Jedes Jahr kurz vor Weihnachten fährt die Stiftung Kinderzukunft 1400 Kilometer in den rauen Westen Rumäniens, um dort Geschenke aus Hessen zu verteilen. Unsere Volontärin Tamara Schempp hat die Ehrenamtlichen auf ihrer Reise begleitet.
Hoch oben im Banater Gebirge, 600 Meter über dem Meeresspiegel, kriecht das Elend um jedes Haus. Wo einst Türen und Fenster waren, klaffen schwarze Löcher. Hunde bellen, niemand hält sie an der Leine. Fünfstöckige Betonbauten hocken auf rauen Felsen. Die letzten verbliebenen Einwohner leben hinter weißen Spitzenvorhängen. Satellitenschüsseln und eine steile Straße sind ihre einzige Verbindung zur Außenwelt. 2006, erzählen die Menschen in der Stadt Anina, war das Jahr des Unglücks. Bei einer Methangas-Explosion in der Steinkohle-Mine starben sieben Männer. Auf Druck der Europäischen Union schloss die rumänische Regierung das Bergwerk. 2 200 Menschen verloren damals ihren Arbeitsplatz. Das schwarze Gold ist nichts mehr wert. Also gingen sie. Nach Deutschland, Österreich, Frankreich. 2006 ist die Armut in Anina eingezogen.
Einmal im Jahr, kurz vor Weihnachten, kommen Gäste. Sie bringen Kindern aus zerrütteten Familien und armen Verhältnissen ein Stück Freude zurück. Sie kommen mit Kleinbussen die Berge hinauf. Vor allem aber: Sie kommen mit Paketen. Mit Spielzeug und Süßigkeiten, mit Kuscheltieren und Malbüchern. Dieses Mal sind es ein Ehe- und ein Geschwisterpaar, eine Auszubildende der Werkzeugmechanik und ihr Ausbilder, zwei Organisatoren, ein Fotograf und eine Journalistin, die in Anina Geschenke verteilen. Am Internationalen Tag des Ehrenamtes haben sie sich mit der Stiftung Kinderzukunft auf den Weg gemacht, quer durch vier Länder in zwölf Stunden. Die Helfer haben zwei Ziele.
1 400 Kilometer sind es von Gründau aus, dem Sitz der Stiftung, nach Anina. Dort werden die Jüngsten in einem Haus mit rostigen Gittern vor den Fenstern betreut. „Gradinita", Kindergarten, steht in verblasster Schrift auf einem Schild neben dem Eingang. Drei schiefe Stufen führen hinein. Es riecht nach Seife. Das Zimmer ist zu warm. Der Fernseher läuft. Kinder in der Werbung zeigen der Kamera mit aufgerissenem Mund die Geschenke in ihrer Hand. Eine junge Frau, braune Haare, Leopardenleggings, sitzt auf einem zu kleinen Stuhl, ein Kind auf ihrem Schoß. „Multumesc", danke, sagt sie den Helfern, die ihr ein Geschenk überreichen. Wenn die Frau lächelt, presst sie ihre Lippen aufeinander. Niemand soll sehen, dass ihr kaum Zähne geblieben sind. „Dramatisch, eine schwere Periode", nennt Gheorghe Românu die aktuelle Situation in Anina. Der Bergbauingenieur ist das Oberhaupt der Stadt. Er erinnert sich gut an die Zechen-Tragödie vor elf Jahren. „Brutal und plötzlich kam sie", sagt er. Gestreifter Pulli, gerötetes Gesicht, laute Stimme. Românu knetet die Hände, während er spricht. Dan Vlad, Rumäne mit österreichischen Vorfahren, überträgt seine Worte ins Deutsche. „Ein Mensch ist arm, wenn er keine Arbeit hat - oder krank ist", übersetzt Vlad den Gästen, die Anina an diesem Tag besuchen. „Multumesc", sagt der Bürgermeister. Küsschen rechts, Küsschen links.
