Ben hatte eine beschissene Kindheit, das darf man wirklich so sagen. Sein Vater brachte sich um, da war er elf Jahre alt. Sein Bruder, der schon zuvor mit einer Schizophrenie kämpfte, wurde sehr krank, er ist bis heute ein psychisches Wrack. Seine Mutter wurde depressiv, die Schwester auch, und Ben selbst kam eigentlich auch nicht mehr klar. „Ich habe mir gesagt: Du musst alles genau beobachten, du musst alles behalten, damit du erklären kannst, was passiert ist, wenn endlich jemand kommt, um uns zu retten." Aber es kam niemand. Ben, der eigentlich anders heißt, blieb, was er war: ein stummer Zeuge jener Grausamkeiten, mit denen das Leben offenbar beschlossen hatte, ihm aufzuwarten.
Ben sitzt auf der Couch der „Starken Bande". Es ist sein erstes Treffen mit Patricia Trautmann-Villalba, zumindest von Angesicht zu Angesicht. Telefoniert haben sie schon oft. Trautmann-Villalba leitet die Geschäfte der Stiftung, die auf aufsuchende Familientherapie spezialisiert ist, aber sie ist auch selbst Psychologin und unterstützt den jungen Mann seit einiger Zeit.
Denn Ben hat ein Problem: Sein eigenes Leben ist eine eher holprige Veranstaltung. Als Kind psychisch kranker Eltern hat er eine komplizierte und auch düstere Kindheit durchgemacht, entwickelte selbst eine Angststörung und Depression, die es ihm unmöglich machte, sein Studium abzuschließen. Er konnte nicht mehr schlafen, hatte bestialische Prüfungsangst. Ben war in vielen Therapien, er hat Medikamente ausprobiert und kämpft sich irgendwie durch. Aber deshalb ist er nicht da. Es geht um seinen Neffen, einen Teenager. Der hat begonnen, sich auffällig zu verhalten. Und Ben hat Angst: Wird das Leben seines Neffen jetzt auch zu der Tortur, die er selbst erlebt hat?
Alles begann für Ben mit dem Tod seines Vaters. Wenn er von ihm spricht, hört man, wie sehr er ihn mochte. Ben beschreibt ihn als „ziemlich cool", offen, klug. Aber der Vater hatte auch Probleme. Er versuchte, seine Depression in einer Klinik unter Kontrolle zu bringen. Dann verschwand er. Eines Tages klingelte die Polizei und brachte die Nachricht von seinem Suizid. „Ich hatte Angst, dass ich schuld bin", sagt Ben. „Vielleicht, weil meine Eltern mir nicht das Werkzeug an die Hand gegeben haben, damit umzugehen."
Ein solches Werkzeug wäre offene Kommunikation gewesen, sagt Sarah Kittel-Schneider. Mit dem Kind sprechen, seine Fragen beantworten und das Geschehene nicht ignorieren. Sarah Kittel-Schneider, Professorin für Entwicklungspsychiatrie in Würzburg und eine Koryphäe auf dem Gebiet, arbeitet oft mit Kindern psychisch kranker Eltern. Sie sagt: „Nach einem so dramatischen Ereignis wie einem Suizid sprechen Erwachsene oft nicht mit den Kindern - weil sie sie nicht belasten wollen." Doch das geht oft schief: Die meisten Kinder kriegen sehr wohl mit, was passiert ist. Darum rät Kittel-Schneider, mit den Kindern zu reden, wenn nötig auch mit therapeutischer Unterstützung. „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, aber sie verstehen sehr viel."
Wird nicht über das traumatische Erlebnis oder die psychische Krankheit der Eltern gesprochen, fühlt sich das Kind mitunter alleingelassen. Oft kann es das Verhalten von Mutter oder Vater nicht verstehen. Sie sind unzuverlässig, handeln unlogisch, manchmal auch beängstigend für das Kind. Das führt zu dauerhaftem Stress, wie Kittel-Schneider sagt, und kann gefährlich werden: Stress erhöht das Risiko, einmal selbst an psychischen Krankheiten zu leiden.
