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Tauchgang ins Unbewusste: Julius Ruge in der Potsdamer Galerie Gute Stube

© Andreas Klaer

Unter der Oberfläche von Julius Ruges akribisch gefertigten Kunstwerken ist Bewegung. Der Potsdamer Kunstverein zeigt seine Arbeiten aktuell in der Einzelausstellung „Cluster".


In Julius Ruges Kindheitsträumen gibt es etwas, das er als „Zerreißmoment" beschreibt: Immer wieder begegnen ihm abstrakte, dornige, aber auch ovale oder kugelartige Formen, die aus einer anderen Welt zu kommen und ihn selbst auszudrücken scheinen. Seine Versuche, sie zusammenzubringen, scheitern jedes Mal: Die Formen bleiben unvereinbar.


Die Erinnerung an die existenzielle kindliche Angst über die gefühlte Unvereinbarkeit materialisiert sich in seiner Kunst; durch seine Werkreihe „Splitter“ von 2020 zieht sich die Spannung zwischen den Gegensätzen. Scharfkantig stoßen sich tiefschwarze dornenartige Arme in immer neuen Variationen von durchlässigen plastischen Körpern ab, fast scheinen sie in Bewegung zu sein. Die Serie ist aktuell in seiner Einzelausstellung „Cluster“ in der Galerie Gute Stube des Potsdamer Kunstvereins zu sehen.


Manche der Zeichnungen wirken, als verzweige sich Tusche langsam auf Aquarellpapier – bei genauerem Hinsehen sind sie mit Ölkreide entstanden. Sie ist zum Zeichnen eigentlich nicht gut geeignet; zu grob und zu klebrig scheint sie fürs Filigrane. Umso beachtlicher, wie präzise Julius Ruge sie für seine kleinformatigen, feinen Zeichnungen einsetzt. Die Wiederholung spielt für ihn eine wichtige Rolle: Der Reiz liegt im Detail. „Ölkreide muss in einem gewissen Rhythmus aufgetragen werden, sonst scheitert man“, sagt er. Korrektur ausgeschlossen.


Julius Ruge


wurde 1982 in Potsdam geboren. Nach seiner angefangenen Kochausbildung in einem Stralsunder Vier-Sterne-Haus kommt er über die Beschäftigung mit Graffiti zur Kunst. 2003 beginnt er ein Kunststudium an der Bauhaus-Universität Weimar. Von 2007 bis 2011 arbeitet er parallel als Künstler und Koch. 2023 wird er für den „Nachwuchsförderpreis für Bildende Kunst“ des Landes Brandenburg nominiert.


Seine Einzelausstellung „Cluster“ läuft bis zum 15. Juli in der Galerie Gute Stube. http://potsdamer-kunstverein.de


Thomas Kumlehn, zweiter Vorsitzender des Potsdamer Kunstvereins, hat die Ausstellung kuratiert. Begegnet ist ihm Julius Ruges Arbeit während der Corona-Zeit. Die damals mit ihm geplante Gruppenausstellung fällt aus, Ruges Kunst bewegt sich in Kumlehn weiter. „Die Arbeiten begegnen einem auf den ersten Blick mit Wucht, dann entwickeln sie diesen Sog, je mehr Feinheiten man entdeckt“, so der Kurator. „Die Textur der Oberflächen ist faszinierend.“


Julius Ruge ist über Umwege zur Kunst gekommen: Nach seiner begonnenen Kochausbildung in einem Stralsunder Vier-Sterne-Haus beschäftigt er sich mit Graffiti, dann mit Zeichnung und Malerei bis hin zu einem angefangenen Kunststudium an der Bauhaus-Universität in Weimar. Nach seiner Rückkehr nach Potsdam arbeitet er einige Jahre parallel als Koch und Künstler. Letztes Jahr wurde er für den „Nachwuchsförderpreis für Bildende Kunst“ des Landes Brandenburg nominiert.


Seine Graffiti-Vergangenheit hat sich in seine heutige Formensprache eingeschrieben: In der Ausstellung lässt sich verfolgen, wie er sie über acht Jahre hinweg mit unterschiedlichen Techniken weiterentwickelt hat. Ihr verbindendes Element: das Unbewusste.


Scheinen seine minimalistischen „Artefakt“-Arbeiten Teil eines Rorschach-Tests zu sein, schickt er die Betrachtenden im Triptychon „Ein Kreuz und das böse Kind“ (2018) mit seinem Titel auf eine Spur: Formt sich hier die kindliche Unschuld im Runden ins Dämonische?


Hunderte Vorzeichnungen


In seiner „Dschinn“-Serie, die zwischen 2021 und 2024 entstanden ist, beschwört er Geister. Julius Ruge ist ein obsessiver Zeichner; Hunderte von Vorzeichnungen gehen den Arbeiten voraus. Dschinns sind nach islamischer Vorstellung übersinnliche Wesen: Geister, Dämonen, Schutzgötter. Sie können Menschen beeinflussen oder sogar von ihnen Besitz ergreifen.


Bei Ruge nehmen sie den meisten Platz ein. Ungerichtet, fast wütend strecken sie sich über die großformatigen Leinwände. Aus der Nähe zeigt sich der Farbauftrag als genaues Gegenteil: Die Acrylfarbe ist akribisch Bahn für Bahn aufgetragen: mal zart und durchlässig, mal dick mit Nachdruck bis ins Körperhafte.


Der Übergang ins Psychologische ist fließend: Auch als unbewusste, abgespaltene Charaktereigenschaften werden Dschinns begriffen. „Provokateure“, sagt Ruge. Bei ihm verstecken sich die Geister auch in den „Splittern“ und „Artefakten“. In der Ausstellung kann man ihnen begegnen – seinen und eigenen.

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