Susanne Karr

freie Kulturredakteurin, Wien/München

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Interview

Reduce, reuse, recyle: Interview mit Muck Petzet

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Im belebten Stadtviertel um den Münchner Hauptbahnhof inmitten von türkischen, italienischen, nordafrikanischen und ostasiatischen Läden befindet sich das Büro von Muck Petzet, dem Kurator des deutschen Pavillons bei der Architekturbiennale 2012. In einem großen Versammlungsraum, in dem auch immer wieder gekocht und gefeiert wird, traf FORUM den Architekten bei einem starken italienischen Kaffee und zuckersüßen amerikanischen Karamellstangen zum Gespräch.

Als Kurator des deutschen Pavillons bei der vergangenen Architekturbiennale stellten Sie das Konzept „Reduce, Reuse, Recycle" in den Mittelpunkt. Bestehende Gebäude sollen als wertvoll erkannt werden, um sie einer weiteren Verwendung zuzuführen, wie es der Begriff „Reuse" nahelegt. Wie gelangt man zu einer solchen Geisteshaltung?
Ein gutes Beispiel gibt die Umweltbewegung. Ich habe absichtlich Begriffe aus diesem Bereich entlehnt, weil dort erfolgreich ein Bewusstseinswandel im Umgang mit Abfall vollzogen wurde. Uns ist inzwischen klar, dass die erstbeste Möglichkeit zur Müllvermeidung darin besteht, das Wasser aus dem Hahn zu verwenden, die zweitbeste, zumindest eine Mehrwegflasche zu kaufen, und die drittbeste, die Flasche nach Gebrauch in die entsprechenden Container zu werfen. Da sind uns die Zusammenhänge bewusst, bei Architektur seltsamerweise nicht. Wir müssen also versuchen, mit solchen Beiträgen auch hier einen entsprechenden Bewusstseinswandel zu erzeugen. Es läuft zurzeit eine große Energiediskussion, über Einsparungen bei Heizenergie und energetischen Sanierungen. Schon aufgrund der demografischen Entwicklung ist ein Umdenken notwendig; Es gibt ein Zuviel an Bestand, die notwendigen Investitionen für die Erreichung aktueller Standards rechnen sich - gerade in schrumpfenden Regionen - nicht mehr.

Sie sagen, Sanierungen seien zu teuer. Neigt man dann nicht dazu, gleich etwas Niedrigenergetisches hinzustellen und diese Kosten somit zu umgehen?
Es geht um eine Lebenszyklusbetrachtung. Wir müssen weg von der einseitigen Fokussierung auf einen kleinen Bereich des Energieverbrauchs hin zu einer gesamtenergetischen Betrachtung eines Gebäudes, und zwar von der Entstehung über die Produktion der Materialien bis hin zum Bauen selbst und der späteren Entsorgung. Dazu kommt die Betriebsenergie, aber auch die Mobilität. Wenn man die Herstellungsenergien, die im Bestand gespeicherte sogenannte „graue Energie", miteinbezieht, wird man feststellen, dass es sehr viel besser ist, Bestandshäuser aufzurüsten. Anstatt mit jedem einzelnen Gebäude die ganze Welt retten zu wollen, indem man noch fünf Prozent Energie mehr einspart, gilt es zu schauen, wo die gesamtökologische Effektivität am größten ist. Etwa durch Verlängerung der Lebensdauer des Bestands oder breit umsetzbare Low-Cost-Maßnahmen, einfache anlagentechnische Verbesserungen oder Verhaltensbeeinflussung. Energieeinsparungen durch Dämmung sind absolut sinnvoll, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Dann wird das Ganze immer uneffektiver. Wenn ich statt zehn Zentimeter noch 20 Zentimeter draufpacke, hole ich vielleicht nochmal ein paar Prozent weniger Energieverbrauch raus, zerstöre aber die bestehende Architektur. Das Bild und die Identität unserer Städte ist ein hohes Gut, das nicht gedankenlos geopfert werden sollte. Es geht darum, die bestehende Architektur als Ressource zu betrachten und intelligent mit dem Bestand umzugehen, nicht einer Billigmentalität zu folgen. Wenn man den CO2-Ausstoß möglichst preisgünstig verringern will, wäre es effektiver, Aufforstungsprogramme zu unterstützen. Der Bestand wird als Bauaufgabe unterschätzt und oft sehr billig behandelt. Die meisten sanierten Plattenbauten sind architektonisch schlechter als vorher.

Aber war das Material nicht schon schlecht, oder ist das ein gezielt eingesetztes Gerücht zugunsten der Abrissbirne?
Die Plattenbauten sind ein gutes Beispiel für die große, meist unbewusste Bedeutung der Wahrnehmung. Im Nachhinein würde ich es als wichtigstes Ergebnis der Biennale-Ausstellung bezeichnen, dass wir durch den Einsatz des fremden Blicks aus der Abfallwirtschaft auf solche Strategien gestoßen sind. Die wichtigste Vermeidungsstrategie ist eben die Wahrnehmungsänderung. Wie - leider mit negativen Vorzeichen - bei den Plattenbauten: Bis in die späten Achtzigerjahre waren sie ein Ideal, da wollte man hinziehen, dann wurden sie als unmenschlich, erbarmungslos und haltlos verdammt. Einen solchen Prozess kann man auch wieder umdrehen.

