Delmenhorst. Verbale sexuelle Belästigung gehört zum Alltag vieler junger Frauen in Delmenhorst. Illegal ist das nicht, aber wie kann ich mich wehren? Ein Erfahrungsbericht.
Rein in die Laufhose, Sportschuhe zugeschnürt, Kopfhörer in die Ohren: „Work sucks, I know” schreit mir Tom DeLonge, Sänger und Gitarrist der Rock-Pop-Band Blink-182, in den Gehörgang. Ich stelle leiser. Wenn ich laufe, höre ich gerne Musik aus den 90er und 2000er Jahren – die Hits meiner Schulzeit. Drei Stufen aus dem Hausflur auf den Gehweg, nach rechts an den Einfamilienhäusern und Doppelhaushälften des Delmenhorster Stadtteils Stickgras vorbei. Links parken die Autos am Straßenrand. Ich laufe im Gleichschritt mit dem Takt der Musik und überlasse mich dabei meinen Gedanken – bis mich das Hupen eines vorbeifahrenden Sportwagens an der nächsten Kreuzung ruckartig in die Realität zurückholt. Ein junger Mann mit Sonnenbrille und zurückgegelten braunen Locken nickt mir bei heruntergelassener Scheibe vom Fahrersitz aus entgegen. Es vergehen nur wenige Sekunden, bis der Wagen an mir vorbeigezogen ist. Ich reagiere nicht. Schlagfertig bin ich nie gewesen. Und während ich versuche, die Wut in mir herunterzuschlucken, mit meiner Ohnmacht umzugehen, singen The Ting Tings "You're not adorable. I want something unignorable".
Feminist Friday bringt Catcalls mit Kreide auf die Straße
Laut einer Pilotstudie des Bundesfamilienministeriums haben rund 63 Prozent der Frauen in Deutschland bereits selbst sexuelle Übergriffe erlebt oder bei anderen mitbekommen. Diese Übergriffe können unterschiedliche Formen annehmen: In extremen Fällen, wie beispielsweise in der Silvesternacht 2015 in Köln, greifen Männer den Frauen ungefragt an den Hintern, die Brüste oder in den Schritt. Häufiger sind aber verbale sexuelle Belästigungen im öffentlichen Raum, die unter dem Begriff „Catcalling“ zusammengefasst werden. Das können sexualisierte Blicke, Pfiffe, anzügliche Kommentare, sexuelle Anspielungen oder hupende Autos sein. Für viele junge Frauen gehören sie zum Alltag.
Um diese Art der Belästigung sichtbar zu machen, sammelt das feministische Kollektiv Feminist Friday Delmenhorst seit Mitte des Jahres Erfahrungsberichte von Menschen, die Catcalls erlebt haben, und bringen sie am Ort des Geschehens mit Kreide auf die Straße: „Gibt es dich für’n Zehner?“ wurde eine Betroffene im Mai am Wiekhorner Heuweg gefragt, „Darf ich dich ficken?“ bekam eine andere im Juni an der Oldenburger Straße zu hören.
70.000 Unterschriften im Kampf gegen Catcalling
Anders als beispielsweise in Frankreich ist Catcalling in Deutschland nicht strafbar – noch nicht. Antonia Quell, Medienmanagementstudentin und Aktivistin aus Würzburg, wollte sich das nicht länger gefallen lassen: Ihre Petition "Es ist 2020. Catcalling sollte strafbar sein." wurde von fast 70.000 Menschen unterschrieben und liegt der Bundesregierung bereits vor.
Doch bis es so weit ist: Was kann ich catcallenden Männern entgegensetzen? Ein Anruf also bei Feminist-Friday-Gründerin Virginia Sroka-Rudolph. „Da gibt es ganz unterschiedliche Strategien“, sagt sie mir. Sie kenne das Gefühl der Machtlosigkeit in solchen Situationen gut. Oft genug habe sie selbst Catcalling in Delmenhorst erlebt. Ihr Tipp: Keine Fragen stellen, um nicht in eine Kommunikation zu treten, sondern direkte Aussagen treffen: „Man kann natürlich den Täter konfrontieren und sagen ‚Lass das‘ oder besser: ‚Lassen Sie das‘.“ Das Siezen stelle eine Distanz zum Gegenüber her. „Besser wäre es, das Verhalten konkret zu benennen: ‚Wenn Sie das Stöhnen nicht lassen, rufe ich die Polizei.'“
Manchmal geht es aber einfach zu schnell. Dann solle ich dem Täter keine Bühne bieten, sagt Sroka-Rudolph. Erhobenen Hauptes weitergehen und keine Miene verziehen. „Du musst dich damit gut und sicher fühlen, weil auch die Gefahr besteht, dass die Täter umkehren.“
Catcalls sind kein Kompliment
An einem Dienstag im August sind es auch um 19 Uhr noch beinahe 26 Grad. Zu Hause fällt mein Blick in den Spiegel: Kurze Sporthose und Tanktop. Kann ich so rausgehen? Ich ziehe doch lieber das T-Shirt an. Wer das übertrieben findet und denkt, hupende Autos und pfeifende Männer seien doch ein Kompliment, der weiß nicht, wie demütigend es ist, ständig objektiviert und bewertet zu werden.
Kritiker der Petition von Antonia Quell werfen der Aktivistin vor, sie wolle das Flirten verbieten. Schwachsinn, sage ich. Der Unterschied: Catcallende Männer würdigen Frauen herab, machen sie zum Objekt. „Catcalling ist nicht einvernehmlich“, sagt Sroka-Rudolph – und auch meine Erfahrungen zeigen: Den Tätern geht es dabei allein um ihr eigenes Ego, wie die Frauen sich dabei fühlen, ist ihnen herzlich egal. Und ich fühle mich mies.
Wie weit ist es bis zum körperlichen Übergriff?
"Catcalling kann auch Auswirkungen auf die Lebensgestaltung und psychische Gesundheit haben“, erklärt Sroka-Rudolph. Catcallende Männer nehmen jungen Frauen wie mir das Sicherheitsgefühl. Ist es schon dunkel, meide ich unbeleuchtete Straßen. Viele vermeintliche Kleinigkeiten wie ein Pfiff oder ein anzüglicher Spruch bleiben hängen und lassen mich fragen: Wie weit ist es noch bis zum körperlichen Übergriff?
Ein paar Wochen nach meinem Telefonat mit Virginia Sroka-Rudolph bin ich in meiner Mittagspause in den Graftanlagen unterwegs. Auf dem Rückweg ins Büro fährt ein weißer Transporter an mir vorbei. Hupt. Die Blicke der beiden Männer – einer der beiden könnte mein Vater sein – wandern über meinen Körper, der in einem dunkelgrünen Sommerkleid steckt. Ein paar Sekunden und ich sehe den Wagen nur noch von hinten – und einen der Männer im Rückspiegel grinsen. Da sind sie wieder: Wut und Machtlosigkeit. Meine ständigen Begleiter. Wie eingefroren stehe ich an der Ampel Bismarckplatz/ Ecke Mühlendamm und ärgere mich über meine fehlende Schlagfertigkeit.