Es ist der 26. September 1980, 22.19 Uhr: Mit einem hellen Lichtblitz explodiert auf dem Münchner Oktoberfest eine Bombe. Dreizehn Menschen sterben, 211 werden verletzt. Unter den Toten: der einundzwanzig Jahre alte Gundolf Köhler, Mitglied der rechtsextremen „Wehrsportgruppe Hoffmann". Lange Zeit wird er als Einzeltäter gesehen. Neue Ermittlungen ergeben, fast genau vierzig Jahre danach, ein anderes Bild.
„1980 war das Jahr, in dem der rechte Terror eskalierte", sagt der Journalist Ulrich Chaussy in der von ihm und Daniel Harrich stammenden BR-Dokumentation „Ermittlungen? Eingestellt! Das Oktoberfestattentat und der Erlanger Doppelmord". Und Chaussy gibt zu: „Ich habe nicht geglaubt, dass ich mich mit diesen Taten so lange beschäftigen würde."
Anders als die damaligen Ermittler. Die sehen bei Gundolf Köhler kein politisches Motiv für die Tat, die Akte wird noch im selben Jahr mit dem Ergebnis „Einzeltäter" geschlossen. Doch immer neue Indizien, ein unauffindbares Laborbuch und eine abgetrennte Hand, die bei den Ermittlungen verschwindet, ergeben ein anderes Bild. Handelte Köhler nicht allein? Auch Augenzeugen von damals sprechen von einer zweiten Person am Tatort. Es steht die Frage im Raum, ob die Behörden 1980 „auf dem rechten Auge blind" waren oder die möglichen Hintergründe der Tat sogar aktiv vertuscht wurden. Chaussy jedenfalls kommt im Zuge der Recherchen zu dem Schluss: „Es ist völlig klar, dass mit einer abgesprengten Hand, die dem ermittelten Bombenleger nicht gehören kann, die Einzeltäter-These steht und fällt." Wo das Asservat geblieben ist, bleibt ungeklärt.
„Alles etwas merkwürdig", findet auch der bayerische Innenminister Joachim Herrmann, der in der Dokumentation von Chaussy und Harrich zu Wort kommt. Ihm sei nicht verständlich, sagt Herrmann, warum man seinerzeit bei den Ermittlungen so agiert habe.
Schon 2014 hatte Daniel Harrich seinen investigativen Spielfilm „Der blinde Fleck" über die Ereignisse von München im Bayerischen Landtag gezeigt. Im anschließenden Podiumsgespräch signalisierte Herrmann „überraschenderweise Unterstützung", erinnert sich Chaussy. Herrmann hält Wort und gewährt Zugang zu den Akten des Landeskriminalamtes.
Es ist nicht zuletzt der hartnäckigen Ermittlungsarbeit des Journalisten zu verdanken, dass der Generalbundesanwalt im Dezember 2014 den Fall wiederaufnimmt, um neuen Spuren nachzugehen. Er nennt es das „schwerste rechtsterroristische Attentat in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland". Und das soll auch eines der Ergebnisse der Sonderkommission „26. September" werden: Das Attentat gilt nun - offiziell bestätigt - als Rechtsterror. Weitere Mittäter können aber nicht ermittelt werden, trotz umfangreicher Bemühungen. Eigens für die neue Untersuchung wird sogar ein aufwendiges, digitales Tatortmodell programmiert, begehbar in der virtuellen Realität. Der Journalist Chaussy kritisiert jedoch im Film, man habe es nur mit dem „Erkenntnisstand von 1980" programmiert. Am 8. Juli dieses Jahres, nach fünfeinhalb Jahren, werden die Ermittlungen wieder eingestellt.
Doch die Untersuchungen des Journalisten gehen weiter. Er findet einen Zusammenhang zwischen dem Oktoberfestattentat und einem Doppelmord in Erlangen, welcher der Einzeltäter-These widerspricht: Hier wird am 19. Dezember 1980 der Rabbiner, Verleger und ehemalige Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, Shlomo Lewin, mit seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke erschossen. „Der erste gezielte antisemitische Mordanschlag in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands", sagt Chaussy. Die Morde geschahen nur wenige Wochen nach dem Attentat in München. Am Tatort findet man eine Brille, die weder Lewin noch Poeschke gehört. Die Dokumentation zeigt: Die Brille stammt aus der Produktion eines in Heroldsberg ansässigen Herstellers - jenem Heroldsberg, in dem die „Wehrsportgruppe Hoffmann" lange Jahre residierte.
Die Schüsse von Erlangen soll schließlich Uwe Behrendt abgegeben haben, der „engste Vertraute" und die „rechte Hand" des Wehrsportgruppengründers Karl-Heinz Hoffmann. Doch auch Behrendt soll als Einzeltäter gehandelt und 1980 im Libanon sich selbst getötet haben, so die behördliche Perspektive.
Chaussy jedenfalls ist sich sicher: Das Oktoberfestattentat in München und den Doppelmord von Erlangen gilt es unbedingt „gemeinsam zu betrachten". Man dürfe die beiden Verbrechen nicht als unabhängige Aktionen allein agierender Einzeltäter sehen. „Sie zeigen zwei Gesichter des modernen Rechtsextremismus", sagt der Journalist. „Das ist zum einen Bombenterror, um Angst und Schrecken in der Bevölkerung zu verbreiten. Und das ist antisemitischer Hass, der ausgrenzt, der Menschen isoliert, der sie am Ende vernichten kann." Innenminister Herrmann bestätigt, dass die Ermittlungen zu kurz griffen: „Natürlich hätte man dem nachgehen müssen."
Die Dokumentation lässt den Zuschauer mit vielen Fragen und nachdenklich stimmenden Worten zurück: „Ermittlungsbehörden, Justiz und Politik haben seit Jahrzehnten beim rechten Terror weggeschaut und versagt. Die Folgen müssen die Opfer tragen - irgendwie."
Also alles offen? Nicht ganz, denn die Einstellung der bundesanwaltschaftlichen Ermittlung hat vorerst einen Schlusspunkt gesetzt. Was bleibt für den Journalisten? Vor allem eine Futur-II-Perspektive: In Zukunft wird man es wohl hoffentlich besser gemacht haben - wenn sich Behörden und Ermittler nicht mit der schnellen Einschätzung „Einzeltäter" zufriedengeben. Und so endet Chaussy ungläubig wie melancholisch mit: „Das Oktoberfestattentat wird abgeschlossen sein. Auch wenn ich noch viele Fragen habe."
Ermittlungen? Eingestellt! Das Oktoberfestattentat und der Erlanger Doppelmord läuft heute um 22 Uhr im BR-Fernsehen, gefolgt von dem Spielfilm Der blinde Fleck. In der ARD-Mediathek ist die Doku abrufbar.