Und man tat so, als hätte es so etwas nur in den Ostblockländern gegeben, aber wenn man so herumfährt …
Es gibt überall vergleichbare Siedlungen. Die Grundlage war ein klarer Bezug zu den Idealen der klassischen Moderne - ein bescheidener, seriell gefertigter Siedlungsbau. Dann passierte ein Wahrnehmungswechsel ins total Negative.

War das auch politisch gesteuert?
Natürlich kann man das politisch oder gesellschaftlich interpretieren: Eine starke westliche Eroberungshaltung hat da eine Rolle gespielt. Es gab ja sehr schnell den „Umbau Ost", als großes Programm, und zehn Jahre später hat man auch „Umbau West" begonnen, weil sich herausgestellt hat, dass es überall die gleichen Probleme gibt. Dieser Wahrnehmungswechsel wird sich wieder umkehren. Wenn man ernsthaft Transformation betreibt, lassen sie sich sehr gut umbauen.

Von der Fassadengestaltung her und auch vom Lichteinfluss wünscht man sich doch aber immer eine Verbesserung.
Man kann auch ganze Fassaden wegnehmen. Gerade in den Siebzigerjahren gab es einen eher hohen Fensteranteil, und die Grundrisse sind sehr gut umgestaltbar. Verglichen mit Grundrissen von heute sind sie teilweise Gold! Man kann die Bauten, ohne ihnen Gewalt anzutun, zukunftsfähig umgestalten.

Wie kann man so eine Wahrnehmungsänderung erreichen?
Es gibt da erfolgreiche Aktionen wie etwa „Liebe Deine Stadt" von Merlin Bauer in Köln. Er hat mit prominenten Architekten eine Art Preisverleihung für Bestandsgebäude gemacht mit einer Laudatio, warum diese Gebäude gut sind. Damit wurde gezielt eine Wahrnehmungsänderung gerade vom Abriss bedrohter Alltagsbauten erreicht. Es geht um den gesamtgesellschaftlichen Bewusstseinswandel, dass wir generell nicht so gedankenlos abbrechen sollten.
Sie sehen also Bestand als Ausgangsmaterial, um daran weiterzuarbeiten.
Es geht darum, eine affirmative Haltung zu zeigen, die vorhandenen Energien des Bestands aufzunehmen und zu verstärken. Nicht alles eins zu eins zu übernehmen, sondern am Bestand weiterarbeiten, also nicht zu erfinden, sondern zu entwickeln. Es gibt gute Beispiele, die komplett neu überformt sind, wo das sinnvoll war.

Man verstand somit Baubestand als organisch? Ebenso wie man eine Stadt als etwas betrachtete, das sich weiterentwickelt und natürlich weiterwächst.
Ja, das ist eine Architekturauffassung, wie sie vor der „Moderne" ganz normal war. Man hat teilweise radikal abgerissen, aber gleichzeitige hatte man keine Probleme damit, Sachen ganz pragmatisch weiterzubauen. Seit Beginn der Moderne gab es eine propagandistisch betriebene Abgrenzung zwischen „das ist alt, schlecht, ungesund, düster, eng" und „das ist neu, gut, hell, vernünftig, gesund", damals wurden ganz explizite Tabula-rasa-Ansätze proklamiert.

Wie lässt sich dieser Bruch erklären?
Da gab es viele Protagonisten, der prominenteste sicher Le Corbusier mit seinem „plan voisin" für Paris und seinem Buch „Vers une architecture", in dem er extrem gegen die damals bestehende Architekturauffassung polemisiert. Diese Gier nach dem Neuen steckt in vielen Architekten und Bauherren. Es wird nicht beachtet, dass hier Potenziale vorhanden sind.

Fast, als wollte man den früheren Architekten unterstellen, dass sie sich für genau diesen Ort damals nichts überlegt haben.
Ja, und dass die Bauten nichts wert sind. Am stärksten bedroht sind Gebäude der Nachkriegszeit sowie der Sechziger- und Siebzigerjahre, die man heute als ärmlich und wertlos empfindet, auch im Hinblick auf Haltung und planerische Ansätze. Vieles wird heute zurückgebaut oder rehistorisiert wie das Frankfurter Rathaus zum Beispiel, wo gleich eine neue historische Altstadt mitgebaut wird.

Oder das Stadtschloss in Berlin ...
... ja, und den Palast der Republik hat man - meines Erachtens klar aus politischen Gründen - abgerissen. Die restaurativen Strömungen sind erstaunlich stark und gegen jede energetische Vernunft: Die Bestände gerade auch aus der Nachkriegszeit haben eine eingebaute „Daseinsberechtigung" - einfach dadurch, dass sie da sind.

