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Mangelware Therapieplatz - Suche nach Psychotherapeuten wird zum Marathon

Photo by Dan Meyers on Unsplash

Rund 40 Prozent der Patienten mussten 2019 drei bis neun Monate auf einen Therapieplatz warten. Diese Daten stehen im Widerspruch zur Bedarfsplanung des Gemeinsamen Bundesausschusses.


"Mütend" – eine Wortneuschöpfung aus müde und wütend – beschreibt die Gefühlslage in der anhaltenden Corona-Pandemie wohl ziemlich treffend. Viele Menschen erlebten die momentane Situation als deutlich belastender als im vergangenen Frühjahr, ergab eine Untersuchung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe im März. 71 Prozent der Befragten erklärten den Angaben zufolge, die Situation bedrücke sie. Vor einem Jahr sagten dies 59 Prozent, im Sommer 36 Prozent der Befragten. Jeder Dritte sprach von Sorgen um seine berufliche Zukunft, ein Viertel von starker familiärer Belastung.


Entpuppt sich eine seelische Krise als bleibend, rät Nikolaus Melcop dazu, psychotherapeutische Hilfe zu suchen. Er ist Psychotherapeut in Landshut und Präsident der Psychotherapeutenkammer Bayern. Doch die Suche nach einem Therapieplatz erweist sich nicht selten als Marathon. "Die Wartezeiten sind regional sehr unterschiedlich", sagt Melcop.

Eine Auswertung von 300.000 Versichertendaten für das Jahr 2019 der Bundespsychotherapeutenkammer ergab jedoch, dass rund 40 Prozent der Patienten mindestens drei bis neun Monate auf einen Therapieplatz warten mussten, obwohl zuvor eine psychische Erkrankung diagnostiziert worden war.


Ein Widerspruch


Diese Daten stehen im Widerspruch zur Bedarfsplanung des Gemeinsamen Bundesausschusses, auf dessen Basis die Kassenärztliche Vereinigung Bayern (KVB) die ärztliche Versorgung sicherstellt. "Rein formal gesehen ist die Anforderung des Gesetzgebers in Bezug auf eine ausreichende ambulante psychotherapeutische Versorgung in den meisten Planungsbereichen Bayerns mehr als erfüllt", teilte die KVB auf Anfrage der PNP mit. Die Bedarfsplanung legt fest, wie viele Psychotherapeuten mit kassenärztlicher Zulassung sich in einem bestimmten Gebiet niederlassen dürfen, um den Bedarf dieser Region zu decken.


An den meisten Orten in Bayern liege laut Bedarfsplanung sogar eine Überversorgung mit Psychotherapieplätzen vor, erklärt Nikolaus Melcop.

Doch er stellt fest: "Häufig übersteigt die Nachfrage trotzdem das Angebot." Dass sich mehr Menschen für eine Psychotherapie entscheiden, sei zunächst positiv. "Es ist das Resultat von intensiver und jahrelanger Aufklärungsarbeit, und zeigt, dass das Stigma rund um psychische Erkrankungen langsam zurückgeht." Dass viele Patienten allerdings monatelang auf eine notwendige Therapie warten müssen, bezeichnet die Bundespsychotherapeutenkammer als inakzeptabel.


40 Prozent mehr Anfragen von Patienten


Kritik an der Bedarfsplanung gab es schon vor Corona, doch wie in vielen Bereichen hat die Pandemie bestehende Missstände verschärft. Psychotherapeut Nikolaus Melcop sagt: "Gerade die dritte Corona-Welle empfinden viele als große psychische Belastung." Corona werde selbst zum Thema der Therapie: Existenzängste, fehlende soziale Kontakte, beengte Wohnverhältnisse, familiäre Spannungen sowie Mehrfachbelastungen durch Homeschooling und Homeoffice. Die Ursachen sind vielfältig, die Folgen immer häufiger Depression und Angststörungen.

