesem Vorgang aktuell in den Medien eingeräumt wird, und die Art der Kommentierungen erscheinen jedoch ohne jegliches Augenmaß für die Sache an sich. Was wir bislang wissen: Ein ehrgeiziger Journalist hat Geschichten manipuliert. Ob es sich dabei um einen Einzelfall handelt oder das Problem systemischer und damit verbreiteter Natur ist, wissen wir bislang nicht.

Krise des Journalismus?

Es ist vor diesem Hintergrund daher befremdlich, wenn nun schon von einer Krise des Journalismus und von einem „Desaster" gesprochen wird oder Vergleiche zu den gefälschten Hitler-Tagebüchern hergestellt werden und was noch alles. Der sich aufdrängende Eindruck ist: Aus den erfundenen Geschichten von Claas Relotius werden gerade flächendeckend Stories produziert, die Journalisten mehr interessieren als ihre Leserinnen und Leser. Und wesentlicher: es werden Schlussfolgerungen gezogen, bei der man die Sinnhaftigkeiten von Reportagen infrage gestellt und Journalisten eine Krise des Journalismus insgesamt heraufbeschwören. Womöglich gibt es sie, diese Krise, ob sie jedoch im Kern mit einem jungen Reporter zu tun hat, wäre zu klären, bevor sie herbeigeschrieben wird.

„Sagen was ist" jedenfalls ist auch das nicht. Wir erleben gerade einen Journalismus im Panikmodus, in dem eher spekuliert und phantasiert wird, als dass sachverständliche Einordnungen der Vorkommnisse erfolgen. Hitzige journalistische Gemüter dürften weder für die Ursachenforschung noch für mögliche Problemlösungen allzu hilfreich sein.

Einzelfall oder Systemfehler?

Will man den Sachen angemessen auf den Grund gehen, gibt es eine erste zu klärende Frage: Ist der Betrug von Claas Relotius ein Einzelfall oder handelt es sich um ein umfassenderes, systemisches Problem? Gibt es weitere analog oder ähnlich gelagerte Fälle, die bislang einfach nur noch nicht aufgeflogen sind? Ist es ein Einzelfall, so gibt es keinen wirklichen Handlungsbedarf, weshalb man dann gerne wieder an die eigentliche journalistische Arbeit übergehen darf.

Liegen Hinweise auf systemische Probleme vor, und dies scheint die Befürchtung unter Journalisten, besonders auch des „Spiegels", zu sein, gälte es einige Eckpfeiler einer Organisationsethik zu beachten:

Der „Spiegel" gibt sich in der Aufarbeitung des Falles Relotius selbstkritisch und will die Qualitätskontrolle, die bei ihm über die Dokumentation sichergestellt wird, einer kritischen Prüfung unterziehen. Technisch formuliert handelt es sich dabei um ein Compliance-System, wie es auch in anderen Arten von Organisationen (zum Beispiel bei Unternehmen, in Krankenhäusern, bei Hochschulen) praktiziert wird: ein Set von Regeln, das unlauteres Verhalten definiert, kontrolliert und gegebenenfalls sanktioniert. So wichtig Compliance-Vorschriften sind und so raffiniert man diese auch gestalten kann - zum Beispiel in Kombination mit sogenannten Hinweisgeber- oder Whistle-Blowing-Systemen -, man sollte nicht der Illusion verfallen, damit wäre eine perfekte Kontrolle möglich.

Ethik der Organisation

Aus der Forschung zur Organisationsethik wissen wir, dass Compliance-Vorschriften und moralische Regelsysteme nur eine Seite der Medaille moralischen Handelns darstellen. Mindestens ebenso wichtig ist, erstens, die personale Integrität der Mitarbeiter (gleichgültig auf welcher Ebene der Organisation), zweitens, eine offene Atmosphäre der Kommunikation, einschließlich einer selbstkritischen Fehlerkultur (Fehler, auch in moralischer Hinsicht, dürfen gemacht, sollten aber korrigiert werden) sowie, drittens, Belohnungs- und Anerkennungsformen innerhalb der Organisation, die moralisches Handeln fördern (oder wenigstens nicht bestrafen). Bei dieser einfachen Trias ist wichtig, dass die Integrität (oder Nicht-Integrität) der Mitarbeiter nicht vom Himmel fällt, sondern durch die beiden letztgenannten Aspekte geprägt werden.

Geschichten

Viertens, Geschichten werden nicht nur in Blättern abgedruckt, Geschichten werden über bestimmte Begriffe und bestimmte Erzählweisen auch in jeder Organisation erzählt. Sie definieren die Identität von Organisationen. Welche Narrative hat der „Spiegel" und haben andere Medien? Welche Geschichten erzählen sie intern und nach außen über sich selbst? Das wäre eine maßgebliche Frage zur Ursachenforschung. Gibt es eine „Moral von der Geschicht"?

Je nach Gestalt des organisationalen Story-Tellings, der Kommunikationsatmosphäre und der Anreizsysteme in Organisationen kann sich eine Moral ebenso wie eine Unmoral entwickeln. Im günstigen Fall einer hohen Integrität der Mitarbeiter kann man nahezu auf Governance-Mechanismen in Form von Compliance-Vorschriften verzichten. Im Fall einer etablierten Unmoral und einer Konkurrenz- und Misstrauenskultur wird man dieser selbst über die ausgeklügeltsten Kontrollmechanismen nicht mehr Herr werden.

Das System Journalismus

Sollte es sich um systemische Probleme im Journalismus handeln, wäre höchstwahrscheinlich davon auszugehen, dass die Problembearbeitung nicht auf die interne Organisation von Medienunternehmen beschränkt ist, sondern eben in der Tat auch das System „Journalismus" in einem umfassenderen Sinne betrifft. Eine solche Perspektive geht also über die redaktionellen Arbeiten hinaus und fragt beispielsweise: Welchen Typus von Journalisten „produziert" der Journalismus? Welche Rolle spielt dabei das Freelancer-System? Wer schafft es in (die nur wenig vorhandenen) Festanstellungen als Redakteur - warum und mit welchen Mitteln? Welche Anreize gehen von Journalistenpreisen aus? Und so weiter, und so fort.

Es mag dem „Spiegel" (und dem Journalismus insgesamt) schmecken oder nicht, Medien spiegeln uns nicht nur die Gesellschaft. Sie sind in moralischer Hinsicht auch selbst ein Spiegelbild der Gesellschaft, in denen moralische Verfehlungen vorkommen. Überraschen sollte das nicht.

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