Aber bei den Gebäuden aus dieser Zeit müsste doch trotz Wahrnehmungsänderung viel gemacht werden, damit die Leute sich ästhetisch angesprochen fühlen.
Es gibt großen Bedarf an bezahlbarem Wohnraum, und in diesen Siedlungen ist dieser teilweise noch vorhanden. Das muss man als Potenzial sehen. Wir haben vor kurzem einen innerstädtischen Fünfzigerjahrebau umgearbeitet und uns gefragt: Wie kann man ihn in eine Zukunft transportieren, ohne ihn völlig zu verfremden? Wenn man sich als Entwickler hineindenkt, kann man aus jedem Bestand etwas Interessantes machen. Es muss immer eine Weiterentwicklung geben, diese kann aber auch rein wahrnehmungstechnisch, also weitgehend immateriell sein. Man muss sehr vorurteilslos sein und versuchen zu sehen, was da eigentlich die Qualität ist.

Wie kommt man zu diesem Umdenken? Häufig wollen Architekten sich selbst positionieren. Ein prominentes Gegenbeispiel hierzu ist das Neue Museum Berlin, in dem gerade auf die großen Neuerungen verzichtet wurde. Das Fantastische liegt in der gezielten Weiterinterpretation des bestehenden Gebäudes und in der Subtilität des gesamten Ansatzes.
Da sind sehr spannende Strategien auf höchstem Niveau verwirklicht worden. Chipperfield erfüllt die denkmalpflegerischen Regeln grandios, schafft trotzdem aber etwas Eigenes. Ein tolles Beispiel - auch für „versteckte" Strategien wie die „Teilrekonstruktion" mit recycleten Materialien. Diese scheinbar alten Bauteile geben dem fragilen Bestand eine Einheit und Stärke, die ihn die sichtbar neuen Eingriffe verkraften lässt. Die Aufmerksamkeit, die diese subtile Arbeit genießt, ist natürlich auch der Bedeutung der Aufgabe geschuldet. Mit dem gleichen Aufwand und der gleichen Sensibilität an eine Sechzigerjahresiedlung heranzugehen, das wäre spannend. Bei der Biennale haben wir einen frühen Sechzigerjahrebau gezeigt, der ähnlich liebevoll instand gehalten und restauriert wurde.

Warum wird diese Zeit nicht so wertgeschätzt? Gerade in den Sechzigerjahren gab es doch eine Aufbruchsstimmung.
Das ist sicher eine Generationenfrage. Wir sind einem Zeitgeist unterworfen. Mir geht es nicht um die Konservierung eines Istzustandes. Eigentlich muss man den Moment, in dem man noch etwas verändern kann, als Chance sehen. Wenn irgendwann alles geschützt ist, kann man nur noch restaurieren. Mit unserem Wissen und der Notwendigkeit, Gebäude funktional zu ertüchtigen, haben wir die Möglichkeit, sehr sensibel und affirmativ vorzugehen.
Man soll sich zuerst auf die Ressourcen besinnen, den Status quo sichten und anerkennen, und dann kann man Notwendiges ändern.
Recycling bei Gebäuden ist leider nicht so interessant wie beim Müll, weil die Gebäude prinzipiell schon mal immobil sind. Es muss sehr viel Energie aufgewendet werden, um das Material zu transportieren und zu zerkleinern. Recycling ist daher energetisch eher uninteressant. Also sind doch die Vermeidungsstrategien die wichtigsten.

Was Sie unter „Reduce" zusammenfassen.
Genau. Wahrnehmungsänderung, Instandhaltung und Verhalten. Mit Verhaltensänderung kann man plus/minus 50 Prozent Energie einsparen. Die Bewohner zu befähigen, zu sehen, was sie an Energie verbrauchen, was sie selber beeinflussen können, das wäre eine Möglichkeit mit sehr viel Potenzial, ohne baulich oder energetisch noch mehr Aufwand zu betreiben.

Haben Sie ein Lieblingsprojekt oder ein für Sie speziell wichtiges Projekt?
Mein Lieblingsprojekt ist oft ein rezentes. Vor kurzem haben wir die alte Mensa für das Studentenwerk München modernisiert. Das ist ein Gebäude aus den frühen Siebzigerjahren von Günther Eckert. Ich glaube, wir haben es geschafft, dass es jetzt aussieht, als wäre es immer so gewesen. Von außen sieht es identisch aus, und innen haben wir, sozusagen im Geist der Zeit und des Architekten, alles komplett neu gestaltet.

Ein bisschen wie ein Ghostwriter also ...
Man findet da etwas Begonnenes - wie ein Manuskript -, liest sich ein und schreibt weiter.

Ist dies schwieriger als etwas Neues reinzusetzen?
Das ist einfach etwas ganz anderes. Es erfordert ein anderes Sichhineindenken, eine Identifikation mit dem bereits Vorhandenen. Den Bestand muss man sich erst erobern, dann kann es mit ihm weitergehen.