Melcop verweist auf eine Umfrage unter Psychotherapeuten. Die habe ergeben, dass die Anfragen von Patienten innerhalb einer Woche im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 40 Prozent zugenommen hätten. Er rechnet damit, dass auch die Zahl der diagnostizierten psychischen Erkrankungen zunehmen werde.

In der ersten Corona-Welle hätten viele Psychotherapeuten schnell reagiert und ihre Sitzungen bei Bedarf vorübergehend auch per Telefon oder Video abgehalten. Doch das sei nicht in jedem Fall möglich gewesen. Schlechte Internetverbindungen hätten die Kommunikation zwischen Therapeut und Patient vielerorts erschwert. "Eine doppelte Benachteiligung für den ländlichen Raum", sagt Melcop. Dort sei die Internetverbindung häufig langsamer und die psychotherapeutische Versorgung tendenziell schlechter.


Technische Mittel


Technische Mittel könnten zwar bestehende Therapien erleichtern, aber keine zusätzlichen Therapieplätze schaffen. Melcop und die Bundestherapeutenkammer fordern deshalb eine erneute Reform der Bedarfsplanung. Kurzfristig sollten auch Therapien in Privatpraxen unbürokratisch über die Krankenkassen abgerechnet werden können. Langfristig brauche es mehr Therapieangebote, insbesondere in ländlichen Gebieten, um den realen Bedarf zu decken.


Beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) verweist man auf Nachfrage darauf, dass die Bedarfsplanung bereits "im Jahr 2012 völlig neu gefasst worden" und 2019 "nochmals deutlich weiterentwickelt worden" sei. Das sorge dafür, dass sich die Bedarfsplanung stärker an der Entwicklung der Bevölkerung orientiere und regionale Unterschiede berücksichtige. Das in der Bedarfsplanung verankerte Verhältnis von Bevölkerung und Therapieplätzen müsse hierbei entsprechend der Alters-, Geschlechts- und Morbiditätsstruktur vor Ort angepasst werden. Außerdem verweist der G-BV auf die kontinuierliche Erhöhung der Zahl der vertragsärztlich tätigen Psychotherapeutinnen und zitiert die Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage vom Januar 2021: "Nahmen 2011 noch 23622 psychologische und ärztliche Psychotherapeutinnen an der Versorgung teil, sind es 2019 34335." Im Hinblick auf das Leistungsangebot sei dieses international einzigartig.

Die Diskrepanz zwischen realen und errechnetem Bedarf erklärt der G-BA unter anderem so: "Nicht jeder besetzte volle Kassensitz wird von den Inhabern auch zu 100 Prozent für die Patientenversorgung genutzt." Grund dafür seien beispielsweise Nebentätigkeiten als Gutachter, Coach oder Sachverständiger. So sei es möglich, dass es trotz einer hohen absoluten Anzahl an Kassensitzen Versorgungsdefizite für Patienten gebe.


Wochenarbeitszeit von im Schnitt 47 Stunden


Nikolaus Melcop möchte diesen Vorwurf so nicht stehen lassen. Angesichts der hohen Auslastung der Kolleginnen und Kollegen handele es sich hierbei um eine reine Schutzbehauptung. Er stellt klar: "Niedergelassene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten arbeiten nach Daten des Praxis-Panels von 2015 des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland durchschnittlich mehr als 47 Stunden pro Woche, und aktuell werden die Zeiten noch höher liegen, da die von Psychotherapeuten erbrachte Anzahl an Psychotherapiesitzungen in den letzten Jahren Jahr für Jahr gestiegen ist." Die Psychotherapeuten, die weniger arbeiten wollen oder müssen, hätten einen halben Sitz an einen Kollegen oder eine Kollegin abgegeben.


In Bezug auf die Corona-Krise betont der Gemeinsame Bundesausschuss: Die Bedarfsplanung sei nicht das geeignete Instrument, um auf einen zeitlich sehr begrenzten höheren Bedarf zu reagieren. − pnp/kna


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