Susanne Karr

freie Kulturredakteurin, Wien/München

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Gebäude mit Rückgrat

Die 420 Meter lange Pingshan Pedestrian Bridge in Shenzhen © Chao Zhang

Viele ikonische Gebäude, aber auch aktuelle Architekturprojekte arbeiten mit Skelettkonstruktionen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Gebäudestruktur und Bauteile sind systematisierbar, Grundriss und Fassadengestaltung flexibel.

Der Shōfuku-ji Tempel aus dem Jahr 1407 ist das älteste erhaltene Gebäude in Tokyo. In den mehr als 600 Jahren seines Bestehens hat er Kriege, Naturkatastrophen und Feuer überstanden und nur geringfügige Restaurierungen waren nötig. Der Shōfuku-ji Tempel ist aber vergleichsweise jung, denn in der Stadt Ikaruga, ebenfalls in Japan, befindet sich der Tempelbezirk Hōryūji, in dem sich die vermutlich weltweit ältesten erhaltenen Tempel aus Holz-Skelett- baustrukturen befinden. Das verwendete Holz wurde im Jahr 594 gefällt, die Geschichte des Tempelbezirks beginnt also etwa um 600.

Holzbauweise hat in Japan lange Tradition. Der Wohnungsbau wird zu 85 Prozent in Holz-, überwiegend in Skelettbauweise errichtet. Zum Geschoßwohnungsbau kommen öffentlich genutzte Bauten sowie Industrie- und Gewerbebau. Ein Beispiel für Tragwerkskonstruktionen mit großen Spannweiten ist der 178 Meter lange Nipro Hachiko Dome des Architekturbüros Toyo Ito, eine Sportarena in Odate.

Die Skelett-Konstruktionsweise lässt maximale Gestaltbarkeit zu. Sie eignet sich für größere Bauhöhen, vor allem für Gegenden mit hohem Erdbebenrisiko, wie etwa Japan oder Kalifornien. Stahlbeton-, Stahl- und Holzkonstruktionen reagieren besonders gut auf äußere Einwirkungen wie Winddruck, Sog und horizontale Trägheitskräfte. Stahlskelettbauten halten schwerste Erdbeben aus, wie Erfahrungen aus Kalifornien belegen, ebenso widerstehen Holzhäuser in Fachwerk- oder Skelettbauweise, wie sie sich traditionellerweise im asiatischen Raum finden, den Erschütterungen durch Erdstöße.


Collège in Champier, Frankreich

Ein Betonskelett kann erstaunliche Leichtigkeit produzieren, wie etwa im Neubau einer Schule im französischen Champier, Département Isère, der Architekturbüros CoCo Architecture und Jean de Giacinto Architecture. Von außen fällt sofort die bunte Strukturierung der Glasfassade ins Auge. Farbige, verstellbare Brise-Soleil-Lamellen bilden ein Szenario, das an die umgebende Natur erinnert. Die Gebäude sind in die Umgebung integriert und bewusst etwas abseits des bewaldeten Hügels gerückt, um im Winter nicht in dessen Schatten zu liegen. Das Collège besteht aus einem nach Ost/West ausgerichteten Schulgebäude, der Cafeteria und einer Sporthalle. Diese ist als eigenes Bauelement konstruiert. Eine ihrer Seiten ist raumhoch, die andere zur Hälfte verglast. Eine Kletterwand ist integriert.

Im Inneren des Collège überzeugen weitläufige, lichte Räume, großzügige Treppenhäuser und halb offene Durchgänge. Vom Erdgeschoß hat man Zugang zum Innenhof. Cafeteria und Schule sind in U-Form miteinander verbunden, die zu einem gegen Nord- und Ostwind geschützten Hof öffnet. Im Sommer spenden Bäume hier Schatten. Der Innenhof ist nach Süden hin offen und nutzt die Sonne und den Blick auf die Platanenallee. Die Cafeteria öffnet sich mit einer großflächigen Verglasung visuell nach außen und zum öffentlichen Raum. So entsteht auch Anbindung an die dörfliche Umgebung, die außerdem durch gemeinsame Nutzung der Sportanlagen gegeben ist.

