Susanne Karr

freie Kulturredakteurin, Wien/München

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Artikel

Exil, gestern und heute

Siegerprojekt Exilmuseum Berlin, Dorte Mandrup (Kopenhagen) © MIR

Schon lange gibt es den Wunsch nach einem Gedenkort für die Menschen, die Deutschland während der Nazidiktatur verlassen mussten. Das Exilmuseum Berlin wird nach Plänen der dänischen Architektin Dorte Mandrup entstehen.

Die Portalruine des Anhalter Bahnhofs in Berlin ist Ausgangspunkt des neuen Exilmuseums. Zunächst ein Wahrzeichen des lebendigen, weltoffenen Berlins der 1920erJahre, wurde es später zum Mahnmal für Vertreibung. Zwischen 1933 und 1945 suchten in Deutschland – und ab 1938 auch in Österreich – zahllose Menschen ihr Heil in der Flucht vor dem Terrorregime der Nationalsozialisten. Für viele war es ein Abschied für immer, für viele auch eine Reise ins Ungewisse.

Dieser Exodus betraf in der Folge die gesamte bisherige Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft, und damit einen Großteil der Vertreterinnen und Vertreter einer modernen und offenen Weltanschauung. Diejenigen, denen ein neues Leben im Exil gelang, werden oftmals auch heute nicht als Opfer des NS-Regimes verstanden. Nur wenige der Geflohenen wollten nach der Niederlage des Terrorregimes nach dem Zweiten Weltkrieg zurückkehren – auch dieses Phänomen gilt gleichermaßen für Österreich. Es gab zudem nicht allzu große Anstrengungen, das Unrecht wiedergutzumachen.Wenig wurde von der Nachkriegspolitik über die moralische Verpflichtung nachgedacht, diese Menschen zurückzuholen und eine einladende Atmosphäre für sie zu schaffen. All diese Fakten bieten die Grundlage für die Errichtung des Exilmuseums. Schon seit über zehn Jahren häufen sich die Stimmen, die ein solches Projekt unterstützen. Prominenteste Vertreterin ist die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. Sie ist Schirmherrin des Museums.

Ein besonders wichtiges Argument formulierte sie in einem offenen Brief an die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel so: „Bis heute gibt es in Deutschland keinen zentralen Ort, an dem die Vertreibung Hunderttausender durch die Nationalso­zialisten ins Exil sichtbar wird. Das Risiko der Flucht, das verstörte Leben in der Fremde, Armut, Angst und haltloses Heimweh. All das erleben Menschen bis heute jeden Tag. Umso wichtiger ist es, den Inhalt des Wortes Exil begreifbar zu machen. Erzählt man von den Geschichten damals, versteht man auch die Menschen besser, die heute in Deutschland Zuflucht suchen. Auch von ihnen wird das Exilmuseum als Ort der Gegenwart erzählen."

Das Exilmuseum Berlin wird am Anhalter Bahnhof errichtet werden, an einem Ort also, von dem aus viele Menschen ihre Flucht angetreten haben. Hier werden Motive wie Aufbruch, Transit und der Einschnitt in Lebenswege symbolisch und architektonisch gefasst. Vom historischen Bahnhof stehen nur noch die Überreste des markanten Portals. Das Museum wird auf der Freifläche zwischen der Portalruine und dem angrenzenden Lilli-­Henoch-Sportplatz errichtet. Die Planung umfasst ca. 3500 Quadratmeter Nutzfläche für das Museum sowie ca. 700 Quadratmeter Fläche für Freizeit- und Kulturnutzung durch den Bezirk und Dritte. Ende 2022 wurde der Erbbaurechtsvertrag mit dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg beurkundet, die Baugenehmigung soll 2024 erfolgen.


Geladener Wettbewerb

Die Stiftung Exilmuseum lobte in Abstimmung mit der Senatsverwaltung und dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg im Jahr 2020 einen internationalen Architekturwettbewerb zur Realisierung aus. Man lud zehn international renommierte Architekturbüros ein, Vorschläge für den Museumsneubau zu entwickeln. Warum sich unter den geladenen Architekturbüros keines aus Österreich befand, konnte trotz mehrmaliger Nachfrage nicht eruiert werden. Die Stiftung Exilmuseum hatte sich für die Auswahl über das Aedes Architekturforum beraten lassen.