Auch Bens Bruder kam nicht gut mit der Situation klar. „Nachts trat er Türen ein, ich war immer in Habachtstellung. So bin ich aufgewachsen", sagt der junge Mann. Stress also, permanent. In der Schule lief es danach nicht besonders. Ben wurden ein Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität diagnostiziert. „Heute denke ich, es war einfach zu viel für mich." Er bekam Ritalin. Es wurde nicht besser. Mit zwölf wurde er in ein Internat geschickt. Klotaufe. Mobbing. Abhauen. Zurückgehen. Schließlich überzeugte Ben seine Mutter, nach Frankfurt zurückkehren zu dürfen. Er wechselte insgesamt zehnmal die Schule. Als er um die 16 Jahre alt war, begannen die Panikattacken.
Er macht viel Sport, das half etwas. Er schaffte sein Fachabi, begann zu studieren - und bekam die Ängste doch nicht in den Griff. Er nahm mehr Ritalin, konnte nicht mehr schlafen, zerbrach fast. „Ich hatte einen passiven Todeswunsch", sagt Ben. Es sollte einfach aufhören.
Zweimal versuchte er, eine ambulante Psychotherapie zu machen. Er hatte Pech. Beide Male gingen seine Therapeutinnen in den Mutterschutz, als er gerade die lange Geschichte erzählt hatte, die sein Leben so aus der Bahn geworfen hat. Dann ließ er sich stationär aufnehmen, und es wurde besser. Ben stabilisierte sich. Er begann eine Ausbildung zum Automechaniker. Nächstes Jahr schließt er sie ab. Ein Erfolg, der zeigt, dass die betroffenen Kinder häufig einen Weg finden, wie Trautmann-Villalba sagt. „Die Kinder haben Ressourcen, aber können die nicht so entwickeln, wenn sie nur mit der Unruhe zu Hause beschäftigt sind."
Ben sagt, er habe auf seinem Weg die eigene Einstellung zu psychischen Krankheiten geändert. Von Scham und Wegschauen zum offenen Kampf: „Ich muss darüber sprechen." Noch heute sucht er sich immer wieder Hilfe, wenn es ihm schlechter geht. Zum Beispiel jetzt, da es seinem Neffen nicht gutgeht. „Er soll nicht das erleben, was ich erlebt habe."
Trautmann-Villalba von der „Starken Bande" hat öfter mit Menschen zu tun, die Hilfe suchen, weil es anderen in der Familie nicht gutgeht. „Geschichten wie diese haben uns ermutigt, ein Projekt dafür anzustoßen." Mit Unterstützung der Metzler-Stiftung wurde ein Präventionsprogramm für Kinder psychisch kranker Eltern aufgelegt. Die Metzler-Stiftung fördert die „Starke Bande" schon länger. Da es bisher keine Hilfe explizit für die Kinder von Suchtkranken und psychisch Kranken in Frankfurt gibt, aber der Bedarf da sei, habe sie sich entschlossen, sich finanziell am dem Präventionsprojekt zu beteiligen.
„Stark" heißt es, und es richtet sich an Familien, in denen die Eltern psychisch krank sind. „Die Kinder sind oft sozial isoliert", sagt die Psychologin Lina Krakau, die das Projekt gemeinsam mit Trautmann-Villalba leitet. Die Eltern lassen sie zum Beispiel keine Freunde einladen, weil sie sich schämen und nicht wollen, dass jemand ihre Situation mitbekommt. Bei „Stark" spielen die Kinder mit betroffenen Gleichaltrigen, lernen Bewältigungsstrategien und können mal ganz frei von Verantwortung sein. Denn viele Kinder, so erzählen es die Psychologinnen, haben zu Hause permanent das Gefühl, sich kümmern zu müssen. „Die Kinder sollen sich einen Raum aneignen, in dem sie Bedürfnisse äußern", sagt Krakau. So gestärkt, kann es gelingen, sie selbst vor psychischen Krankheiten zu schützen. Sie bekommen das „Werkzeug", von dem Ben spricht.
„Stark" basiert auf vier Säulen: Es gibt das Gruppenangebot für Kinder und eines für Eltern - derzeit wegen der Pandemie auf Tandems eingedampft. Das bedeutet, dass es nicht vier oder fünf, sondern aktuell nur zwei Kinder sind, die jeweils mit einer Psychologin zusammenkommen. Hinzu kommt eine Beratung für Fachkräfte wie Lehrer oder Sozialarbeiter, die schon Kontakt zur Familie haben. Und schließlich gibt es noch die Unterstützung für Familienmitglieder, die lernen können, Informationen über psychische Krankheiten kindgerecht zu vermitteln. Es melden sich auch viele ältere Kinder psychisch kranker Eltern. Menschen wie Ben, die zwar erwachsen geworden sind, aber noch immer kämpfen. Vielleicht auch gar nicht für sich selbst.