Die Planer betonen, dass sie Funktionsweise und Konstruktion der gesamten Anlage klar sichtbar machen wollten. Struktur, Hülle, Akustik und technische Ausstattung fügen sich zu einem Ensemble zusammen. Die Skelettkonstruktion ist in den Klassenzimmern großteils sichtbar. Der akustischen Herausforderung, die durch schallharte Materialien wie Beton entsteht, begegnet man durch Holzelemente. Alle Klassenzimmer haben Ausblick auf den Hügel und sind optimal auf Lichteinfall abgestimmt.

„Der Bau von Gebäuden, die der Bildung gewidmet sind, ist eine einzigartige Gelegenheit, zu sehen, wie die Architektur auf spielerische Weise an der Vermittlung von Wissen teilnimmt", heißt es in der Beschreibung der Architekten. „Der Aufbau eines Lernortes bietet die Möglichkeit, Neugierde und konstruktives Erwachen im Kind zu entwickeln." Die Konstruktion ist wie bei einem Schuppen leicht nachvollziehbar und vermittelt beispielhaft Helligkeit und angenehme Atmosphäre.


Salon Pureté, Hamamatsu 

Aber auch für kleinere Maßstäbe lässt sich die flexible Konstruktionsweise nutzen. Skelettbauten sind leicht zu modernisieren, das Skelett kann freigelegt, neu bekleidet und technisch aufgerüstet werden. Raumeinteilungen sind variabel. Somit können Umnutzungsmöglichkeiten viel graue Energie einsparen. Beispielhaft zeigt dies Yumiko Tokuno mit ihrem „Salon Pureté": Sie schuf ein kleines, flexibel nutzbares Atelier in Hamamatsu, einer Großstadt an der Pazifikküste Japans, in der Firmen wie Yamaha und Suzuki ihre Headquarters haben. Der 27 Quadratmeter große Raum im Erdgeschoß liegt in einem Gebäude in Laufweite der Bahnstation. Er dient den Eigentümern als Wellness-Salon, kann aber auch gemietet werden oder als Pop-up-Shop fungieren. Um Raumhöhe zu gewinnen, wurde die Decke bis auf das Betonskelett entfernt. Der frühere Vinyl-Wandbelag, der zwischen Skelett und Mörtel gepresst war, wurde grob abgetragen, um den Wandaufbau sichtbar zu belassen. Dadurch wird optisch eine Prozesshaftigkeit erreicht, die eher einer Architektur im Entstehen entspricht als einer vollständigen Version. Leichte szenografische Inputs gibt die Architektin mit Pflanzenarrangements, die gemeinsam mit den Vorhängen eine Abfolge von Prozessen lenken. Auch im Außenraum, dem Weg zum Studio, bleibt sie der vom Raster des Gebäudes und von den organischen Formen der Pflanzen geprägten Optik treu: Der auf dem Fußboden markierte Weg setzt sich als geschwungene Linie von innen nach außen, zu Parkplatz und Straße, fort. Zudem spiegelt ein Pflanzencontainer aus Holz mit geometrischem Rankgitter den Übergang von Alltag und Entspannung.


Beliebte Glasfassaden 

Beliebt sind nach wie vor großflächige Vollverglasungen, etwas beim 833 Meter hohen Burj Khalifa. Die Fassade ist neben starken Temperaturunterschieden - die Produktion fand bei 25 Grad statt, der Einbau erfolgte bei 48 Grad - auch extremen Windgeschwindigkeiten ausgesetzt. Die Konstruktion soll bis zu 250 km/h standhalten. Historische Beispiele für Glaskonstruktionen sind etwa der berühmte Crystal Palace in London (1851). Dieser wiederum war Inspirationsgeber für ähnliche Projekte, darunter für den Glaspalast in München (1854). Für dessen Bau wurden 37.000 Glastafeln und über 1700 Tonnen vorgefertigte Eisenteile verwendet, sodass auf tragendes Mauerwerk völlig verzichtet werden konnte. Wie der Crystal Palace brannte der Münchner Glaspalast vollständig ab.

Beide Gebäude sind gleichzeitig Beispiele für einen gravierenden Nachteil der Eisenskelette: Stützen und Träger verformen sich und schmelzen bei hoher Temperatur. Trotz der ausgefeilten Konstruktion, auf Grundlage einer genormten Glas-Eisen- Konstruktion in Rasterbauweise entwickelt, waren bei beiden keine Brandabschnitte vorhanden, weswegen alle Löschversuche zum Scheitern verurteilt waren.