Das Portal sollte als Bezugspunkt für das neue Museum eine zentrale Rolle einnehmen, wobei der Spannungsbogen zwischen dem Erhalt der verbliebenen Architektur und den Ansprüchen an einen modernen Musemsbetrieb besteht. Denkmalschutz und städtebauliche Aspekte waren außerdem gefordert. Mögliche spätere Veränderungen des Museums sollen zudem durch eine flexible Struktur gegeben sein. Ein weiterer wesentlicher Bereich der Wettbewerbsaufgabe war die Gestaltung des gesamten hochbaulichen Bereichs, der Innenräume und der innenräumlichen Gliederung. Hinzu kamen die Technik der Gebäudeausrüstung, Bauphysik, Tragwerksplanung und Brandschutz.

Im August 2020 tagte die Jury aus Fach- und Sachpreisrichtern zur finalen Entscheidung. Die Juryvorsitzende Jórunn Ragnarsdóttir begründete das Ergebnis so: „Der Gewinnerentwurf besticht durch seinen sensiblen Umgang mit der Portalruine und schafft einen kraftvollen Ort der Begegnung." Die Ausschreibung zielte explizit auf einen Entwurf jenseits von Institutionen mit „grauem Gedenkstättencharakter". Ein moderner und einladender Gesamteindruck war gewünscht, in dem Medieninstallationen und szenografisch inszenierte Räume mit eindrucksvollen Originalobjekten die Lebenswege unterschiedlichster Menschen bezeugen. Die Verbindung von damaligen und ­heutigen Exilbiografien sollte durch die räumliche Dramaturgie unterstützt werden.


Ein Ort zum Nachdenken

Der Siegerentwurf der dänischen Architek­tin Dorte Mandrup fasst den früheren Haupteingang des Bahnhofs durch eine bogenförmig geschwungene Front ein. So wird die Bedeutung des Ortes gleichzeitig baulich als auch symbolisch integriert. Dorte Mandrup sieht in der Portalruine eine Doppelbedeutung. Sie steht für die Weimarer Republik wie für den folgenden Naziterror: „Das Fragment des ehemaligen Anhalter Bahnhofs zeugt ebenso vom liberalen, weltoffenen Berlin der 1920er-­Jahre wie auch von der unvorstellbaren Zerstörungskraft des NS-Terroregimes.“

Das neue Exilmuseum soll das Fragment als Ausgangspunkt der historischen Ebene respektieren. „Dem Entwurf liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Millionen gelber Ziegel, die nach dem Abriss des Anhalter Bahnhofs das Gelände bedeckten, sich in eine sanft geschwungene Bogenform verwandelten“, heißt es in der Projektbeschreibung. Der ehemalige Bahnhof wird nicht ersetzt. Das neue Gebäude ist eigenständig und wird nicht in einen kontinuier­lichen historischen Verlauf eingebunden. Vielmehr soll sich ein Dialog entwickeln. Architektonisch wird dies durch den geschwungenen Gebäudeumriss angeregt, durch den das Publikum von beiden Seiten in einer quasi natürlichen Bewegung zwischen historischem Fragment und Neubau direkt zum Eingang in der Mitte des neuen Vorplatzes geleitet wird.

Die Formensprache der ursprünglichen Bahnhofsarchitektur mit Bögen, Brücken und Toren findet Widerhall in Mandrups Entwurf, wird aber modern interpretiert. Mit der geschwungenen Fassade wird ein Rahmen zur Kontextualisierung der Ruine geschaffen. „Die reliefartige, horizontal gegliederte Ziegelfassade öffnet sich im Erdgeschoß einladend zu allen Seiten des Gebäudes“, lobte die Jury. Durch ein Drehen der Ziegelsteine entstehen Öffnungen in der schweren Fassade, wodurch sich im Inneren ungewöhnliche Lichteffekte ergeben.