Und weiter. 1 250 Kilometer sind es von Gründau bis ins Kinderdorf „Satul de Copii Rudolf Walther" in Timisoara, benannt nach dem deutschen Gründer der Stiftung. 120 Kinder leben in elf Wohnhäusern auf acht Hektar Land. Es sind Jungen und Mädchen aus Familien, in denen Drogen, Gewalt und Armut den Alltag beherrschen. Einige Eltern gingen ins Ausland, um Arbeit zu finden. Manche ließen ihre Kinder zurück. Bevor das Jugendamt sie zur Adoption freigibt, kommen sie ins Kinderdorf. Dort erhalten sie das, was ihnen ihre Familie nicht geben kann: Zuneigung, Schutz und individuelle Förderung. 23 Jahre ist es her, dass das Kinderdorf in Timisoara gebaut wurde. 23 Jahre ist das älteste Kind, das dort lebt. Vier das Jüngste.
Hausnummer 11. Die Gruppe aus Deutschland streift sich den Dreck von den Schuhsohlen. Ein Blatt Papier hängt an der Tür. Micky Maus und Goofy grüßen darauf. Fremde mit einem Stapel Pakete auf dem Arm betreten das „Häuschen der Freundschaft". „Junge 6-8 Jahre", „Mädchen bis 18 Jahre" oder „neutral" steht auf Geschenkpapier mit Schneeflocken, Christbaumkugeln und Teddybären mit Weihnachtsmützen.
Es riecht nach frisch gebackenem Kuchen. Muffins mit Gummibärchenfüllung, eingepackt in Herzchenpapier, stehen auf dem Küchentisch. In drei Reihen haben sich die Jungen neben dem bunt geschmückten Weihnachtsbaum aufgestellt. Der Rücken gerade, die Hände vor dem Schritt überkreuzt, singen sie in gebrochenem Deutsch „Lasst uns froh und munter sein". Cowboyhut und Nikolausmütze zu Jogginghose und Tennissocken in Badeschuhen. Sie reißen das Papier auseinander, öffnen den Deckel aus Karton. „Wow, Lukas! Uita-te la", schau mal, ruft ein Junge einem anderen zu und zeigt ihm, wie lang die Schnur an seinem Jojo ist. Die Sieben- bis 15-Jährigen blasen Plastikbälle auf und tauschen Karten untereinander. „Multumesc" und „Dankeschön". Hände winken.
Weihnachtsbilder 2017 unserer LeserNummer 13. Das „Zwergenhaus". Päckchen stapeln sich zu Türmen auf dem Küchentisch. Daneben tanzen Mädchen in roten Kleidern und Lackschuhen. Mit den Händen in den Hüften lassen sie das Becken kreisen. „Dsching, Dsching, Dschingis Khan" schallt aus den Boxen. Bei jeder Bewegung wackeln die Schleifen in ihrem Haar. Zehn Minuten später sitzen die Mädchen auf dem Teppichboden. Sie halten sich Barbiepuppen vor das Gesicht, klemmen sich Spangen ins Haar und blättern durch Malbücher mit Prinzessinenmotiven. Sie lachen und reden wild durcheinander.
„Die Kinder wünschen sich, nicht hier zu sein." Cristian Popescu trinkt einen Schluck Kräutertee. Wenn der Direktor des Kinderdorfs von seinen Schützlingen erzählt, legt er die Stirn in Falten. „Je jünger die Kinder sind, desto traumatischer ist es für sie, wenn sie den Eltern weggenommen werden." Manche Eltern besuchen ihre Kinder nicht, sagt er, bis das Jugendamt sie dazu zwingt. Ein halbes Jahr ohne Besuch muss verstreichen, bis ein Kind zur Adoption frei gegeben wird. Das Kinderdorf soll eine Zwischenstation bleiben. Drei Jahre, möglichst nicht länger. „Ein Kind hat ein Recht auf eine Familie", sagt Popescu. Ohne Vater, Mutter, Schwester und Bruder. Manchmal halten es die Kinder nicht mehr aus. Zwei Wochen zuvor ist ein 13-jähriges Mädchen über den Zaun geklettert, erzählt Popescu, den Blick auf seine Tasse gerichtet. Sie ist gewalttätig und hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, sagt der Direktor. Die Polizei hat sie zurückgebracht, zu Popescu, seinem Erzieher und seinen 35 Erzieherinnen.
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