Susanne Karr

freie Kulturredakteurin, Wien/München

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In den Raum gezeichnet

„Forms through folds (ascending)" des walisischen Künstlers Cerith Wyn Evans, Karlskirche Wien © Leonhard Hilzensauer

Seit 2018 hat die Karlskirche in Wien, eine der wichtigsten mitteleuropäischen barocken Sakralbauten, ihre Räume der zeitgenössischen Kunst geöffnet. Der walisische Künstler Cerith Wyn Evans bespielt die Kuppel mit einer feingliedrigen Installation aus Neonröhren, die einen unerwarteten Dialog zum historischen Ambiente anregt.


Wie eine kunstvolle Kritzelei wirkt die weiße Neonskulptur in der barocken Kuppel der Karlskirche. Die filigranen Fäden und Raster in Strichen und Rundungen bilden einen ungewohnten neuen Anhaltspunkt, wenn man nach oben, Richtung Himmel und Oberlicht, blickt. Die schlanken Lichtröhren wirken leicht und dynamisch vor den üppigen Gold- und Stuckdekorationen und den gemalten Himmelslandschaften samt ihrer himmlischen Bewohner:innen an der Decke. Die Gitterstruktur und die organischen Linien des Kunstwerks scheinen einem inneren Rhythmus zu folgen, und obwohl die Formensprache nicht mit den barocken Elementen korrespondiert, entsteht doch keine Disharmonie.


Die Optik hinterfragen

„Forms through folds (ascending)" stammt von dem walisischen Künstler Cerith Wyn Evans, der es eigens für die Karlskirche geschaffen hat, Die Dimensionen sind beeindruckend: 25 mal 15 Meter misst die Röhrenskulptur, die aus 350 einzelnen Glasformen zusammengefügt ist. Die verwendeten Neonröhren ergeben zusammen eine Länge von 700 Metern. Zusammengehalten wird das Ganze von 14 Kilometern Seil. Eineinhalb Kilometer Kabel sorgen für die Elektrifizierung. Das Gesamtgewicht der Installation übersteigt eine Tonne. Das Werk ist seine bisher größte Rauminstallation. Der Künstler arbeitet immer wieder mit weißen Neoninstallationen. Was ihn an diesen Strukturen besonders interessiert, ist die Möglichkeit, den Blick zu leiten. „In vielen meiner Arbeiten versuche ich, die Optik zu hinterfragen - das wissenschaftliche Modell der Optik irgendwie aufzulösen", sagt er in einem Interview. Seine Kunstinstallationen sind von unterschiedlichen Einflüssen aus Literatur, Philosophie, Religion, Kunst und Naturwissenschaften inspiriert. Auch die Neonskulptur in Wien vermittelt verschiedene Dynamiken. Die Formen scheinen sich explosionsartig auszudehnen, um dann wiederum fragil wirkende Formen anzunehmen.


Zunächst hatte Cerith Wyn Evans sich in seinem künstlerischen Werdegang mt Film und Regie befaßt, er war Assistent des Regisseurs Derek Jarman und drehte selbst Experimentalfilme. Fotografie, Filmprojektionen, Neon- und Wandtexte sowie Morsecode- und Soundarbeiten erweiterten seinen Schaffensbereich. Mittels Installationen und Skulpturen dehnte er die Erfoschung von Wahrnehmung. Seine Werke sind u. a. im Pirelli Hangar Bicocca, Louis Vuitton Showroom Tokyo, Documenta 11, Biennale Venedig, Staatsoper Wien, Tate Britain, Lenbachhaus München oder Serpentine Gallery London gezeigt worden.


Dialog über die Zeit

„Forms through folds (ascending)" stellt das zweite bedeutende Projekt eines zeitgenössischen Künstlers im Rahmen des Programms Karlskirche Contemporary Arts dar. Das Programm wurde im Jahr 2018 ins Leben gerufen und ist vollständig privat organisiert, kuratiert und finanziert. Die Idee dahinter entspringt dem Wunsch nach einer Verbindung des Kirchenbaus von Johann Bernhard Fischer von Erlach mit moderner Kunst. Man könnte auch von einem Versuch eines Dialogs über die Zeit hinweg sprechen, in der Kunstwerke kommunizieren. Der Kurator Moritz Stipsicz betont, dass eine solche Kunstintervention wie in der Karlskirche einmalig ist: „Zeitgenössische Kunst in dieser Form und Dimension in einem seit Jahrhunderten liturgisch genutzten, sakralen Raum präsentieren zu können, ist nicht nur in Österreich, sondern international einzigartig."


Der Künstler wurde für dieses Projekt nach einem umfangreichen Verfahren ausgewählt. Viele international bekannte Kunstschaffende waren zur Teilnahme eingeladen. Im Projekt soll die Kirche auch in ihrer Begegnungsfunktion und als Ort des Dialogs eine Rolle spielen. Der Rektor der Karlskirche, Pater Marek Pučalík, beschreibt die Intention, moderne Kunst in der barocken Karlskirche zu präsentieren, wie folgt: "Wir verstehen sie auch als Ort der Begegnung und des Dialogs - mit Gott und natürlich mit den Menschen. Zeitgenössische Kunst in diesem Rahmen zu präsentieren, soll zur Auseinandersetzung mit dem Ort in seiner weltlichen und spirituellen Funktion anregen". Ein ambitionierter Gedanke, gerade in Zeiten der mannigfaltigen Krisen, die auch die Kirche betreffen. Er korrespondiert mit dem Wunsch des Künstlers, durch seine Werke einen Raum zu eröffnen, durch den auch das Unsichtbare wahrnehmbar wird.


Karlskirche Contemporary Arts Künstler: Cerith Wyn Evans Kurator: Moritz Stipsicz Auftraggeber: Verein der Freunde der Wiener Karlskirche Lichtkonzeption und Neonproduktion: Neonline WerbedesignGmbH Projektarchitekt: Philipp Krummel Technische Planung: Johannes Plessnig - PM2 Statik: Kossina & Rausch Ziviltechniker Glasbläser: Marco Moretto, Rafaela Grigoletto

www.karlskirche.at
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