Verbindung zwischen den Epochen

„Die weit gespannten, verglasten Bögen heben die geschlossene Mauer quasi vom Erdboden empor und schaffen brückenartige Situationen, die zum Betreten des Gebäudes einladen. Die lichtmodulierenden Öffnungen in den Obergeschoßen geben Ein- und Ausblicke frei und versprechen interessante kuratorische Möglichkeiten“, heißt es weiter in der Jury­begründung. Die Einblicke durch die Glasfassade ins Innere erlauben den ­möglichen Besuchern, sich in Ruhe vorzubereiten und zu entscheiden, ob sie das Museum betreten wollen. Dorte Mandrup hat den Weg von der Ruine in das Mu­seum dem Weg nachempfunden, „wie sich die Menschen durch den Säulengang in das Eingangsgebäude und weiter auf die Gleise bewegten – er führt die Besucher auf denselben Weg wie diejenigen, die zwischen 1933 und 1945 ins Ungewisse gingen.“

Alle Bereiche werden zentral von der Empfangshalle am Askanischen Platz an der Nordseite des Gebäudes aus zugänglich sein. Zusätzlich zu den thematischen Ausstellungen wird es Raum geben für weitere Bildungseinrichtungen und ein Restaurant. Mithilfe von Rauminszenierungen, Bild- und Tonmaterial, Filmen, Texten und Objekten sollen Ereignisse erfahrbar gemacht werden und einen Eindruck davon vermitteln, was es bedeutet, seinen Lebensmittelpunkt aufgrund von politischem Terror und Anfeindungen aufgeben zu müssen.

Ein weitläufiger freier Platz zwischen dem historischen Gebäudefragment und dem verglasten Foyer des neuen Mu­seums schafft Verbindung zwischen den Epochen. Das Foyer zieht sich über die drei Stockwerke und ist wie der Platz davor mit Kopfsteinpflaster ausgelegt. So bleiben Sichtbeziehungen zwischen innen und außen im gesamten Gebäude bestehen, auch durch die transparente Fassade. Im Inneren umschließt eine Ziegelfassade einen dreistöckigen Luftraum, einen Ort der Reflexion und der Auseinander­setzung.


Aktuelle Thematik

Parallelen und Unterschiede zu heutigen Fluchterfahrungen sollen aufgezeigt werden. „Aktuelle Flüchtlings- und Migrantenbewegungen schärfen die Sensibilität der Öffentlichkeit für Themen wie Vertreibung, Auswanderung, Exil und Völkermord“, schreibt Dorte Mandrup. Noch nie waren weltweit so viele Menschen auf der Flucht, und es ist notwendig, diese Flucht- und Migrationsbewegungen der Öffentlichkeit bewusst zu machen. An den Rändern Europas häufen sich gewaltsame Zurückdrängungen, Schlepper verdienen viel Geld mit der Not von Flüchtenden. Gründe für Flucht sind – wie immer – politische Verfolgung, zunehmend aber auch die Veränderung klimatischer Bedingungen und prekäre ökonomische Bedingungen. Leider gehört das Thema Emigration als Katas­trophe und Herausforderung international zur Gegenwart.

Bis zur geplanten Eröffnung im Jahr 2026 gibt es einen Interims-Standort in der Fasanenstraße, die „Werkstatt Exil­museum“. Im März startete dort das Programm mit Workshops mit verschiedenen Themenschwerpunkten, Ausstellungen und Buchpräsentationen. Außerdem werden die Neubaupläne für das Exilmuseum präsentiert. Es gibt einen Veranstaltungsraum für Theater, Lesungen, Performances und Filmvorführungen. Bis Juni kann man sich zudem für den Exile Visual Arts Award bewerben: Es werden Arbeiten ausgezeichnet, die wesentliche Fragen des Exils wie Identität, Zugehörigkeit oder Fremdheit visualisieren. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert.


Weitere Preisträger

Der Entwurf von Diller Scofidio + Renfro erhielt den zweiten Preis. Von der Portal­ruine aus gedacht, wird der Ort durch mögliche weitere Ausgrabungen von Fundamentresten in seiner Historizität verankert. Ein dreistöckiges Tageslichtfoyer integriert diese Spuren und führt an derselben Stelle wie ursprünglich einen heutigen, gläsernen Doppelgänger mit den gleichen Proportionen der originalen Freitreppe im Bahnhof nach oben. „Ein alles umgreifender Glaskörper umhüllt das Museum und seine Nebennutzungen. Außergewöhnlich ist die intellektuelle Kraft des Entwurfs, der nicht nur architektonische, sondern ebenso zeitliche wie auch geschichtliche Schichten des Ortes integriert“, argumentierte die Jury.