Zeitlose Skelettbauweise Transparente Wände, Wandöffnungen und geringe Eigenlast sind charakteristische Aspekte der Skelettbauweise. Die tragende Konstruktion setzt sich aus Stützen, Unterzügen und Deckenplatten zusammen. Anders als beim Massivbau, bei dem die Last gleichmäßig verteilt und von allen Wänden getragen wird, übernehmen einzelne Stützen die vertikale Lastabtragung. Die einzelnen Tragelemente führen die immer weiter aufgespaltete Last aus Deckenplatten und Unterzügen auf die Fundamente ab, und diese Umverteilung hat eine größere Standfestigkeit des Gebäudes zur Folge. Fassaden und Wände aus unterschiedlichen Materialien - Glas, Kunststoff, Holz, Spiegel u. a. - können wie Vorhänge an die tragenden Elemente angebracht werden.


Statische Verbesserung 

 Das Skelett konfiguriert die Gebäudegestalt. Es kann von außen sichtbar oder verhüllt sein. Auch die verwendeten Materialien können variieren. Es finden sich zunächst Konstruktionen aus Holz - wie bei Fachwerkbauten, mittelalterlichen Stabkirchen oder im asiatischen Tempelbau, aber auch aus Stein - wie beim Strebewerk der gotischen Sakralbauten. Pfeiler und Mauervorlagen fangen dabei den Seitenschub von Gewölben auf. Die filigranen Aufsätze auf den Strebepfeilern dienen der weiteren statischen Verbesserung, nicht, wie man vermuten könnte, visuellen Zwecken der Verzierung.


Fachwerke 

Maßgeblich für die Struktur sind Stützenstellung, Tragwerk der Geschoßdecken und für die Aussteifung verantwortliche Bauteile. Die Platzierung der Stützen variiert zwischen bündig mit der Decke, eingerückt oder mittig. Die nicht tragenden Elemente können ausgefacht - wie schon bei den hohen Spitzbogenfenstern der gotischen Kathedralen demonstriert - oder bekleidet werden wie bei den mit Stroh-Lehm-Gemischen gefüllten Gefachen der Fachwerkhäuser.


Stahl und Stahlbeton 

Eine weitere Variante der Skelettbauarchitektur verwendet Stahl und Stahlbeton. Bauteile können vorgefertigt oder in Ortbeton hergestellt werden. Seit den 1880er-Jahren wird diese Baukonstruktion verwendet. Mit einem Tragwerk aus Stahlträgern, in das Decken und Wände integriert werden, erreicht man höhere Tragfähigkeit und größere Höhen werden möglich. Leuchtturmprojekte der Moderne wie der Eiffelturm (Bauzeit 1887-1889) oder das Centre Pompidou (Bauzeit 1971-1977) führen ihre Stahlkonstruktion unverhüllt vor. Wegen seiner avantgardistisch industriellen Optik war das Kulturzentrum lange äußerst umstritten. Die Planer, Renzo Piano und Richard Rogers, verlegten Tragwerk und Rohre für Gebäudetechnik und Erschließung nach außen, wodurch im Inneren riesige Flächen entstanden. Fachwerkträger von 48 Metern Länge überspannen die sechs übereinanderliegenden Hallen mit Raumhöhen von sieben Metern ohne Stützen. Die Glaswände liegen hinter dem Tragwerk.


Sakral und profan

 Die innere Stützstruktur kann nach außen sichtbar bleiben oder verdeckt sein. Durch die Konstruktion des Tragwerks sind Um- und Zubauten leicht realisierbar, wodurch die Bauweise ökologisch punktet - Stichwort Nach- oder Umnutzung von Gebäuden. Mit dem Einsetzen vorgefertigter Elemente direkt an Ort und Stelle entsteht ein ökonomischer Vorteil. Die Vielfalt der Konstruktionsweisen eignet sich für alle Arten von Projekten - seien es Wohnhäuser, Büros, Hallen oder Industriegebäude.

Auch im Brückenbau finden sich zahlreiche Beispiele, wie etwa die 420 Meter lange Pingshan Pedestrian Bridge in Shenzhen des Hongkonger Architekturbüros Node Architecture & Urbansim.

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