Auch Bens Schwester, die Mutter des Neffen, hat psychische Probleme. Sie habe manchmal Wahnvorstellungen und ihre Depression nicht überwunden, erzählt der junge Mann. Allerdings wolle sie weder ihre eigene Krankheit sehen noch die Tatsache, dass es auch bei ihrem Sohn Anzeichen dafür gebe, dass ihn etwas beschäftige. Er distanziert sich, hat eine Schlafstörung. Laut Trautmann-Villalba ist das, gemeinsam mit schlechteren Leistungen in der Schule und der Isolierung, das Hauptproblem der betroffenen Kinder. Sie haben zum Beispiel Angst davor, was nachts passieren könnte. Ob es wieder einen Ausraster der Mutter gibt oder ein Drama um den Vater. So wird das Problem der Eltern auch zum Problem der Kinder. Ben sagt: „In unserer Familie wurde das Trauma nie bearbeitet, sondern an die nächste Generation weitergegeben."
Psychische Krankheiten und Traumata sind nicht ansteckend wie eine Erkältung. Aber sie belasten und können sogar genetisch übertragen werden. Sarah Kittel-Schneider, die auch die Neurobiologie von psychischen Krankheiten erforscht, sagt: „Es ist gut belegt, dass Stress, wie er etwa auch durch ein Trauma auftritt, das Erbmaterial verändert." Die Nachkommen sind dann anfälliger für psychische Krankheiten. Hinzu kommt: Verhaltensweisen werden abgeschaut und von der nächsten Generation übernommen. Auch solche, die gar nicht helfen - Dinge totschweigen, vor Problemen weglaufen oder ihnen aggressiv begegnen.
Kittel-Schneider hat allerdings auch eine gute Nachricht: „Man kann daran arbeiten." Therapien helfen, Verhalten zu ändern, und können sogar den epigenetischen Effekt ausbremsen, wie die Professorin sagt. Leicht ist das jedoch nicht.
Der lange Weg, den Ben hinter sich hat, belegt das. Seinem Neffen soll es besser gehen. Er will die Kette von psychisch belasteten Menschen unterbrechen. Dass also weder selbstzerstörerisches Verhalten noch genetische Risiken immer weitergegeben werden. Was passiert gerade mit seinem Neffen? Ben will sichergehen. „Psychische Krankheiten sind ein mega Tabu. Aber es gibt diese Krankheiten, und wir dürfen nicht die Augen davor verschließen." Er wünscht sich, dass seine Schwester zum Beispiel in das Präventionsprogramm geht. Solange sie sich darauf nicht einlässt, holt immerhin er Hilfe bei der „Starken Bande". Trautmann-Villalba hat ihm schon viele Tipps gegeben, wie er das Gespräch zu dem Teenager suchen kann. Ben gibt nicht auf. Er könnte es nicht ertragen, wenn auch sein Neffe ein stummer Zeuge würde.
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Wenn Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Es gibt eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie - auch anonym - mit anderen Menschen über Ihre Gedanken sprechen können.
Das geht telefonisch, im Chat, per Mail oder persönlich.
Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern sind 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222. Der Anruf bei der Telefonseelsorge ist nicht nur kostenfrei, er taucht auch nicht auf der Telefonrechnung auf, ebenso nicht im Einzelverbindungsnachweis.
Ebenfalls von der Telefonseelsorge kommt das Angebot eines Hilfe-Chats. Die Anmeldung erfolgt auf der Webseite der Telefonseelsorge. Den Chatraum kann man auch ohne vereinbarten Termin betreten, mit etwas Glück ist ein Berater frei. In jedem Fall klappt es mit einem gebuchten Termin.
Das dritte Angebot der Telefonseelsorge ist die Möglichkeit der E-Mail-Beratung. Auf der Seite der Telefonseelsorge melden Sie sich an und können Ihre Nachrichten schreiben und Antworten der Berater lesen. So taucht der E-Mail-Verkehr nicht in Ihren normalen Postfächern auf.
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