Im Entwurf der dritten Preisträger, Bruno Fioretti Marquez, wird das Portal in den Neubau integriert. Die Ruine wird quasi fortgesetzt bzw. in neue Funktion gebracht. In dieser Kombination von Altem und Neuem lässt sich eine tiefere Bedeutung des Wortes Exil erfassen: Das Aufbauen aus dem restlichen Bestand versinnbildlicht zugleich das Verlorene wie das neu Entstehende. Die Dimensionierungen des neuen Foyers folgen der Architektur des früheren Bahnhofsgebäudes, ebenso die Belichtung von oben. Auch die früheren Treppenanlagen, die in die höher gelegene Bahnhofshalle führten, werden im Entwurf aufgegriffen.




Momente des Abschieds

Das Museum möchte dem Wort „Exil“ Sichtbarkeit verschaffen, heutigen Besuchern die Gefühle, Begleitumstände und persönlichen Erfahrungen der zahlreichen Exilanten nahebringen. Prominente Besuche wurden vom NS-Propagandaministerium inszeniert, während politisch Verfolgte und jüdische Bürger und Bürgerinnen die Flucht antraten.

Man glaubt Bewunderung für die neue Mobi­lität in der monumentalen Architektur aus dem 19. Jahrhundert wahrzunehmen. Der Anhalter Bahnhof wurde in den Jahren 1839 bis 1841 als Endbahnhof der Sächsischen Eisenbahn zwischen Halleschem und Potsdamer Tor errichtet. Im Zuge der Erweiterung und Höherlegung des Bahnhofsgeländes 1876 bis 1880 wurde das ursprüngliche Gebäude durch einen Neubau nach Plänen von Franz Schwechten ersetzt, dessen Ruine heute zu sehen ist (Bild rechts). Der Anhalter Bahnhof war in den 1920er-Jahren der größte und verkehrsreichste Bahnhof Europas und verband Berlin mit allen großen Städten in Südeuropa. Damals war er auch Ort der Ankunft für viele Künstler und Intellektuelle, die sich in Berlin ein aufregendes und inspirierendes Leben erwarteten.

„Ab 1933 glich auch das Monumentale des Anhalter Bahnhofs mit seinen Verzierungen der Angst im Hals, Angst vor der Flucht, deren Ende ungewiss war. Tausende fuhren verzweifelt in eine Leere hinein und ließen eine Leere in Deutschland zurück. Von den Nazis zu Feinden erklärt, aus ihrem Alltag gerissen“, schreibt Herta Müller. Nicht nur prominente Schriftstellerinnen und Künstler – wie Hannah Arendt, Heinrich Mann, Hilde Domin oder Bertolt Brecht –, auch zahlreiche heute nicht im Allgemeinwissen bekannte Menschen traten ihre Fahrt ins Exil von hier aus an. Gerade die in Vergessenheit geratenen Schicksale sollen nun einen Gedächtnisort erhalten. Um das Bewahren und Aufzeigen dieser unzähligen Geschichten wird es also im Museum gehen.

Später fuhren von diesem Bahnhof auch die Deportationszüge mit jenen, die nicht rechtzeitig hatten fliehen können – oder die es nicht für möglich gehalten hatten, was geschah. Das seit 2010 bestehende Ausstellungsgelände „Topographie des Terrors“ und das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung der gleichnamigen Bundesstiftung, das im Juni 2021 eröffnet wurde, befinden sich in geografischer Nähe.



DORTE MANDRUP

Die dänische Architektin Dorte Mandrup-­Poulsen (62) ist Gründerin und Leiterin des Architekturbüros Dorte Mandrup Arkitekter. Von 1992 bis 1995 arbeitete sie für Henning Larsen Architects, bevor sie 1995 gemeinsam mit Niels Fuglsang das Büro Fuglsang & Mandrup-Poulsen und 1999 ihr eigenes Büro mit Sitz in Kopenhagen gründete.

2017 erregte Mandrup internationales Aufsehen mit ihrem Essay „Ich bin keine Architektin. Ich bin ein Architekt“, in dem sie die ­Geschlechterpolitik in der Welt der ­Architektur diskutierte.

Dorte Mandrup A/S
Kopenhagen
gegründet 1986
dortemandrup.dk

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